EU-Flüchtlingspolitik

Deals, Pushbacks und andere Menschenrechtsverletzungen

von Dominik Meyer
Hintergrund
Hintergrund

„2015 darf sich nicht wiederholen“ ist zum Mantra der EU seit den Fluchtbewegungen in den Jahren 2015/2016 geworden und die Überschrift der EU-Flüchtlingspolitik der vergangenen fünf Jahre. Das System der Abschottung, mit dem dieses Ziel erreicht werden soll, hat viele Facetten: Deals mit autoritären Regimen, Pushbacks an den Außengrenzen, Festsetzung von Schutzsuchenden in Lagern.

Die EU-Flüchtlingspolitik ist geprägt von einer Politik der Deals. Diese Form von Exekutivpolitik offenbart ihren antidemokratischen Charakter nicht erst, wenn man sich ansieht, mit wem die Deals beschlossen werden und welche Auswirkungen sie auf die Rechte der Betroffenen haben.

Die zentralen Dokumente des EU-Türkei-Deals und des Libyen-Deals sind Presseerklärungen. Mit solchen rechtlich nicht bindenden Konstrukten lässt sich zum einen die Kontrolle durch Parlamente umgehen. Zum anderen wird die juristische Überprüfung vor Gerichten erschwert. Für die mit den Deals verbundenen Menschenrechtsverletzungen lassen sich die EU oder ihre Mitgliedstaaten nur über Umwege zur Verantwortung ziehen. Deals waren effektiver im Sinne der Fluchtverhinderung als jede legislative Änderung auf nationaler oder EU-Ebene der letzten Jahre.

Libyen-Deal: Aufrüstung von Milizen
Am 03. Februar 2017 verkündet der Europäische Rat den Libyen-Deal. In dessen Zentrum steht die Ausbildung und Aufrüstung der von der EU so genannten „libyschen Küstenwache“, einem Zusammenschluss von Milizionären und Menschenhändlern. Diese fängt zwischen 2017 bis 2020 über 50.000 Schutzsuchende ab und schleppt sie zurück in die berüchtigten Haftlager des vom Bürgerkrieg zerrissenen Landes.

In Libyen sind Schutzsuchende schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Regelmäßig dokumentieren UN-Institutionen und NGOs Misshandlungen, Folter und Erschießungen. Außerdem besteht die Gefahr, zwischen die Fronten des immer wieder aufflammenden Bürgerkriegs zu geraten.

Trotz allem unterstützt die EU weiterhin das „integrierte Grenzmanagement“ Libyens. Alleine im sogenannten „EU Trust Fund for Africa“ sind dafür 91 Millionen Euro vorgesehen. Dazu kommen Schiffe und technische Ausrüstung aus einzelnen EU-Mitgliedstaaten und die Ausbildung durch die EU-Militärmission „Sophia“ (heute „Irini“).

Die EU selbst hat sich aus dem Rettungsgebiet im zentralen Mittelmeer zurückgezogen. Das Einsatzgebiet von „Irini“ wurde explizit vor den östlichen Teil der libyschen Küste gelegt, von wo aus kaum Flüchtlingsboote ablegen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist hauptsächlich mit Aufklärungsflugzeugen im Einsatz und gibt Daten über in Seenot geratene Boote auch an die „Seenotleitstelle“ in Tripolis weiter.

Zivile Seenotretter*innen werden durch maltesische und italienische Behörden an ihrer Arbeit gehindert. Mit fadenscheinigen Argumenten zu technischen und bürokratischen Anforderungen begründen die Behörden die Festsetzung der Seenotrettungsschiffe. Andere Seenotretter*innen werden strafrechtlich verfolgt. Dies trifft auch Schutzsuchende selbst, wie der skandalöse Fall der „El Hiblu 3“ zeigt.

EU-Türkei-Deal: fünf Jahre Elend auf den griechischen Inseln
Am 18. März 2016 vereinbaren die Spitzen der EU, die Regierungschefs ihrer Mitgliedstaaten und die türkische Regierung den EU-Türkei-Deal, der die Flucht aus der Türkei nach Europa verhindern soll. Sechs Milliarden Euro erhält die Türkei für die Unterbringung der Schutzsuchenden.

Von nun an sollen Schutzsuchende, die die griechischen Inseln erreichen, zurück in die Türkei abgeschoben werden. Dazu wird dem Asylverfahren ein Zulässigkeitsverfahren vorgeschaltet, um festzustellen, ob die Türkei ein sogenannter „sicherer Drittstaat“ für die asylsuchende Person ist.

Die Zahl der Abschiebungen unter dem EU-Türkei-Deal ist vergleichsweise gering. Der Deal funktioniert dennoch durch Grenzkontrollen auf der türkischen Seite und dem Festsetzen der Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln, die sie für die Dauer ihrer Asylverfahren nicht verlassen dürfen. Teils über Jahre müssen sie unter menschenrechtswidrigen Bedingungen in den Hotspot-Lagern überleben.

Auch nach fünf Jahren hat sich nichts in den Lagern nicht verbessert. Ihr abschreckender Effekt ist Teil der Abschottungspolitik der EU. Faire Asylverfahren sind unter diesen Bedingungen nicht möglich, unabhängige Beratung und rechtlicher Beistand kann nur für Einige und nur dank zivilgesellschaftlicher Organisationen geleistet werden.

März 2020: Gewalteskalation an der griechisch-türkischen Grenze
Ende Februar 2020 kündigt Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Deal auf, indem er die Grenze nach Griechenland für offen erklärt. Nachdem sich tausende Schutzsuchende an den Grenzfluss Evros begeben, riegelt die griechische Regierung die Grenze mit massiver Gewalt ab. Mindestens zwei Schutzsuchende kommen dabei ums Leben. Auf der Insel Lesbos versucht ein rassistischer Mob, Schutzsuchende davon abzuhalten, an Land zu gehen und greift zivilgesellschaftliche Helfer*innen an. Die Regierung setzt kurzerhand das Asylrecht für einen Monat außer Kraft.

Um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen, reisen Spitzen der EU-Institutionen in die Evros-Region. Trotz der tödlichen Gewalt, der Zurückweisung und der Pushbacks von Schutzsuchenden sichert Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der griechischen Regierung volle Unterstützung zu. Anstatt die Gewalt zu verurteilen und die Einhaltung von Europarecht einzufordern, dankt die oberste „Hüterin der Verträge“ Griechenland dafür, das „europäische Schild“ zu sein.

September 2020: humanitäre Krise auf Lesbos
Im September 2020 brennt der Hotspot „Moria“ auf Lesbos vollständig ab. Ca. 13.000 Menschen müssen tagelang auf der Straße schlafen. Trotz der humanitären Krise und der Covid-19-Pandemie werden die Menschen nicht von der Insel evakuiert. Aufnahmezusagen anderer EU-Länder gibt es nur in geringem Umfang, und ihre Umsetzung verläuft schleppend. Innerhalb einer Woche wird ein notdürftiges Zeltlager geschaffen, in das die Schutzsuchenden gedrängt werden. Bewohner*innen berichten von noch schlechteren Zuständen als zuvor in Moria.

Die EU hält jedoch an dem Hotspot-Ansatz fest, den Deal mit der Türkei bewertet sie weiterhin als Erfolg. Die EU-Kommission hat eine Taskforce eingerichtet, die mit der Planung neuer Hotspot-Lager auf den griechischen Inseln befasst ist, die zu einem großen Teil geschlossene Lager sein werden.

Systematische Pushbacks in Griechenland
Um die Zahlen der neuankommenden Schutzsuchenden in Griechenland niedrig zu halten, werden in der Ägäis und in der Evros-Region Schutzsuchende systematisch zurück in die Türkei geschleppt, ohne die Chance zu erhalten, einen Asylantrag zu stellen. Pushbacks sind in Griechenland nichts Neues, doch seit März 2020 werden sie insbesondere in der Ägäis mit neuer Systematik durchgeführt.

2020 wurden unter den Augen und mit Beteiligung der EU-Grenzschutzagentur Frontex tausende Schutzsuchende illegal in türkische Gewässer zurückgeschleppt, in manövrierunfähigen Booten oder Rettungsinseln ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Schutzsuchende, die bereits eine griechische Insel erreicht haben, verstecken sich dort inzwischen vor der Polizei aus Angst, wieder in die Türkei gebracht zu werden.

Zwischen April und Dezember 2020 wurden weniger als 3.000 Schutzsuchenden registriert, die Griechenland über die Ägäis erreicht haben. Die griechische Regierung verbucht diesen dramatischen Rückgang als Erfolg und erhält dafür weiterhin enorme finanzielle und logistische Unterstützung aus der EU.

Schutzsuchende, die es trotz allem schaffen, Zugang zum Asylsystem auf dem griechischen Festland zu erhalten, erwartet ein strukturell mangelhaftes Aufnahmesystem und ein Leben in Perspektivlosigkeit. Oftmals bleibt ihnen nur die Weiterflucht über die sogenannte Balkanroute.

Polizeibrutalität und Pushbacks auf der Balkanroute
Im Zuge der Schließung der Balkanroute 2016 kam es dort zu Verschiebungen in den Fluchtrouten. Nachdem Ungarn seine Grenze zu Serbien abgeriegelt hat, nehmen mittlerweile viele Schutzsuchende die Route über Bosnien nach Kroatien. Die kroatische Grenzpolizei führt Pushbacks mit äußerster Brutalität durch. Den Betroffenen werden ihre Sachen geklaut, sie werden geschlagen und zum Teil misshandelt.

Im Juli 2019 veröffentlicht die kroatische Ombudsfrau eine anonyme Beschwerde eines eingesetzten Polizisten, aus der hervorgeht, dass es sich bei der Gewalt nicht um die Willkür einzelner Beamt*innen handelt, sondern um Anweisungen ihrer Vorgesetzten.

Seit Dezember 2018 hat die EU über 18 Millionen Euro für Kroatiens Grenzschutz bereitgestellt. 300.000 Euro aus den EU-Geldern sind für die Einrichtung eines unabhängigen Menschenrechtsbeobachtungsmechanismus vorgesehen, der bis heute nicht existiert.

Vom deutschen Innenministerium kommt zusätzliche Unterstützung in Form von Fahrzeugen und Wärmebildkameras. Laut dem kroatischen Innenminister Davor Božinović ist Deutschland mit am besten über die Arbeit der kroatischen Grenzschutzpolizei informiert.

Ziel der kroatischen Regierung ist der Schengen-Beitritt. Der Beitrittsprozess wäre ein politischer Hebel für die EU, um ein Ende der Menschenrechtsverletzungen zu erwirken. Doch trotz aller Berichte über die rassistische Polizeigewalt und die illegalen Pushbacks erhält Kroatien im Oktober 2019 von Seiten der EU-Kommission „grünes Licht“ für den Schengen-Beitritt.

Menschenrechtsverletzungen, Kriminalisierung und Deal-Politik als Teil eines rechten Backlashs
Die Gewalt gegen Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen, die Deals, die eklatanten Menschenrechtsverletzungen, die Kriminalisierung von Solidarität – all diese Merkmale europäischer Flüchtlingspolitik müssen im Kontext einer erstarkenden politischen Rechten verortet werden.
Die politisch dominanten Kräfte in der EU und ihren Mitgliedstaaten betreiben seit Jahren die Agenda der Rechten. In Lagern eingesperrte Schutzsuchende und überfüllte Gummiboote produzieren dabei Bilder, die Rassist*innen für ihre Propaganda zu nutzen wissen.

Die Abschottungspolitik der EU wirkt Autoritarismus nicht entgegen, ganz im Gegenteil: wenn die EU weiterhin die Menschenrechtsverletzungen und Gewalt gegen schutzsuchende Menschen unterstützt, untergräbt sie ihr eigenes Fundament und verschafft rechten Parteien zusätzliche Handlungsspielräume.

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Dominik Meyer arbeitet in der Europaabteilung der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL unter anderem zur Situation von Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen.