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Dehumanisierung der Opfer
Dehumanisierung - Eine notwendige Voraussetzung von Massakern in Kriegen und Genoziden?
vonWarum und unter welchen Umständen sind Menschen dazu in der Lage und bereit, sich an Massakern im Kontext von Kriegen und Genoziden zu beteiligen? Viele Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, die sich seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts dieser Frage gewidmet haben, formulieren ihre Antwort in der einen oder anderen Weise in Anschluss an das sozialpsychologische Konzept der Dehumanisierung, also der Entmenschlichung der Opfer. Mein Beitrag stellt dieses Konzept zunächst kurz vor, um anschließend die Grenzen seiner Erklärungskraft auszuloten. (1)
I Dehumanisierung als sozialpsychologisches Konzept
Der Zusammenhang von Dehumanisierung und Massakern wurde zuerst in einem Aufsatz des Sozialpsychologen Herbert C. Kelman aus dem Jahr 1973 aufgegriffen. (2) Kelman und die an ihn anschließenden Vertreter*innen des Konzeptes der Dehumanisierung gehen davon aus, dass es universelle psychische und moralische Hemmungen gegen das Töten anderer Menschen gibt. Daher seien Massaker im Rahmen von Genoziden und Kriegen nur möglich, wenn die Täter ihre Opfer aus dem „human universe of moral obligation“ (3) ausschließen. Dadurch, dass das Opfer „nicht oder nur noch in einem sehr eingeschränkten Sinne als menschliches Wesen“ wahrgenommen wird, werde seine Tötung „kaum noch als Verletzung des Tötungstabus wahrgenommen und erlebt“. (4) Einem dehumanisierten Menschen wird durch die Täter mithin die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies abgesprochen. Dies impliziert, dass nicht nur sein Status als rechtlich und moralisch relevante Person, sondern auch seine Individualität und Subjektivität verneint wird. (5)
Dieser Prozess der Entmenschlichung der Opfer gilt nicht nur in der älteren Sozialpsychologie als eine notwendige und unverzichtbare Voraussetzung von Massakern im Rahmen von Kriegen und Genoziden. So schreibt Kelman:
„[T]he inhibitions against murdering fellow human beings are generally so strong that the victims must be deprived of their human status if systematic killing is to proceed in a smooth and orderly fashion. […] Sanctioned massacres become possible to the extent that we deprive fellow human beings of identity and community”, they „presuppose a degree of dehumanization that is considerably more extreme“ than in other war situations. (6)
Ähnlich heißt es bei dem Historiker Daniel J. Goldhagen, der sich mit der Beteiligung deutscher Ordnungspolizisten an Massenerschießungen von polnischen Juden im Rahmen der Shoa beschäftigt hat: „Damit Menschen eine große Gruppe anderer Menschen töten, müssen zunächst die ethischen und gefühlsmäßigen Schranken fallen, die sie normalerweise davon abhalten. Es muß mit Menschen etwas sehr Grundlegendes geschehen, ehe sie bereitwillig zu Vollstreckern eines Massenmordes werden.“(7) Im Fall der Shoa rechnet Goldhagen diese ‚grundlegende Veränderung’ der deutschen Täter ihrem „eliminatorischem Antisemitismus“ zu, der als eine besondere Form der Dehumanisierung der Opfer verstanden werden kann: „For Germans (and other similar European racist antisemites), the continuum of human races did not include the Jews”. (8) Christopher R. Browning verzichtet in seinem Buch zur Beteiligung des Polizeibataillons 101 an der Shoa zwar auf Generalisierungen dieser Art, macht aber deutlich, dass auch er in der psychischen Distanzierung der Täter von den Opfern einen „der Schlüssel zum Verhalten des Reserve-Polizeibataillons 101“ (9) sieht:
„Eindeutig ist, daß den Polizisten die Sorge um das Ansehen bei den Kameraden wichtiger war als irgendein Gefühl menschlicher Verbundenheit mit den Opfern. Die Juden standen für sie außerhalb des Kreises, in dem man mitmenschliche Verpflichtung und Verantwortung empfand.“ (10)
II Soziologische Zweifel: Keine Massaker ohne Dehumanisierung?
Töten als Mitgliedschaftspflicht in (staatlichen) Gewaltorganisationen
Ausgehend von Beiträgen aus der neueren soziologischen Gewaltforschung scheinen mir zumindest zwei Anfragen an die Erklärungskraft des Dehumanisierungskonzeptes gerichtet werden zu müssen. Meine erste Anfrage verweist darauf, dass die meisten Menschen, die sich im Kontext von Kriegen und Genoziden an Massakern beteiligen, dies in ihrer Rolle als Mitglied einer formalen Organisation tun. Diese (staatlichen) Gewaltorganisationen wie Militär, Polizei oder Miliz erwarten von Personen, die Mitglied in der jeweiligen Gewaltorganisation werden oder bleiben wollen, die Bereitschaft, in bestimmten Situationen (tödliche) Gewalt gegen andere Menschen anzuwenden.
Aus dieser auf den ersten Blick banalen Tatsache ergibt sich eine Verschiebung der Perspektive. Zu erklären ist jetzt nicht mehr die Frage, warum so viele Menschen in Kriegen und Genoziden in der Lage und bereit sind, sich an Massakern zu beteiligen, sondern eine organisationssoziologisch spezifizierte Version dieser Problemstellung: Wie gelingt es (staatlichen) Gewaltorganisationen als sozialen Gebilden, das jeweilige Tötungshandeln als Teil der „Indifferenzzone“ (Chester Barnard (11)) ihrer Mitglieder zu institutionalisieren, also als Teil derjenigen Erwartungen, die von den Soldaten, Polizistinnen oder Milizangehörigen als Teil ihrer Mitgliedschaftsrolle akzeptiert wird?
Die Dehumanisierung der Opfer beispielsweise im Zuge weltanschaulicher Schulungen zu fördern, (12) ist aus dieser organisationssoziologischen Perspektive dann lediglich eine von vielen Möglichkeiten für (staatliche) Gewaltorganisationen, es wahrscheinlicher zu machen, dass ihre Mitglieder die Teilnahme an Massakern als Mitgliedschaftspflicht akzeptieren – aber sie ist in der Regel alleine weder notwendig noch hinreichend, um Organisationsmitglieder zu einer Beteiligung an Massakern zu motivieren. Ebenso bedeutsam sind die Aussicht auf individuelle Bereicherung für die Täter (die den ermordeten Menschen beispielsweise Schmuck entwenden), die Drohung mit organisationalen oder rechtlichen Sanktionen im Fall der individuellen Verweigerung, informale Kollegialitätserwartungen, die Freude an Gewaltausübung bei einzelnen Organisationsmitgliedern oder die wiederum durch die (staatliche) Gewaltorganisation förderbare Überzeugung, die als menschlich wahrgenommenen Opfer hätten den Tod verdient, etwa aufgrund einer ihnen zugeschriebenen Unterstützung des Kriegsgegners (‚Partisan‘) oder einer ihnen zugeschriebenen Straftat.
Selbstverständlich variiert die Gewichtung und das Zusammenspiel dieser und weiterer Einflussfaktoren von Fall zu Fall. Mir kommt es hier nur auf den grundlegenden Hinweis an, dass auch die Mitglieder (staatlicher) Gewaltorganisationen die an sie gerichteten Erwartungen nicht als Privatleute (oder ‚Menschen‘) erfüllen (oder nicht erfüllen), sondern in ihrer Rolle als Organisationsmitglied – und zwar in der Regel insbesondere, weil bzw. insofern sie zum einen ein generalisiertes Interesse am Erhalt ihrer Organisationsmitgliedschaft haben und zum anderen ihre (zumeist männlichen) Kollegen bei der Erfüllung der jeweiligen Aufgabe nicht im Stich lassen wollen. Es mag zynisch klingen, scheint mir aber realistisch zu sein, die Beteiligung an Massakern unter anderem als Folge praktizierter Kollegialität (oder ‚Kameradschaft‘) innerhalb der Tätergruppe zu erklären. (13)
Menschlichkeit der Opfer als Voraussetzung exzessiver Gewalt
Meine zweite Anfrage an die Erklärungskraft des Dehumanisierungskonzeptes bezieht sich auf das Phänomen exzessiver Gewalt in Kriegen und Genoziden. Damit soll hier diejenige Form der Gewalt gemeint sein, die über die organisational angeordnete Gewalt hinausgeht und die insofern der gewaltanwendenden Person – etwa einer Soldatin oder einem Polizisten – persönlich zugerechnet werden kann. Exzessive Gewalt in diesem Sinne liegt beispielsweise dann vor, wenn die Mitglieder einer (staatlichen) Gewaltorganisation die Menschen, deren Tötung ihnen aufgetragen worden ist, vor dieser Tötung erniedrigen oder besonderen Qualen aussetzen. Der folgende Bericht aus dem Konzentrationslager Buchenwald handelt von einem besonders eindrücklichen Fall exzessiver Gewalt:
Der Bauführer eines Schachtkommandos im Konzentrationslager Buchenwald befahl „zwei Juden, deren Arbeitskraft nachzulassen schien, sich in eine Grube zu legen. Einen Polen beauftragte er, die Grube zuzuschütten, um die beiden lebendig zu begraben. Als dieser sich weigerte, verprügelte er ihn mit einem Schaufelstiel und befahl ihm, sich an Stelle der beiden Juden in die Grube zu legen. Diese mußten nun ihrerseits den Ungehorsamen eingraben. Als von dem Polen nur noch der Kopf zu sehen war, brach er die Aktion ab und ließ den Mann wieder ausgraben. Die Juden mußten sich erneut in die Grube legen, und dem Polen befahl er nochmals, sie zuzuschaufeln. Diesmal gehorchte er (…) Als die Grube voll war, trampelte der Bauführer lachend die Erde fest. Fünf Minuten später rief er zwei Häftlinge herbei, um die beiden wieder herauszuholen. Einer war schon tot, der andere gab nur noch schwache Lebenszeichen von sich. Beide wurden zum Krematorium transportiert.“ (14)
Die Absicht des Bauführers besteht in diesem Fall unter anderem darin, die moralische Überzeugung des polnischen Lagerinsassen zu brechen, bezieht sich also auf eine genuin menschliche Fähigkeit seines Opfers. Um dieses Ziel zu erreichen, wird der polnische Insasse – ebenso wie die beiden Juden – durch den Bauführer instrumentalisiert, aber gerade nicht dehumanisiert. Vielmehr impliziert die Tatsache, dass der Täter die Opfer als Interaktionspartner behandelt und sie (dadurch) zu Instrumenten seiner Absicht macht, dass der Täter die Opfer als menschliche Wesen wahrnimmt. Gleiches gilt für andere Fälle exzessiver Gewalt, etwa für die im Rahmen fast aller Genozide und vieler Kriege vorkommenden Vergewaltigungen oder das unter anderem im deutschen Polizeibataillon 101 im Rahmen der Shoa praktizierte Anzünden und Abschneiden der Bärte polnischer Juden im Vorfeld ihrer Ermordung. (15)
In all diesen Fällen liegt die Funktion exzessiver Gewalt für die Tätergruppe darin, die Unbegrenztheit ihrer Macht über die Opfergruppe zu demonstrieren. Wie in der neueren Literatur auch der Sozialpsychologe Johannes Lang (16) betont hat, gelingt dies besonders gut, wenn sich exzessive Gewalt auf die Menschlichkeit der Opfer bezieht, indem ihre Subjektivität (ihre Wahrnehmungen, Ziele, Überzeugungen) zum zentralen Element der Gewaltinteraktion gemacht werden. Kurz: Exzessive Gewalt zielt typisch auf das Opfer als menschliches Individuum, dessen spezifisch menschliche Subjektivität und Moralität verletzt und gebrochen werden soll – und sie ist insofern nur möglich, wenn das Opfer nicht dehumanisiert, sondern als vollwertiges menschliches Wesen angesehen und behandelt wird. (17)
III Schluss: Massaker als menschliches Potential und Organisationsphänomen
Das in diesem Beitrag knapp vorgestellte sozialpsychologische Konzept der Dehumanisierung kann dazu beitragen, einen Teil der Gewalt zu erklären, die Menschen anderen Menschen in Kriegen und Genoziden antun. Die oft mit diesem Konzept verbundene These, dass die Fähigkeit und Bereitschaft von Menschen, sich an Massakern zu beteiligen, die Dehumanisierung der späteren Opfer voraussetzen würde, hat sich in der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion jedoch als nicht haltbar und mit Blick auf die Gewaltfähigkeit und Gewaltbereitschaft von Menschen als zu optimistisch erwiesen.
Zum einen lässt sich die Tötungsbereitschaft der Mitglieder von (staatlichen) Gewaltorganisationen selbst im Fall von Genoziden wie der Shoa weitestgehend mit Verweis auf weniger voraussetzungsvolle Motivationsmittel formaler Organisationen erklären. Zu nennen sind hier insbesondere die Aussicht auf individuelle Bereicherung, organisationale oder rechtliche Sanktionsdrohungen, informale Kollegialitätserwartungen, Freude an Gewaltausübung bei einzelnen Mitgliedern sowie die zahlreichen Formen der ideologischen Rechtfertigung von Gewalt. Zum anderen lässt sich im Kontext von Kriegen und Genoziden regelmäßig eine Form exzessiver Gewalt beobachten, die gerade voraussetzt, dass die Täter ihre Opfer als menschliche Wesen mit einer spezifisch menschlichen Subjektivität wahrnehmen und behandeln. Aus der Shoa und anderen Genoziden lässt sich also auch lernen, dass die Tötungshemmungen von Menschen weniger universell und weniger stark sind, als die (ältere) Sozialpsychologie angenommen und gehofft hat.
Anmerkungen
1 Für eine ausführliche Diskussion des hier skizzierten Arguments mit Bezug auf die Beteiligung deutscher Ordnungspolizisten an der Shoa siehe Martin Weißmann (2015). Organisierte Entmenschlichung. Zur Produktion, Funktion und Ersetzbarkeit von Dehumanisierung in Genoziden. In: Alexander Gruber und Stefan Kühl (Hg.): Soziologische Analysen des Holocaust. Jenseits der Debatte über »ganz normale Männer« und »ganz normale Deutsche«. Wiesbaden: Springer VS, S. 79–128.
2 Herbert C. Kelman (1973). Violence without Moral Restraint. Reflections on the Dehumanization of Victims and Victimizers, Journal of Social Issues 29, S. 25-61.
3 Siehe aus der neueren Literatur etwa Moshman, David (2007). Us and Them. Identity and Genocide, Identity. An international Journal of Theory and Research 7, S. 115-135, hier S. 115
4 Herbert Jäger (1989). Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 194.
5 Ebd.; Johannes Lang (2010). Questioning Dehumanization. Intersubjective Dimensions of Violence in the Nazi Concentration and Death Camps, Holocaust and Genocide Studies 24, S. 225-246.
6 Kelman (wie Anm. 2), S. 48 und 49, meine Hervorhebung.
7 Daniel J. Goldhagen (1996). Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. München: Goldmann, S. 485.
8 Daniel J. Goldhagen (2010). Worse than War. Genocide, Eliminationism and the Ongoing Assault on Humanity. London: Little, Brown, S. 326, Hervorhebung im Original
Übersetzung: “Für deutsche (und andere vergleichbare europäische rassistische Antisemiten schloss das Kontinuum der menschlichen Rassen die Juden nicht mit ein.”
9 Christopher R. Browning (2007). Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Reinbek: Rowohlt, S. 211.
10 Ebd., S. 107.
11 Chester I. Barnard (1938): The Functions of the Executive. Cambridge: Harvard University Press, S. 167ff., vgl. als Anwendung des Konzepts auf die Beteiligung des Polizeibataillons 101 an der Shoa Alexander Gruber und Stefan Kühl (2015). Autoritätsakzeptanz und Folgebereitschaft in Organisationen. Zur Beteiligung der Mitglieder des Reserve-Polizeibataillons 101 am Holocaust. In: Alexander Gruber und Stefan Kühl (Hg.): Soziologische Analysen des Holocaust. Jenseits der Debatte über »ganz normale Männer« und »ganz normale Deutsche«. Wiesbaden: Springer VS, S. 7–28.
12 Siehe dazu und mit weiteren Verweisen Weißmann (wie Anm. 1), S. 92–99.
13 Mir fehlt hier der Platz, um dieses Argument in der von der Sache her gebotenen Sorgfalt zu explizieren. Siehe dazu Weißmann (wie Anm. 1), Gruber und Kühl (wie Anm. 11) sowie Stefan Kühl (2014). Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust. Berlin: Suhrkamp
14 Wolfgang Sofsky (1997). Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 274.
15 Vgl. zu Letzterem die Schilderung bei Goldhagen (wie Anm. 7), S. 292f.
16 Vgl. Lang (wie Anm. 5).
17 Es dürfte auch die Doppeldeutigkeit der Rede von ‚Menschlichkeit‘ und ‚Unmenschlichkeit‘ des Gegenübers sein, die an dieser Stelle zu anderslautenden Thesen seitens der (älteren) Sozialpsychologie geführt hat. Nur unter Berücksichtigung dieser Doppeldeutigkeit lässt sich widerspruchsfrei formulieren, dass die unmenschliche Behandlung des Opfers im Fall exzessiver Gewalt voraussetzt, dass der Täter das Opfer als menschliches Individuum mit individuellen Wahrnehmungen und Überzeugungen ansieht und behandelt. Im ersten Teil des Satzes ist das Wort ‚unmenschlich‘ Teil eines normativ-wertenden Urteils, im zweiten Teil des Satzes bezieht sich das Wort ‚menschlich‘ ohne normative Implikation auf spezifisch menschliche Eigenschaften, nämlich auf die Fähigkeit, anspruchsvolle Interaktionen zu betreiben und moralische Überzeugungen zu haben.