Dayton - Ein Friedensprozess in Bosnien?

von Klaus VackWolf-Dieter Narr
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Die beiden Autoren haben Anfang Dezember ein Thesenpapier zur Be­wertungen eines möglichen Friedensprozesses für Bosnien auf dem Hintergrund des Dayton-Abkommens verfasst, das in der Zeitschrift "Probleme des Friedens" erschienen wird. Wir dokumentieren daraus nachfolgend den Schlussteil.

In den ersten Kapiteln wird u.a. gefordert, durch humanitäre und wirt­schaftliche Unterstützung, die in allen Konfliktregionen annehmbare Lebensbedingungen schafft und die am selbständigen Handeln der Or­ganisationen vor Ort orientiert ist, einen wirklichen Friedensprozess in Gang zu setzen. Allerdings seien die Ausgangsbedingungen angesichts des Dayton-Abkommens prekär:

-     Allseitige Not und Erschöpfung der Kriegsparteien haben zu einem von außen diktierten Zwangsfrieden ge­führt, der sich an ethnischen Kriterien orientiert und der noch keines der Probleme gelöst hat - und dennoch als Voraussetzung eines wirklichen Friedensprozesses genutzt werden muß.

-     Die "Friedensdurchsetzung" durch NATO-Truppen ist kaum an einem langfristigen, zivilen Friedensprozess orientiert; Eigeninteressen von EU und NATO überwiegen, wie z.B. an der eiligen Abschiebepolitik von Kriegsflüchtlingen und der Aufhe­bung des Waffenembargos deutlich wird.

Der nun folgende Teil der Stellung­nahme bezieht sich auf das Zustande­kommen des Dayton-Vertrages und die Bewertung für eine pazifistische Politik: (die Red.)

(...)

IV. Die Faktoren, die zu Dayton führ­ten

Damit nicht morgen neue militaristische Scheinrechtfertigungen aus möglichem Versagen der heutigen Verträge wach­sen, müssen detailliert die Faktoren be­dacht werden, die Dayton möglich machten und diesen Vertrag zugleich mit so darniederziehenden Gewichten versahen.

-     Das NATO-Bombardement (Ende August/Anfang September 1995) wird weithin als Beleg dafür gehan­delt, daß Frieden ohne kriegerische Gewalt in Situationen wie in Bosnien nicht möglich sei. Es wird so argu­mentiert, als hätten die Luftschläge der NATO Dayton und die damit verbundenen Versprechen möglich gemacht. Tatsächlich jedoch zeigen Entwicklungen und Informationen, die erst in den letzten Wochen er­kennbar wurden, den bereits er­wähnten Erschöpfungszustand bei allen Kriegsparteien. Träfe der mili­tärische Effekt des NATO-Bombar­dements unabhängig von den Fakto­ren im Kontext Ex-Jugoslawiens zu, dann hätte er, früher eingesetzt, noch deutlicher gewirkt. Die Militärs (in diesem Falle sind die der Nato ge­meint, aber es gilt dies für Militärs generell) sind in aller Regel in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich. Ihre weitgehende über dreijährige Zurückhaltung in Bosnien hatte also in ihrem eigenen Selbstverständnis gute Gründe. Der Erschöpfungsvor­gang war demgemäß die Vorausset­zung für einen "militärischen Erfolg". Gerade die letzten Monate belegen: Nicht die militärischen Mittel, son­dern der politische und der diploma­tisch-ökonomische Druck sind es, die die Kriegsgegner dazu drängen, ja umständegemäß zwingen können, endlich den Frieden, sprich zivile Formen der Lösung ihrer Konflikte zu riskieren. Wenn der Krieg keine Vorteile mehr verspricht, auch im ei­genen scheuklappenartig kalkulierten Herrschaftsinteresse, dann wird zunächst negativer Frieden möglich. Mit der Chance, daß allmählich die positiven Voraussetzungen friedli­chen Umgangs geschaffen werden.

-     Die jetzige "Lösung" hat, noch mehr als dies bei anderen Aktionen seit dem zweiten Golfkrieg der fall, die UNO ins Schlepptau der US-geführ­ten Nato genommen. Dieser Umstand bedeutet keine Kleinigkeit. Er besagt nämlich, daß die Interessen eines be­stimmenden militärischen Sicherheits- und Wohlstandsverbundes die "Lösung" dominieren, die im Namen der universellen Werte Frieden und Menschenreche durchsetzt werden. Die Konsequenzen sind fatal. Zum einen wird die UNO in ihrer potentiellen friedensichernden Rolle noch weiter geschwächt. Zum anderen werden neuen Formen "gerechter" Kriege von den hauptsächlich Nato-Partnern definiert.

Letzterer Interessen entscheiden: ob in­terveniert wird; wie und wann inter­veniert wird; wie man Konflikte so kleinarbeitet, daß sie den eigenen Inter­essen nicht mehr gefährlich werden, selbst wenn sie weitere Gewaltopfer fordern. In diesem Sinne bilden Dayton und seine Folgen möglicherweise den schlimmen Auftakt zukünftiger Kon­flikte und west-, sprich natowärts aus­gewählter Definitions- und Lösungs­formen.

-     Dayton und sein luftkämpferisches Vorspiel im Herbst 1995 hat die Ou­vertüre der neuen Weltmachtrolle Bundesrepublik Deutschland into­niert. "Endlich" können deutsche Truppen außerhalb der ursprünglich im NATO-Vertrag vorgesehenen Verteidigungsziele agieren. NATO und die Bundeswehr haben sich von den Grenzen des Kalten Krieges und den Grenzen, die die deutsche Ver­gangenheit auferlegt, "emanzipiert". Die historisch normativ unhaltbare Entscheidung des Bundesverfas­sungsgericht vom Juli 1994 ist nun erstmals neue deutsche "Wahrheit" geworden: Das Ende aller Nach­kriegszeit; Deutschland militärisch auf der Höhe seiner ökonomischen Bedeutung; "Normalität" im Sinne des Krieges als des Vaters aller friedlich-politischen Dinge; deutsche Kampftruppen an die Front - Gene­ralinspekteur Naumann hat entgegen dem verharmlosenden Verteidi­gungsminister Rühe recht; potentiell an alle Fronten, die die Nato und die in ihr verkörperten Weltmacht- und Weltmarktinteressen eröffnen.

-     Die moralische Entlastung gehört mit zum größten Gepäck, das Dayton und seine militärische Voraussetzung und Begleiterscheinungen mit sich führen. Bekanntlich ist nicht nur re­gierungsamtlich immer erneut be­hauptet worden, allein kriegerische Intervention schaffe die Vorrauset­zungen des Friedens. Sogar gegen die in der Vergangenheit zögerlichen UN-Militärs und ihre Regierungen sind Tausende von moralisch integ­ren Personen an die Öffentlichkeit getreten und haben ein militärisches Halt, sprich eine kriegerische Inter­vention als Bedingung des Friedens verlangt. Sie werden sich durch die Entwicklungen der letzten Monate in dieser Forderung bestätigt sehen. Damit können sie sich zum einen zu­rücklehnen und die weiteren Ent­wicklungen getrost der Nato überlas­sen. Zum anderen müssen sie nun nicht mehr an den friedlichen Bedingungen des Friedens arbeiten, die gerade in den Nato-Ländern zu schaf­fen wären. Der Krieg als der Moral hat ein weiteres Mal und, genau be­trachtet hier, seinen folgenreichsten Pyrrhussieg errungen.

V. Kurzes Resümee

Zum ersten: Dayton, seine Vorausset­zungen und seine ansehbaren Folgen haben die pazifistische Politik nicht wi­derlegt. Sie haben dieselbe bestätigt und werden dies leider zukünftig in ver­stärktem Maße tun. In der Art, wie weltweit Konfliktursachen aufgehäuft werden; in der Art, wie gerade die Nato-Mächte wegschauen, wenn ihre Interes­sen von mörderischen Konflikten von Osttimor bis Ruanda, Burundi, Nigeria u.ä.m nicht stärker berührt werden; in der öffentlich medial überaus wirksa­men Definitionsmacht dessen, was eine menschenrechtlich angemessene militä­rische Intervention sei; kurzum im Auf­rechterhalten der konventionellen These, für die Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist.

Zum zweiten: Eine nüchterne pazifisti­sche Option am Ende des 20. Jahrhun­derts, die um die Konflikte in dieser Welt und ihrer Ursachen auch und ge­rade mitten in der "westlich-zivilisier­ten" Welt weiß, stellt sich bei etwas ge­nauerem Hinsehen als die einzig reali­stische Politik dar. Sie lügt sich und an­dere nicht an. Sie achtet die Unversehrt­heit des Lebens und der menschlichen Würde. Sie setzt auf Solidarität. Und: Solche pazifistische Politik äußert sich nicht in edler "Gesinnung" (ein geläufi­ger, aber falscher Vorwurf), sondern im ungebrochenen friedenspolitischen, menschenrechtlich-humanitären Han­deln, das zugleich aufklärerisch wirkt. Durchaus nicht im abgehobenen "blauen Himmel", sondern sehr konkret an der Basis; also bei aktiven Bürgerinnen und Bürgern ebenso wie bei den Opfern. Pa­zifistische Politik verbindet fundamen­tale Kritik an herrschender Politik mit dauerndem rastlosen Tun und der Phantasie fordernden Arbeit an einer Welt friedlicher Konfliktlösungen. Den­noch ist zu befürchten, daß Dayton, seine militärischen Voraussetzungen, seine militärischen Begleiterscheinnun­gen und seine militärischen Begleiter­scheinungen und seine militärischen Folgen es mit sich bringen werden, daß pazifistische Politik es noch schwerer haben wird, als dies zuvor schon der Fall gewesen ist.

Zum dritten: Dem ist entgegenzuwirken. Kritik und Handeln hier in der Bundes­republik müssen jenseits aller nötigen Aktivitäten nach "außen" gerade in Richtung Bosnien vor allem dem eige­nen Land gelten: der Rolle der Bundes­republik im Kontext einer kapitalisti­schen Ökonomie zuerst, die Ungleich­heiten international und national ver­stärkt; und nicht zuletzt der Umrüstung und Umfunktionierung der Bundeswehr als prinzipiell globalem Einsatzmittel für die Interessen der in diesem Lande dominierenden Herrschafts-, Macht-, Wirtschaft- und Medieneliten, sich arg­listig mit dem Tarnhelm der Friedens­stiftung versehen. Der Rüstungsproduk­tion und dem Rüstungsexport ist mit unversöhnlichem gewaltfreiem Wider­stand entgegenzutreten usw. usf.

VI. Summa summarum

Mag die aktuelle Entwicklung auch nicht zum besten stehen, so hört mit Dayton das pazifistisch-menschenrecht­liche Engagement in Sachen Bosnien und anderwärts nicht auf. Es wird noch nötiger als zuvor. Auch und gerade, um aus Dayton das friedenspolitisch und für die geschundenen Menschen Bestmögli­che herauszuholen. Auch und gerade, um neue militaristische Legitimationen, die aus möglichem Scheitern erwachsen, mit den Argumenten der Wahrheit strikt nichtmilitärisch zu bekämpfen.

Gegen unsere eigenen Ohnmachtsge­fühle lohnt es sich, die Risiken pazifisti­schen Engagements auf uns zu nehmen. Um des Friedens, um der von Kriegen in Not und Elend getriebenen Men­schen, aber auch um unser selbst hier und heute willen. Das friedenspolitische Ziel zahlt sich nicht erst dann aus, wenn es am Ende voll und ganz erreicht wäre. Um Gandhi zu zitieren: "Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der weg."

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Wolf-Dieter Narr ist Hochschullehrer, Mitbegründer und langjähriger Sprecher des Komitee für Grundrechte und Demokratie