Bericht einer Bildungsreise nach Kasachstan

Das nukleare Erbe der sowjetischen Atomwaffentests in Kasachstan

von Annegret Krüger

Aus dem Zugfenster betrachtete ich die vorüberziehende Steppe, diese flache Graslandschaft, die sich so weit wie das Auge reicht erstreckt. Diese kasachische Landschaft wurde vor 75 Jahren auserwählt, um sowjetische Atomwaffen zu testen. Die Militärplaner hielten die Semipalatinsk-Region (heute Abai-Region) für weit abgeschieden und kaum bewohnt.

Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich herausstellen sollte. Die über 450 Atomwaffentests, die auf dem streng geheim gehaltenen Gelände über 40 Jahre lang durchgeführt wurden, hatten fatale Auswirkungen für die Menschen in den umliegenden Dörfern und Städten, die bis heute spür- und sichtbar sind. Schätzungen gehen davon aus, dass 1,5 Millionen Menschen auf die eine oder andere Weise von den Atomwaffentests betroffen sind. Mittlerweile gibt es Betroffene und Überlebende in der fünften Generation. Aber nicht nur die Menschen sind betroffen, auch die Umwelt und die Tiere sind Opfer der Tests geworden.

Die Bildungsreise nach Kasachstan, organisiert von ICAN Deutschland, der Friedrich-Ebert-Stiftung Kasachstan und der kasachischen Jugendorganisation Steppe Organization for Peace, führte uns nach dem Besuch der Hauptstadt Astana mit einer Nachtzugfahrt in die Stadt Semei (ehemals Semipalatinsk). Bereits im Zug erregte unsere kleine Gruppe junger deutscher Menschen Aufmerksamkeit und so lernten wir die Zugführerin persönlich kennen. Bei einem Glas Tee im Bordrestaurant erzählte sie uns, wie sie selbst als Siebenjährige zum ersten Mal eine Atombombe vor ihren eigenen Augen explodieren sah. Für viele Kinder waren die regelmäßig stattfindenden nuklearen Explosionen zunächst etwas Abenteuerlustiges. Weder sie, noch ihre Familien, ahnten, welche kurz- und langfristigen Folgen diese mit sich bringen würden.

Auch die sowjetischen Militärangehörigen schienen zu Beginn kaum etwas über die Auswirkungen radioaktiver Strahlung zu wissen. Priorität hatte einzig und allein, ebenfalls Atomwaffen zu entwickeln, um ein Gleichgewicht mit den USA herzustellen. So wurde auf die lokale Bevölkerung in der Anfangszeit keinerlei Rücksicht genommen. Im Laufe der Zeit wurden die gesundheitlichen Schäden immer deutlicher, auch wenn diese offiziell bestritten wurden. Um mehr darüber zu erfahren, errichtete das sowjetische Militär heimlich zwei getarnte Kliniken ein. In dem Gebäude der sogenannten „Dispensary No. 4“ saßen wir, denn dort ist heute das „Institute for Radiation Medicine and Ecology“ untergebracht. Damals wie heute werden die gesundheitlichen Folgen der Tests untersucht. Diese sind vielfältig und reichen von verschiedenen Krebsarten, wie Lungenkrebs, Leukämie, Brustkrebs bei Frauen, über Behinderungen bis hin zum vorzeitigen Altern. Bei Frauen kommen Fehl- und Totgeburten hinzu. Trotz allem zeigen die Überlebenden eine beeindruckende Resilienz und es ist wichtig, zu betonen, dass sie mehr als nur Opfer dieser Tests sind. Für ihre geliebte Heimat hat Maira Abenova, ebenfalls eine Überlebende, große Zukunftspläne und fordert mit ihrer Organisation „Polygon-21“, die sich für die Rechte der Betroffenen einsetzt, eine umfassende nukleare Gerechtigkeit.

Am 29. August jährt sich der erste sowjetische Atomwaffentest zum 75. Mal, der von den Vereinten Nationen zum Internationalen Tag gegen Nuklearversuche erklärt wurde. Die offizielle Schließung des Testgeländes im Jahr 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geht auf die großen Proteste der Nevada-Semipalatinsk-Bewegung zurück. Das Engagement dieser Graswurzelbewegung führte dazu, dass 1989 der letzte Test durchgeführt wurde. Übrigens wären die sowjetischen Tests ohne Deutschland, genauer gesagt die ehemalige DDR, gar nicht möglich gewesen. Der jahrelange Uranerzabbau in Thüringen und Sachsen ermöglichte erst, dass die Sowjetunion über das nötige Material für die Tests verfügte.

Die Überlebenden hoffen, dass wir bei einem nächsten Besuch ein neues Semei sehen werden. Es bleibt zu wünschen übrig, dass bis dahin das generationsübergreifende Trauma, ausgelöst durch die Atomwaffentests, aufgearbeitet und entsprechend entschädigt wird – von der kasachischen oder russischen Regierung oder der internationalen Gemeinschaft. (1)

Anmerkung
1 Wer mehr über die gesamte Thematik lernen möchte, empfehle ich das Buch „Atomic Steppe - How Kazakhstan gave up the bomb“ von Togzhan Kassenova.

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Rubrik

Friedensbewegung international
Annegret Krüger arbeitet beim Netzwerk Friedenskooperative in Bonn.