Das Recht auf Rückkehr

von Uri Avnery
Friedensbewegung international
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Im folgenden veröffentlichen wir den ersten Teil eines Artikels des israelischen Friedensforschers Uri Avnery, der in der Februarausgabe der Zeitschrift "Der Pazifist" erschienen ist. Der zweite Teil folgt in unsererm nächsten Heft.

Wir Israelis brauchen eine Vogelscheuche, die uns Angst macht; genügend Angst, um Adrenalin in unsere nationale Blutbahn zu pumpen. Anders, so scheint es, können wir nicht funktionieren.

Einst war es die palästinensische Charta. Nur sehr wenige Palästinenser haben sie jemals gelesen, noch weniger erinnern sich, was sie beinhaltete, doch wir zwangen die Palästinenser, ihren Paragraphen in einer feierlichen Zeremonie abzuschwören. Wer erinnert sich heute noch daran? Aber seitdem diese Vogelscheuche abgeschafft wurde, besteht das Bedürfnis nach einer neuen.

Die neue Vogelscheuche ist "das Recht auf Rückkehr". Nicht als praktisches Problem, mit dem auf vernünftige Art umgegangen werden kann, sondern als haarsträubendes Monstrum: Jetzt sind die dunklen Pläne der Palästinenser offengelegt worden! Mit dieser schrecklichen List wollen sie Israel eliminieren! Sie wollen uns ins Meer werfen!

Das Recht auf Rückkehr hat den Abgrund wieder geöffnet, der sich scheinbar zu einem Spalt verringert hatte. Wir haben wieder Angst. Das Ende unseres Staates! Das Ende der Vision von Generationen! Ein zweiter Holocaust!

Der Abgrund erscheint als unüberbrückbar. Die Araber fordern die Rückkehr jedes palästinensischen Flüchtlings in sein Heim und Land in Israel. Die Israelis sind strikt gegen die Rückkehr auch nur eines Flüchtlings. Auf beiden Seiten gilt: alles oder nichts, Da geht er hin, der Friede.

In den folgenden Zeilen will ich versuchen zu zeigen, dass die Vogelscheuche wirklich nur eine Vogelscheuche ist, dass selbst dieses schmerzliche Problem gelöst werden und ein fairer Kompromiss sogar zu einer historischen Einigung führen kann.

Die Wurzeln des Konflikts
Das Flüchtlingsproblem erweckt solch tiefe Emotionen, weil es die Wurzeln des Konflikts zwischen zwei Völkern berührt. Der Konflikt rührt vom historischen Zusammenstoß zweier großer nationaler Bewegungen her. Eine davon, der Zionismus, wollte einen Staat für die Juden etablieren, damit sie nach Tausenden von Jahren erstmalig wieder Herren ihres eigenen Schicksals sein könnten. In der Verfolgung dieses Ziels ignorierte der Zionismus vollständig die Bevölkerung, die in diesem Lande lebte. Er hatte einen homogenen Nationalstaat nach dem Modell des Europas des späten 19. Jahrhunderts im Auge, ohne Nichtjuden, oder zumindest mit so wenigen Nichtjuden wie möglich.
 

Die palästinensische Nationalbewegung verkörperte den Kampf der eingeborenen Araber um nationale Freiheit und Unabhängigkeit. Sie wehrten sich vehement gegen das Eindringen eines anderen Volkes in ihr Heimatland. Wie der militante zionistische Führer Ze`ev Jabotinsky damals schrieb, hätte jedes andere Volk genauso reagiert. Ohne diesen Aspekt des Konfliktes können die Ereignisse nicht verstanden werden, die zur Entstehung des Flüchtlingsproblems geführt haben.

"Ethnische Säuberungen"
Im Krieg von 1948 kulminierte dieser historische Zusammenstoß. Am Vorabend des Krieges lebten etwa 1,2 Millionen Araber und 635.000 Juden in Palästina. Im Laufe des Krieges, den die Araber begannen, um die Teilung des Landes zu verhindern, wurden mehr als die Hälfte der Palästinenser, etwa 750.000 Menschen, entwurzelt. Einige wurden von der eindringenden israelischen Armee vertrieben, andere flohen, als die Schlachten ihre Heimat erreichten, so wie es Zivilisten in jedem Krieg tun.

Der Krieg von 1948 war ein ethnischer Kampf, sehr ähnlich dem in Bosnien. In diesen Kriegen versucht jede Seite einen ethnischen Staat zu errichten, indem sie so viel Territorium wie möglich ohne die gegnerische Bevölkerung zu erobern versucht. Die Fairness gegnüber den historischen Fakten erfordert es zu erwähnen, dass die arabische Seite sich ebenso verhielt und in den wenigen Territorien, die sie eroberte (die Jerusalemer Altstadt, der Etzion-Block) keine Juden in ihren Häusern blieben.

Unmittelbar nach dem Krieg entzog der neue Staat Israel den Flüchtlingen das Recht, zurück in die eroberten Territorien zu kommen. Die Ben Gurion-Regierung zerstörte etwa 450 verlassene arabische Dörfer und errichtete an ihrer Stelle jüdische Siedlungen. Die neuen jüdischen Immigranten, von denen viele aus arabischen Ländern kamen, bezogen die verlassenen Häuser in den arabischen Städten. So wurde das Flüchtingsproblem geschaffen.

Die Resolution 194
Noch während des Krieges verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 11. November 1948 die Resolution 194. Sie besagte, Flüchtlinge dürften zwischen Wiedergutmachung und Rückkehr "in ihre Heime" wählen. Israels Weigerung, diese Resolution auszuführen, hat vielleicht dazu geführt, die Möglichlichkeit (wenn sie jemals existierte), mit der arabischen Welt schon 1949 Frieden zu schließen, zu verpassen.
 

Im Krieg von 1967 wiederholten sich einige Ereignisse. Durch Gewalt oder Einschüchterung wurden hunderttausende Palästinenser aus Gebieten nahe des Jordans (die riesigen Flüchtlingslager bei Jericho) und der grünen Linie (die Gegenden von Tulkarem, Kalkilia und Latrun) vertrieben.

Nach offiziellen UN-Statistiken liegt die Zahl der Flüchtlinge heute bei 3,7 Millionen, eine Zahl, die in Hinsicht auf die sehr hohe Geburtenrate realistisch erscheint. Die meisten sind auf die Nachbarländer Israels verteilt, einschließlich der Westbank und des Gaza-Streifens.

Apocalypse Now
Auf israelischer Seite weckte das Flüchtlingsproblem tiefe Ängste, die aus den ersten Tagen nach dem Krieg von 1948 stammen. Die Anzahl der Juden in dem neuen Staat hatte eine Million noch nicht erreicht. Die Vorstellung, 750.000 Palästinenser würden auf israelisches Territorium zurückkehren und es sintflutartig überschwemmen, erweckte Panik.

Diese apocalyptische Vision ist zu einer Fixierung in der israelischen nationalen Psyche geworden. Selbst heutzutage, wo die demographischen Tatsachen ganz anders sind, überschattet sie jede Diskussion zu diesem Thema. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen der "Rechten" und der "Linken". Es reicht, das Flüchtlingsproblem nur zu erwähnen, um Schriftsteller wie Amos Oz reagieren zu lassen, als wären sie Ariel Sharon, und um einen "neuen Historiker" wie Benny Morris ähnliche Meinungen äußern zu lassen wie die eines Anhängers eben jener alten Mythen, die er selbst zu demaskieren geholfen hat.

Kein Wunder, dass die Erwähnung des Themas jetzt viele aus dem israelischen "Friedenslager" bis auf den Grund ihrer Seele erschüttert. "Wir dachten, das Problem wäre erledigt", rufen viele von ihnen ärgerlich aus und klagen die Palästinenser des Betrugs an, als ob sie plötzlich weltbewegende Forderungen erhoben hätten, während sie bisher lediglich "einfache" Probleme wie die Etablierung eines palästinensischen Staates sowie von Grenzen und Siedlungen präsentiert hätten.

Dies zeigt ein abgrundtiefes Unverständnis. Das Recht auf Rückkehr stellt das Herzstück des palästinensischen Nationalethos dar. Es ist verankert in den Erinnerungen an die Nakba, die palästinensische Katastrophe von 1948 und in dem Gefühl, dass dem palästinensischen Volk ein historisches Unrecht angetan wurde. Das Ignorieren dieses Unrechtsgefühls macht es unmöglich, den palästinensischen Kampf in Gegenwart und Vergangenheit zu verstehen.

Jeder, der ernsthaft versuchte, Frieden und Verständigung zwischen den beiden Völkern zu schaffen, wusste immer schon, dass das Flüchtlingsproblem nur ruhte, wie ein schlafender Löwe, der jede Minute erwachen kann. Die Hoffnung war, dieser Augenblick könnte verschoben werden bis nach der Lösung der anderen Probleme, wenn beide Seiten beginnen könnten, die Heilung dieser Wunde in einer freundlicheren Atmosphäre in Angriff zu nehmen. Es herrschte die Hoffnung, nach der Schaffung eines guten Maßes an gegenseitigem Vertrauen würde eine vernünftige Herangehensweise möglich sein. Die Osloer Prinzipienerklärung von 1993 ignorierte das Problem nicht, verschob es aber auf die Verhandlungen über den "endgültigen Status".
 

Der Mann, der den Karren in den Dreck schob, war Ehud Barak. Er trat dem schlafenden Löwen in die Rippen. Mit einer typischen Mischung von Arroganz, Ignoranz, Unbekümmertheit und Geringschätzung der Araber war er davon überzeugt, er könne die Palästinenser überreden, das Recht auf Rückkehr aufzugeben. Deshalb forderte er, die Palästinenser sollten eine neue Prinzipienerklärung unterzeichnen, in der sie "das Ende des Konflikts" ankündigen sollten.

In dem Moment, in dem diese vier Wörter - "das Ende des Konflikts" -während der Verhandlungen ausgesprochen wurden, landete das Recht auf Rückkehr mit einem Knall auf dem Verhandlungstisch. Es hätte vorausgesehen werden müssen, dass kein palästinensischer Führer "das Ende des Konflikts" ohne eine Lösung des Flüchtlingsproblems unterschreiben konnte. Nun gibt es keinen Ausweg mehr vor einer mutigen Konfrontation mit diesem Problem.

Eine "Wahrheitskommission"
Das Flüchtlingsproblem ist vielschichtig; einige Schichten sind ideologisch und befassen sich mit Grundprinzipien, andere sind praktisch. Wir wollen uns zunächst die ideologischen anschauen.

Israel muss seine historische Verantwortung für die Entstehung des Problems anerkennen. Um die Heilung der Wunde zu erreichen, muss diese Verantwortung ausgesprochen werden.

Israel muss zugegeben werden, dass die Entstehung des Flüchtlingsproblems ein Ergebnis der Verwirklichung des zionistischen Strebens nach einer jüdischen Renaissance in diesem Land war. Es muss außerdem anerkannt werden, dass zumindest einige Flüchtlinge mit Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben wurden, nachdem die Kampfhandlungen schon eingestellt waren, und dass ihnen die Rückkehr verweigert wurde.

Ich kann mir ein dramatisches Ereignis vorstellen: Der Präsident oder Premierminister Israels entschuldigt sich feierlich bei den Palästinensern für das Unrecht, das ihnen bei der Realisierung der zionistischen Ziele zugefügt worden ist; gleichzeitig betont er, dass es bei diesen Zielen hauptsächlich um nationale Befreiung und die Rettung von Millionen vor der Tragödie der Juden in Europa ging.

Ich würde noch weiter gehen und die Errichtung einer "Wahrheitskommission" vorschlagen, die sich aus Israelis, Palästinensern und internationale Historikern zusammensetzt, um die Ereignisse von 1948 und 1967 zu untersuchen und einen umfassenden gemeinsamen Bericht verfasst, der Bestandteil sowohl israelischer als auch palästinensischer Schulcurricula werden kann.

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