Demonstrationen - Seismograph für ungelöste Konflikte

von Elke Steven

Demonstrationen zeigen gesellschaftliche Konflikte auf. Sie mobilisieren vor allem diejenigen, die im Verhältnis zur politischen Macht in der Minderheit sind. Sie wollen öffentliche Aufmerksamkeit erregen, von ihren politischen Zielen überzeugen und sich ihres eigenen Zusammenhalts vergewissern. Grundlage von „Versammlungen unter freiem Himmel" ist das Grundgesetz, in dem es in Art. 8 Abs. 1 zunächst heißt: ,,Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln."
Gemäß Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht per Gesetz eingeschränkt werden. Dies tut das (veraltete) Versammlungsgesetz seit 1953. Dieses Grundrecht hat, da es das individuelle Recht auf Meinungsfreiheit zu einem Recht auf Assoziation verlängert, von vorne herein eine politische Dimension.

Obwohl die weitaus meisten Demonstrationen friedlich, aber oft auch ohne große öffentliche Aufmerksamkeit verlaufen, werden Versammlungen in einem großen Teil der Öffentlichkeit vor allem deswegen wahrgenommen, weil sie gemäß den Medienberichten von Gewalt überschattet sind. Abgesehen von den Fragen, ob sie dies tatsächlich waren und wie solche Berichterstattungen zustande kommen, bleibt die Frage, wie mit Konflikten im Kontext von Demonstrationen umzugehen ist.

Demonstrationen als Provokationen
Demonstrationen machen vorrangig auf (innergesellschaftliche) Konflikte aufmerksam und sind Teil demokratischer Willensbildung. Interessengegensätze, unterschiedliche Wertvorstellungen und Meinungen sind die Grundlagen der Konflikte. Dieser Kampf der Meinungen ist Teil demokratischer Willensbildung. In der repräsentativen Demokratie, auch als „repräsentativer Absolutismus" zu bezeichnen, wird dieser Prozess der Meinungsbildung zunächst nur unter den Parlamentariern - gemeinsam mit den mächtigen Lobbyvertretern - geführt. In „Versammlungen unter freiem Himmel" melden sich dagegen die Bürger und Bürgerinnen selbst zu Wort. Wie wichtig diese Korrekturen für eine lebendige Demokratie sind, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem sogenannten Brokdorf-Beschluss von 1985 festgehalten: Versammlungen „enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren" (Brokdorf-Beschluss des BVerfG 1985). Gerade Minderheiten, Gruppen ohne machtvolle Lobby, sind auf den Schutz des Versammlungsrechts angewiesen, um sich öffentliches Gehör zu verschaffen.
Um Öffentlichkeit zu erreichen, um über den eigenen Standpunkt und die eigenen Argumente berichten zu können, müssen Demonstrationen in unserer von Medien geprägten Welt „medienwirksam" gestaltet werden. Sie müssen Aufmerksamkeit erzielen und für Medien interessante Bilder herstellen. Nur so haben sie eine Chance wahrgenommen zu werden. Sowohl begrenzte Regelverletzungen als auch plakative Aktionen, die anschauliche Bilder produzieren, verstärken die Aufmerksamkeit der Medien und damit der Öffentlichkeit. Zum einen entsteht bei dieser Orientierung die Gefahr, dass der Inhalt hinter der Medien-Form zurücksteht oder gar ganz verloren geht. Werden radikalere, an die Wurzeln, die Ursachen gehende, die wunden Stellen aufdeckende, provozierende Aktionsformen gewählt, dann werden solche Ausdrucksformen schnell von interessierter politischer Seite als gewalttätig und extremistisch diffamiert. Je nach polizeilichem Umgang mit solchen Aktionsformen entsteht eine Eigendynamik in der Konfrontation.
Die Erfahrung, nicht gehört zu werden, Öffentlichkeit nicht zu erreichen - oder nur dann wahrgenommen zu werden, wenn „etwas" passiert, wenn Scheiben zu Bruch gehen, Container quergestellt und Gegenstände geworfen werden, verleitet zu aggressiven Ausdrucksformen.
Physische Gewalt muss jedoch bei allen Demonstrationen ausgeschlossen sein, wie auch willkürliche Zerstörungen von Sachen. Es gibt einen Zusammenhang von Form und Inhalt, Ziel und Mittel. Gewalt kann kein Mittelemanzipativer Bewegungen sein. Darüber hinaus ermöglicht sie die Instrumentalisierung dieser Gewalt für die bekämpften herrschenden Interessen. Auch in den Medien steht dann - aber nicht nur dann - die Berichterstattung über gewalttätige Ausdrucksformen im Vordergrund statt den Inhalten, für die die Demonstration steht.
Demonstrationen wenden sich an die Öffentlichkeit und an „die Politik", die verändert werden soll. Das direkte Gegenüber im demonstrativen Geschehen - und damit der situative Konfliktgegner - ist jedoch die Polizei. Diese wird als Vertreterin der staatlichen Ordnungsmacht vorrangig im Interesse der Herrschenden, der Mächtigen und Besitzenden eingesetzt. Versammlungen werden von den innenpolitisch Zuständigen vorrangig unter polizeilichen Sicherheits- und Ordnungsgesichtspunkten betrachtet.

Polizei als Ordnungsmacht
Demonstrationen - vor allein die provokativen - sind häufig begleitet von dem übermächtigen Auftreten der Polizei. Diese definiert im Zusammenspiel mit der Politik, ob und unter welchen Auflagen Versammlungen zugelassen werden oder ob sie ganz verboten werden. Ihre martialische Ausrüstung und das dementsprechende Auftreten ist häufig auf Abschreckung und Einschüchterung ausgerichtet. Ihre vorgängigen Formen der Überwachung, der Zugangskontrollen, der Videoüberwachung während der Demonstrationen widersprechen dem bürgerlichen Eigensinn von Demonstrationen.
Die Polizei kann jedoch sehr unterschiedlich mit Demonstrationen umgehen. Sie hat zunächst die Definitionsmacht darüber, was versammlungsgemäß und was nicht hinnehmbares Verhalten ist. Ihre Eingriffsbefugnisse, z.B. aufgrund von Polizeigesetzen, wurden in den letzten Jahren ausgeweitet. Die Förderalismusreform, die das Versammlungsrecht in die Hände der Länder gibt, wird, so ist zu befürchten, die Konkurrenz um die Einschränkung des Versammlungsrechts beflügeln: Je eher die Polizei Versammlungen als Ausdruck bürgerlicher Willensbildung akzeptiert und je mehr sie dabei Ausdrucks und Protestformen gemäß dem Willen der Demonstrierenden hinnimmt, je eher verlaufen Demonstrationen friedlich. Dies schließt allerdings Regelverstöße nicht aus. Sitzblockaden, wie wir sie vor allem aus der Friedensbewegung und dann aus dem Anti-Atom-Protest kennen, etwa Blockaden des Castortransportes auf Schiene und Straße, auch Haus- und Platzbesetzungen provozieren, sie stellen aber keine Gewalt dar. Unterschiedliche Interessen - der Transporteure des Atommülls, der Bundeswehr auf freie Ein- und Ausfahrt -stoßen aufeinander. Die dahinterstehenden Konflikte können nicht seitens der Polizei kommunikativ vor Ort gelöst werden Antworten sind von der Politik gefordert. Die Räumung von friedlich Demonstrierenden kann den Gewisssenskonflikt der Demonstrierenden und die Herrschaftsverhältnisse anschaulich machen. Die Polizei als Vertreter der Staatsmacht kann so zum Einsatz ihrer Zwangsmittel „gezwungen" sein. Tut sie dies verhältnismäßig, also z.B. bei Sitzblockaden durch einfaches Räumen ohne zusätzliche Gewaltanwendung, so kann dies ohne weitere Eskalation geschehen: Fehlt die Einsicht in diese Notwendigkeit, wird unnötige Gewalt angewendet, die zu Eskalation führen kann.

Medien als Berichterstatter?
Die Wahrnehmung von Protesten wird wesentlich durch die Medien vermittelt. Aufgabe der Polizei ist es nicht, selbst die öffentliche Meinung zu beeinflussen, gar die Berichterstattung in den Medien zu dominieren. Auf unterschiedliche Weise geschieht dies jedoch und wird strategisch gegen die Demonstrierenden eingesetzt. Politik, Polizei und Medien können im Vorfeld von Demonstrationen durch die Darstellung ihrer „Erwartungen", vor allem durch Warnungen vor „gewaltbereiten" Teilnehmern, etwa vor dem „schwarzen Block", zur Abschreckung eines Teils der potentiellen Demonstrierenden und zur Provokation der Teilnehmenden beitragen. Im Wendland hat die Polizei in den letzten Jahren versucht, den Zugang zum „Mediendorf", das unmittelbar neben der Schiene im hochgesicherten Bereich lag, zu kontrollieren (vgl. BI Umweltschutz Lüchow Dannenberg e.V.: Demokratiefreie Zone Gorleben). laufende Pressemitteilungen der Polizei über den Demonstrationsverlauf - auch falsche Berichte - führen dazu, dass diese den Blickwinkel der Berichterstattungen dominieren.
Wenn zugleich den Demonstrierenden medienwirksame Bilder - z.B. durch Versammlungsverbote - untersagt werden, erhöht dies den Konflikt.
Für eine einseitige Berichterstattung sorgen auch Zahlen über die eingeleiteten Ermittlungsverfahren. Der Öffentlichkeit wird signalisiert, dass die Demonstrationen rechtswidrig verlaufen seien, was häufig mit gewalttätig gleichgesetzt wird. Meist kommt es jedoch in viel geringerem Maße zu tatsächlichen strafrechtlichen Ermittlungen. Über folgende Freisprüche wird dann kaum noch berichtet. Die Zahlen im Kontext der Castor-Proteste sind in. diesem Kontext extrem: Im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1995 und 1. April 1997 sind insgesamt 1.404 Strafverfahren von der Polizei eingeleitet worden. In 109 Verfahren ist Anklage erhoben oder sind Strafbefehle erlassen worden. 48 wurden rechtskräftig abgeschlossen, und lediglich 19 Verurteilungen erfolgten.
Versammlungen unter freiem Himmel sind Ausdruck von Konflikten, von lnteressengegensätzen und Meinungsverschiedenheiten. Ihr Ausdruck verlangt auch Provokation, Emotionen entzünden sich daran. Jede vorschnelle Beschwichtigung kann lähmen und den Konflikt unter den Teppich kehren. Das ist nicht mit lebendiger. Demokratie, mit dem Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit vereinbar. Gewaltfreie Demonstrationen und Aktionen Zivilen Ungehorsams machen dagegen Widerstand als einen Prozess möglich, in dem sich die dominierenden gesellschaftlichen Wahrnehmungen verändern. Die Aktion selbst wird zu einem Lernprozess für viele.

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Elke Steven ist Soziologin und Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln.