Eine kritische Bilanz der Erlassjahrkampagne

Das Potenzial blieb unausgeschöpft

von Sabine Ferenschild
Schwerpunkt
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Seit Ende 1997 griffen Mitträgerorganisationen des Initiativkreises "Entwicklung braucht Entschuldung" die in Großbritannien entwickelte Idee auf, die Bemühungen um Entschuldung mit dem biblischen Gedanken des "Erlassjahres" und der damals kurz bevorstehenden Jahrtausendwende zu einer politischen Kampagne zu verknüpfen. Nach einer Hochphase in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte die Verschuldungsthematik zu dieser Zeit keine "Konjunktur" mehr. Hatte die IWF-/Weltbank-Tagung im Herbst 1988 noch mehrere zehntausend Menschen nach Berlin gelockt, die lautstark die Streichung der Auslandsschulden der sog. Dritten Welt forderten, so geriet das internationale Verschuldungssystem in den kommenden Jahren immer mehr zu einem Spezialthema für einige wenige, mehr oder weniger professionelle entwicklungspolitische Gruppen. Daran änderte auch die zentrale Rolle der Strukturanpassungsprogramme für den Prozess der neoliberalen Globalisierung nichts.

Erst die Idee des "Erlassjahres" zündete! Erstmals seit langem fand eine entwicklungspolitische Forderung eine solch große Resonanz, dass eine nationale und internationale Bewegung entstand. Im Laufe weniger Jahre entstanden in mehr als 50 Ländern Erlassjahr-Kampagnen, allein in Deutschland gewann die Erlassjahr-Kampagne mehr als 2000 Mitgliedsgruppen.

Dies alles klingt sehr nach Erfolgsgeschichte. Doch können und dürfen die beeindruckenden Zahlen nicht über entschiedene Schwächen der Kampagne hinwegtäuschen. Beides, Schwächen und Stärken der Kampagne, möchte ich im Folgenden in einigen Anmerkungen erläutern.

1. Die Erlassjahr-Kampagne hat zugunsten einiger weniger Detailforderungen die Vision der "Entschuldung" als Grundstein einer gerechten Welt hintangestellt und im Interesse der "Politikfähigkeit" vorschnelle Kompromisse geschlossen.
Die Erlassjahr-Kampagne ist ein Resultat der Ausdifferenzierung der Neuen Sozialen Bewegungen (Friedensbewegung, Anti-AKW-Bewegung, Frauenbewegung, Solidaritätsbewegung...) nach ihrer Hochphase in den 80er Jahren und auch ein Resultat der Ausdifferenzierung von politischen Strategien.

Analog zu den produkt- und unternehmensbezogenen Eine-Welt-Gruppen gewannen auch bei den zur Verschuldungsthematik arbeitenden Gruppen Kampagnen und Lobbyarbeit an Bedeutung. Diese Kampagnen wie z.B. die Erlassjahr-Kampagne verfolgen in der Regel die Strategie, verhandelbare, umsetzbare Ziele durch eine Kombination von Dialog und Öffentlichkeitsarbeit zu erreichen. Mit der Ausdifferenzierung der Solidaritätsbewegung und der detaillierten Formulierung von Teilzielen gewannen diese Teilziele an Bedeutung, die Vision von einer "gerechten Welt" und einem "Leben in Würde für alle" trat in den Hintergrund, sie verlor an Diskursfähigkeit auch innerhalb der "Bewegten" selbst.

Für die Erlassjahr-Kampagne bedeutete dies, dass zwecks politischer Umsetzbarkeit nicht mehr die Entschuldung, sondern vielmehr die Senkung der Schuldenlast auf ein tragfähiges Maß gefordert wurde. Nicht mehr die Abschaffung des IWF oder zumindest der Strukturanpassungsprogramme wurde gefordert, sondern die Einführung eines Internationalen Insolvenzrechtes. Damit erhob die Erlassjahr-Kampagne wichtige, aber eindeutig realpolitisch orientierte Forderungen. Statt die herrschende Politik mit Maximalforderungen "von unten" zu konfrontieren, formulierte die Erlassjahr-Kampagne Minimalforderungen, die nicht mehr unterschritten werden durften, sollten sie in der Realität überhaupt irgendeine Wirkung zeigen. Dieser fehlende Verhandlungsspielraum ist das Ergebnis des Bemühens um "Politikfähigkeit", der Preis dafür, von hochrangigen PolitikerInnen als GesprächspartnerInnen akzeptiert zu werden.

Diese Strategie hat m.E. drei entscheidende Defizite:
 

  •  Die herrschende Politik gibt sich durch Gespräche mit der Zivilgesellschaft sowie durch kleinere Zugeständnisse ein aufgeschlossenes, positives Image, ohne dass Strukturveränderungen überhaupt zur Sprache kommen.
     
  •  Die Erlassjahr-Kampagne, die neben ihren zwei Hauptzielen durchaus weitergehende (klein geschriebene) Forderungen hatte, wurde mit ihren eigenen (groß geschriebenen) Teilzielen identifiziert bzw. auf diese reduziert. Dies führte in der Berichterstattung über den Kölner Gipfel 1999 dazu, dass der von den G 7 zugesagte 70 Mrd.-US-$ Schuldenerlass als Erfüllung des Kampagnen-Ziels dargestellt wurde.
     
  •  Die Formulierung sehr differenzierter Teilziele wie im Falle der Erlassjahr-Kampagne führt dazu, dass viele Menschen, die die Erlassjahr-Kampagne mobilisiert hatte, nach dem Kölner Gipfel nicht in der Lage waren zu beurteilen, wo der Unterschied zwischen Gefordertem und Erreichtem lag und damit nicht entscheiden konnten, ob sie das Erreichte als Erfolg zu werten hatten. Trotz Engagements in der Kampagne machten so viele Menschen eine erneute Ohnmachtserfahrung. Abgesehen vom fragwürdigen politischen Erfolg realpolitischer Kampagnen könnte hier eine demokratiegefährdende Tendenz liegen, die aufmerksamer beobachtet werden müsste: Wie lange bleiben Menschen politisch aktiv, wenn sie die Ziele ihrer eigenen Kampagne nicht schlüssig begründen, geschweige denn verteidigen können, wenn sie "die Professionellen" in der Kampagne brauchen, um das Gefühl zu haben, dass sich überhaupt etwas bewegt?
     

2. Die Erlassjahr-Kampagne hat mehr Menschen und Gruppen erreicht und für Nord-Süd-Fragen sensibilisiert als andere Kampagnen in den 90er Jahren.
Darin liegt m.E. die eigentliche Stärke der Erlassjahr-Kampagne. Sie mobilisierte vor allem in kirchlichen Kreisen Menschen und Gruppen für Fragen internationaler Gerechtigkeit, die schon lange kein Interesse mehr an diesen Fragen hatten oder es noch nie hatten. Die zahllosen Veranstaltungen, die landauf landab zur Erlassjahr-Kampagne stattfanden, mussten notwendigerweise "in die Tiefe" gehen. Fragen nach Ursachen der Verschuldung, nach der Rolle des Verschuldungssystems im Globalisierungsprozess und der Funktion der Strukturanpassungsprogramme konnten nicht ausgeblendet werden. Die Erlassjahr-Veranstaltungen trugen so in der Tat zu wirtschaftspolitischer Alphabetisierung bei.

3. Die Erlassjahr-Kampagne war trotz ihrer Präsenz in mehr als 50 Ländern keine internationale Bewegung.
Schon bald nach der Gründung der ersten Erlassjahr-Kampagnen entwickelte sich ein eigener Nord-Diskurs, der irgendwann inhaltlich mit einem Süd-Diskurs kollidierte. Im Fall der Erlassjahr-Kampagne prangerte Jubilee South die Illegitimität des Schuldensystems an, während die nördlichen Erlassjahr-Kampagnen diesen Begriff mieden oder gar ablehnten und von "Schuldentragfähigkeit" und "Insolvenzrecht" sprachen. Solche politischen Differenzen können nur durch intensive Kommunikation und internationale Abstimmung vermieden bzw. behoben werden. Ohne ein Selbstverständnis als "internationale Bewegung" aber können internationale Probleme nicht wirklich überwunden werden.

Die schon erwähnte realpolitische Grundeinstellung der Nord-Kampagnen war wohl ein zentraler Grund für die inhaltlichen Probleme zwischen Jubilee South und Erlassjahr-Kampagne. Aus dieser Erfahrung müssen künftige Kampagnen unbedingt lernen. Im Vordergrund muss die interne Abstimmung in der Bewegung stehen, die Frage der "Politikfähigkeit" bzw. der Kommunikation mit der herrschenden Politik steht erst in der zweiten Reihe.

4. Erlassjahr hat nicht an der Delegitimierung herrschender Politik gearbeitet und Demokratiedefizite benannt, sondern sich nahtlos in bestehende Strukturen eingefügt.
Zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Entwicklungen sind zu beobachten: Wichtigste politisch-ökonomische Entscheidungen werden immer mehr unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen. Zugleich gerät etwas in Bewegung. Dies zeigen Seattle 1999, Genua 2001, das zweite Weltsozialforum in Porto Alegre und die Aktionen anlässlich des EU-Gipfels in Barcelona 2002: Die Regierungen der Industrieländer sind mit ihrer Ideologie des freien Welthandels unter Rechtfertigungsdruck geraten. Sie müssen Zugeständnisse an ihre KritikerInnen machen. Die Gefahr jedoch, dass diese Zugeständnisse lediglich verbale sind, ist nicht zu unterschätzen.

Diese widersprüchliche Entwicklung zeigt, dass das Ringen um Repräsentanz und kulturelle Hegemonie begonnen hat: Wer vertritt die Interessen der Menschheit? Claus Leggewie kommentierte in einem Bericht über Porto Alegre II in der Frankfurter Rundschau diese Entwicklung positiv: "Die Umkehr der Beweislast hat begonnen."

Wie ist die Erlassjahr-Kampagne in dieser widersprüchlichen Entwicklung zu verorten? Durch die Thematisierung der Verschuldungskrise hat sie entscheidend dazu beigetragen, ein zentrales politisch-ökonomisches Thema in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken: Ohne die Erlassjahr-Kampagne wäre die Verschuldungsthematik nicht auf der offiziellen Agenda der G-7-Gipfel von Birmingham (1998) und Köln (1999) gelandet. Ohne die Erlassjahr-Kampagne wären wohl auch die Beschlüsse zum Schuldenerlass und zur Einführung von Armutsbekämpfungsprogrammen noch bescheidener ausgefallen. Die Erlassjahr-Kampagne hat den Regierungen der Industrieländer also Zugeständnisse in Sachen Schuldenerlass abgerungen.

Doch die Entwicklung seit 1999 zeigt, wie schwerfällig die Umsetzung der Zugeständnisse erfolgt und wie sehr die wenigen positiven Effekte von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung "aufgefressen" werden. Die Einschätzung liegt also nahe, dass die Zugeständnis primär verbale waren und dass die Erlassjahr-Kampagne ein großes Potenzial nicht ausreichend genutzt hat, weil sie in ihren Methoden zu "brav" und zu "freundlich" war. Ein Insistieren auf die so notwendige Abschaffung oder grundlegende Reform der Strukturanpassungsprogramme und ein lauteres Anprangern der Demokratiedefizite der internationalen Organisationen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Welthandelsorganisation hätten vielleicht kurzfristig kein Schuldenerlass-Paket des Kölner Gipfels gebracht. Sie hätten aber m.E. für ebenso viel öffentliche Furore gesorgt, das Thema auf der politischen Agenda gehalten und es vor allem leichter vermittelbar gemacht.

5. Die Erlassjahr-Kampagne hat die Chance versäumt, anlässlich des Kölner Gipfels Ökonomiekritik und Anti-Militarismus zu verknüpfen.
Kurz vor dem G-7-Gipfel in Köln 1999, der zumindest für die Erlassjahr-Kampagne in Deutschland der Höhepunkt der Mobilisierung war, beendete die NATO ihren mehrwöchigen Bombenkrieg gegen Jugoslawien. Ein Krieg, der im Namen der Menschenrechte von Politikern geführt wurde, die durch ihre alltägliche Wirtschaftspolitik permanent Menschenrechte mit Füßen treten. Und genau diese Politiker - diesmal nicht als NATO, sondern als G-7 - waren wenige Tage nach Beendigung des Luftkrieges in Köln versammelt, um sich dort ob ihres Schuldenpakets für die ärmsten Länder der Welt feiern zu lassen. Und genau diesen Politikern schüttelten die VertreterInnen der Erlassjahr-Kampagne anlässlich der Übergabe der Unterschriften die Hände, medienwirksam selbst in den Tagesthemen übertragen.

Darf eine Kampagne, die sich für eine gerechte Welt einsetzt, die kriegerische Politik dieser Mächtigen ausblenden, als könne sie die Rückseite der Medaille nicht sehen, nur weil sie im Moment ein anderes wichtiges Anliegen hat? Wer die militärische Entwicklung der letzten Jahre ausblendet, verkennt ihren inneren Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung. Auch wenn es sie den (kurzfristigen) politischen Erfolg gekostet hätte, war es m.E. ein großer politischer Fehler der Erlassjahr-Kampagne, den Zusammenhang zwischen der Militarisierung der Außenpolitik, den wirtschaftlichen Interessen der NATO-Staaten und der Verschuldungsthematik nicht herzustellen.

Die neue NATO-Doktrin, die strategischen Partnerschaften der NATO und auch die Eingriffspolitik der NATO zeigen, dass Militär und Rüstung zunehmend für politische und ökonomische Interessen eingesetzt werden. Wirklich neu ist diese Entwicklung nicht, aber sie wird vor allem seit dem 11. September 2001 immer augenfälliger und wird hoffentlich zu einem engeren Zusammengehen von Solidaritäts- und Friedensbewegung führen. Denn Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung und Widerstand gegen Krieg und Militarismus sind zwei Seiten einer Medaille.

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Sabine Ferenschild arbeitet beim Ökumenischen Netz Rhein-Mosel-Saar.