Das UN-Reformpaket und die Frage der Gewaltanwendung

von Ulrich Cremer
Abschaffung des UN-Generalstabsausschusses
Wenig öffentliche Aufmerksamkeit findet bisher ein von dem High Level Panel unterbreiteter und von Annan übernommener Streichungsvorschlag bezüglich der UN-Charta. Während der Wegfall der auf Japan und Deutschland bezogenen Feindstaatklauseln sowie des Kapitels zum "Treuhandrat", das sich mit der weitgehend abgeschlossenen Entkolonialisierung erledigt hat, unproblematisch erscheinen, kommt der Abschaffung des Generalstabsausschusses eine politische Brisanz zu. Annans lapidare Begründung ist, dass "die Charta ... die Realitäten der heutigen Zeit widerspiegeln"(1) sollte.

Der Generalstabsausschuss setzt sich aus den Generalstabschefs der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder zusammen und kann beliebig weitere Länder zur Mitarbeit einladen, wenn diese "für die wirksame Durchführung der Aufgaben des Ausschusses erforderlich ist". Der Ausschuss ist für nicht mehr und nicht weniger als "die strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte verantwortlich". Die "Fragen bezüglich der Führung der Streitkräfte" wollte man später regeln, aber dazu kam es nie.(2)

Wenn sich also irgendwo in der UN-Charta das Gewaltmonopol materialisiert, dann dort. Alle anderen Paragrafen lassen sich auf die Legitimation von Gewalt durch die UN reduzieren. Beim Generalstabsausschuss übt die UN zumindest ansatzweise selbst Gewalt aus. Ein funktionierender Generalstabsausschuss samt operativen Apparats würde Truppeneinsätze planen und durchführen. Der Generalstabsausschuss macht die Substanz der Vision vieler UNO-Anhänger aus, die der UNO militärische Macht geben wollen. So wollen sie das Gewaltmonopol durchsetzen. Vorbild dabei ist die Polizei, die das innerstaatliche Gewaltmonopol absichert. Insofern vergrault Annan mit diesem Vorschlag einen wichtigen Teil der UN-Fangemeinde.

Dass in den letzten 60 Jahren der Generalstabsausschuss nicht mit Leben erfüllt wurde, ist erstens dem Mangel an verfügbaren Truppen und zweitens dem mangelnden Willen der wichtigen UN-Mitglieder geschuldet. Das Problem lässt sich in zwei verschiedenen Richtungen auflösen: Entweder ist der Generalstabausschuss die Keimzelle eines späteren faktischen Gewaltmonopols, zu dem dann eigene bzw. der UN unterstellte Truppen sowie ein Planungsapparat addiert werden. Oder man marschiert in die Richtung, dass das Ziel "Gewaltmonopol" geschliffen wird; da man der UNO ohnehin keine eigene Truppen geben bzw. unterstellen wird, schafft man eben den in der Luft hängenden Paragraf ab. Diese Variante macht natürlich den Weg frei für Privatanbieter wie die NATO, die nunmehr nach dem "herrenlosen" Gewaltmonopol greifen kann.

Die UNO wäre wie einstmals die Kirche nur noch für das Segnen der Waffen zuständig. Wenn sie das nicht tut, wird eben ohne die UNO marschiert. Die USA haben das zuletzt mit einigen Verbündeten beim Angriffskrieg gegen den Irak 2003 praktiziert. Die damaligen Gegner des Krieges, allen voran Frankreich und Deutschland, respektieren das Angriffskriegsverbot der UNO leider auch nur selektiv; 1999 waren sie beim Angriffskrieg gegen Jugoslawien mit von der Partie. Aufschlussreich ist eine Debatte in Finnland, einem des Militarismus eher unverdächtigen westlichen Land, das zwar nicht formal Mitglied der NATO, aber Teil des NATO-Netzwerks ist: Dort nahm unlängst die Präsidentin Hälonen "Abstand von ihrer Forderung, finnische Truppen brauchten vor ihrem Einsatz als Eingreiftruppe der EU stets ein Mandat des UN-Sicherheitsrates"(3). Insofern ist auch von der EU nichts Gutes zu erwarten, zumal in der beschlossenen EU-Sicherheitsstrategie kräftig mit dem Säbel gerasselt wird: "Eine Reihe von Staaten hat sich von der internationalen Staatengemeinschaft abgekehrt... Es ist zu wünschen, dass diese Staaten ... zurückfinden... Denen, die zu dieser Umkehr nicht bereit sind, sollte klar sein, dass sie dafür einen Preis bezahlen müssen..."(4)

Statt die Beschlüsse der EU, "verfügungsbereite Einsatzgruppen einzurichten" zu kritisieren oder wenigstens zu ignorieren, lobt Annan dies noch als "eine äußerst wertvolle Ergänzung unserer eigenen Anstrengungen." Er stellt sich "ein ineinandergreifendes System von Friedenssicherungskapazitäten" vor, "das es den Vereinten Nationen ermöglichen wird, mit den zuständigen Regionalorganisationen im Rahmen verlässlicher und berechenbarer Partnerschaften zusammenzuarbeiten." Die Anklänge an das NATO-Konzept des "Geflechts der ineinandergreifenden Institutionen", in dem natürlich die NATO die führende Rolle spielen soll, sind nicht zu überhören. Auch die Fakten führen genau in diese Richtung: Wenn die UNO sich aller eigenen Planungs- und Kontrollkapazitäten beraubt hat, kann die Zusammenarbeit nur so aussehen: Die UNO beauftragt Militärbündnisse des Nordens, nämlich NATO oder EU (nicht die eigentliche Regionalorganisation OSZE) oder auch Ad-hoc-Bündnisse (Koalitionen der Willigen) mit Kriegsaufträgen, die diese nach eigenem Gutdünken ausführen. Wie die Vereinten Nationen "über wirksame Friedenssicherungskapazitäten verfügen"(5) sollen, wenn keine UN-Gremien und -Apparate für das Verfügen (mehr) existieren, bleibt Annans Geheimnis.

Natoisierung der UNO durch Entsorgung des Blauhelm-Ansatzes

Hinter der Bezeichnung "Friedenssicherung" (englisch: Peacekeeping), dem Annan einige Absätze widmet, verbirgt sich inzwischen ein den NATO-Konzepten angepasstes Grundverständnis. Während vor 10 Jahren noch allgemein klar zwischen "Peacekeeping" (deutsch übersetzt als: "Friedenserhaltung" oder eben "Friedenssicherung") auf Grundlage von Kapitel VI der UN-Charta (Blauhelm-Einsätzen) und "Friedenserzwingung" auf Grundlage Kapitel VII (Kampfeinsätzen) unterschieden wurde, setzte die NATO dem mit ihrem "Friedensunterstützungskonzept" in den 90er Jahren ein Ende. Darin wurden die verschiedenen Komponenten miteinander verrührt; entscheidend war, dass juristisch stets ein Kampfeinsatzmandat nach Kapitel VII der UN-Charta erfolgen sollte. Dem kam der UN-Sicherheitsrat regelmäßig nach. Entsprechend resümiert das High-Level-Panel in seinem Bericht: "... bei Friedenssicherungsmissionen als auch bei Friedensdurchsetzungsmissionen wird heute in der Regel ein Mandat nach Kapitel VII erteilt"(6). Die Verlogenheit von Annan`s Bericht besteht nun darin, unter der Überschrift in der Öffentlichkeit positiv besetzten Begrifflichkeit "Peacekeeping" auch Kampfeinsätze zu fassen. Die NATO war 1995 immerhin noch so anständig, dem gleichen Konzept einen neuen Namen zu geben: "Friedensunterstützung".

Der Ansatz hat den großen Vorteil, dass man mit einer harmlosen, in der Öffentlichkeit akzeptierten friedenserhaltenden Mission beginnen kann. Diese kann dann ohne Personal- und Uniformwechsel eskaliert und in einen Kampfeinsatz verwandelt werden. Damit sind klassische Blauhelmeinsätze, die von der Zustimmung beider Konfliktparteien und der Neutralität leben, klinisch tot. Die Abschreckung, der alte Kamerad aus dem Kalten Krieg, bestimmt nunmehr auch die UN-Philosophie. In den Worten des High Level Panels: "Die vom Generalsekretär empfohlene und vom Sicherheitsrat genehmigte Truppenstärke sollte ausreichen, um feindselige Gruppen abzuschrecken und abzuwehren"(7) Hier hat sich der alte Al-Capone-Ansatz durchgesetzt: "Man kommt weiter mit einem freundlichen Wort und einer Kanone als nur mit einem freundlichen Wort." Parallel werden die entwickelten Länder aufgefordert, ihr Militär Richtung Interventionseinsätze umzustrukturieren: "sie sollten mehr tun, um ihre bestehenden Truppenkapazitäten in Kontingente umzuwandeln, die für Friedenseinsätze geeignet sind"(8) Was hier geschieht, ist nichts Anderes als die Natoisierung der UNO.

Nicht-militärische Stärkung der UNO?

Nun wäre immerhin möglich, dass eine UNO-Reform die Organisation zwar nicht militärisch, aber nicht-militärisch stärkt. Das wichtigste Mittel hierbei wären effektive Wirtschaftssanktionen (als Alternative zum Krieg). Diese wären nur möglich, wenn die UNO sich entschlösse, einen Sanktionshilfefonds einzurichten, aus dem Staaten, die die Sanktionen einhalten und dadurch wirtschaftlichen Schaden nehmen, entschädigt werden.(9) Die entsprechenden Milliardensummen müssten die reichen Staaten zur Verfügung stellen, aber diese investieren bevorzugt in Militär. Statt diese falsche Mittelallokation zu beklagen, qualifiziert Annan Sanktionen zu einem "Mittelweg zwischen einem echten Krieg und bloßen Worten" ab. Er möchte Sanktionen nur noch "gegen die kriegführenden Parteien und insbesondere diejenigen Einzelpersonen" einsetzen, "die am unmittelbarsten für verwerfliche Politiken verantwortlich sind". Wäre ein Ölembargo gegen Mussolini-Italien 1935 wegen des Überfalls auf Abessinien oder gegen Nazi-Deutschland in den 1930er Jahren verwerflich gewesen, weil es auch die Bevölkerung getroffen hätte, die das jeweilige Regime unterstützte?

Regeln für die Legitimation von Militäreinsätzen

Annan geht es stattdessen um eine Einigung darüber, "wann und wie Gewalt angewandt werden kann, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu verteidigen"(10) Dabei greift er vollständig auf die vom High Level Panel vorgeschlagenen fünf Punkte zurück:
 

 
    Ernst der Bedrohung
 
 
    Redlichkeit der Motive
 
 
    Anwendung als letztes Mittel
 
 
    Verhältnismäßigkeit der Mittel
 
 
    Angemessenheit der Folgen
 
 
    Diese mögen in redlicher Absicht verfasst worden sein, aber sie hängen an zwei Punkten in der Luft: Erstens ist für die Einschätzung der Lage (Ernst der Bedrohung) wichtig, wer die entsprechenden Informationen bereitstellt. Werden diese von UN-eigenen Quellen geliefert oder wie anno 2003 vom Außenminister einer Großmacht mit der Absicht, den Segen für den Krieg durch gezielte Fehlinformationen zu erreichen? Zweitens wird man Krieg um so häufiger als "letztes Mittel" ansehen, je weniger man sich zuvor um nicht-militärische Alternativen gekümmert hat (s.o.).

Die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft
Hinsichtlich der bekannten Rechtfertigung von Militärinterventionen als "humanitäre Interventionen" hat das High-Level-Panel eine neue Argumentationsfigur salonfähig gemacht. In diesem Diskurs wird der Fokus vom Mittel (der "Intervention") auf die Begründung (,humanitär") verlagert. Entsprechend wird nicht mehr über die Frage des Interventionsrechts eines Staates debattiert (dieses ist von vorn herein gesetzt), sondern über "die "Schutzverantwortung` jedes Staates, wenn Menschen vermeidbare Katastrophen erleiden und Opfer von Massenmord und Vergewaltigung und von ethnischer Säuberung durch Zwangsvertreibung und Terror werden"(11) Nach Annan, der diese Ansatz mit großem Engagement unterstützt, obliegt die Schutzverantwortung "in erster Linie jedem einzelnen Staat... Sind die einzelstaatlichen Behörden indessen nicht in der Lage oder nicht bereit, ihre Bürger zu schützen, dann geht die Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über..." Am Ende können "erforderlichenfalls auch Zwangsmaßnahmen"(12) vom Sicherheitsrat beschlossen werden.

In Zusammenhang mit der deklamierten "Schutzverantwortung" stehen Annans Vorschläge zur Stärkung des Hohen Kommissars für Menschenrechte (mehr Finanzmittel, mehr Personal, intensivere Beratung des Sicherheitsrates(13)) und sein geplanter "Menschenrechtsrat", der die gegenwärtige Menschenrechtskommission (MRK) ersetzen soll. Dieser könnte die Rolle des Stichwortgebers und ideologischen Vorbereiters für die Durchsetzung von Sicherheitsbeschlüssen zu "humanitären Interventionen" sein.

Zur Erinnerung: Das Ansehen der MRK hatte insbesondere bei der US-Regierung gelitten, als die USA vor einigen Jahren nicht wieder in die Kommission gewählt worden war. Der völlig berechtigte Vorwurf ist, dass in der Kommission auch Staaten vertreten seien, die die Menschenrechte nicht einhielten. Der vorgeschlagene Rat unterscheidet sich von der Kommission erstens durch eine geringere Größe (24 Mitglieder statt 53) und zweitens durch ein verändertes Wahlverfahren. Es sollen nämlich nicht mehr die Regionalgruppen (z.B. Afrika) die Vertreter selbst bestimmen können, sondern alle Ratsmitglieder müssten in der UN-Generalversammlung einen 2/3-Mehrheit erreichen. Drittens sollen sich die gewählten Staaten "zur Einhaltung der höchsten Normen auf dem Gebiet der Menschenrechte verpflichten."(14) Widerstand gegen den Vorschlag erhebt sich nicht nur aus Ländern des Südens, die einen "elitären Club der Demokratien des Nordens" fürchten, sondern auch von einigen EU-Regierungen. Diese zielen genau in die andere Richtung und möchten alle 191 UN-Mitglieder zum Mitglied der MRK machen. Vorteil wäre, dass niemand mehr argumentieren könne, sein Land habe an den Beratungen nicht teilgenommen. Eine solche riesengroße MRK wäre natürlich nicht dazu zu gebrauchen, den Sicherheitsrat in diesem oder jenem Fall an das Thema "Schutzverantwortung" zu erinnern und damit "humanitären Interventionen" ideologisch den Weg zu bereiten, im Gegenteil.

Vor dem Hintergrund der hier diskutierten Problemfelder wäre ein Scheitern des von Annan vorgeschlagenen Reformpaketes ein nicht so großer Beinbruch. Man könnte es alternativ als großen Steinbruch benutzen, denn verschiedene Einzelvorschläge könnten durchaus zur nicht-militärischen Stärkung der UNO beitragen.

Uli Cremer ist Mitherausgeber des Buches "Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung". Er ist Mitglied der GRÜNEN, war Initiator der GRÜNEN Anti-Kriegs-Initiative und bis Februar 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Anmerkungen

 
    1 Bericht, Ziffer 217
 
 
    2 UN-Charta, Art. 47
 
 
    3 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.3.2005
 
 
    4 Europäische Sicherheitsstrategie; www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Europa/strategie.html
 
 
    5 Bericht, Ziffer 112
 
 
    6 Der High Level Panel Bericht "Eine sichere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung" liegt in deutscher Übersetzung auf der Homepage der Vereinten Nationen vor; abrufbar auch über: http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/UNO/reform2004.pdf; hier Ziffer 213
 
 
    7 High Level Panel Bericht, Ziffer 222
 
 
    8 ebenda, Ziffer 216
 
 
    9 Vergl. U. Cremer: Sanktionshilfefonds - der effektive Weg zu Wirtschaftssanktionen, in: Cremer / Lutz: Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung, Hamburg 2000, S.185ff.
 
 
    10 Bericht, Ziffer 122
 
 
    11 High Level Panel Bericht, Ziffer 201
 
 
    12 Bericht, Ziffer 135
 
 
    13 Bericht, Ziffer 142ff.
 
 
    14 Bericht, Ziffer 183

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Uli Cremer ist Mitglied in der Grünen Friedensinitiative.