Demonstrationsrecht auf dem Prüfstand

von Elke Steven
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Versammlungen "enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren". In der Verteidigung des Grundrechts auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1985 - das sogenannte Brokdorf-Urteil - eindeutig. Es hat einen Maßstab gesetzt, an dem sich der polizeiliche und ordnungsbehördliche Umgang mit Demonstrationen messen lassen muss. Selbstverständlich geworden ist die diesem Urteil zugrundeliegende Auffasssung noch lange nicht. Auch spätere Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts haben immer wieder das Recht auf Demonstrationsfreiheit betont und unverhältnismäßige Verbote zurückgewiesen.

Im sogenannten Sitzblockadeurteil vom 10. Januar 1995 hat das Bundesverfassungsgericht beschlossen, dass Sitzblockaden keine Gewalt darstellen. In einer rückwirkenden Beurteilung eines Demonstrationsverbotes auf der Berliner Oberbaumbrücke bei einer Kundgebung gegen den Autoverkehr stellte das Bundesverfassungsgericht am 21. April 1998 fest, dass Demonstrationen nicht leichtfertig verboten oder mit ihren Sinn entstellenden polizeilichen Auflagen versehen werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht stellte wieder eindeutig heraus, dass konkrete Erkenntnisse über eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung Voraussetzung für das Verbot einer Demonstration oder auch nur für polizeiliche Auflagen sind. Erkennbare Umstände, also nachweisbare Tatsachen müssen vorliegen. Vermutungen reichen für einen solch gravierenden Eingriff in das Grundrecht nicht aus.
 

Wie aber sieht es im demonstrativen Alltag aus? Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts kommen immer zu spät für das konkrete Anliegen. Die Demonstrationen waren dann bereits verboten oder waren mit unrechtmäßigen Auflagen versehen. Die Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht festlegt, müssen jedoch bei Verboten oder Auflagen in späteren Fällen berücksichtigt werden. Leider geschieht dies häufig nur rudimentär, eher sogar sinnentstellend, und die Polizeibehörden sind erfinderisch im Umgehen der richterlichen Grundsätze.

Im Alltag haben sich statt des weitgehenden Schutzes des Demonstrationsrechts und der Meinungsfreiheit viele Formen der Einschränkung und Repression durchgesetzt. Mit vielfältigen Methoden wird versucht, Demonstrationen zu verhindern oder sie in ihren Äußerungsformen so zu behindern, dass sie ihren Sinn verlieren. Während der verschiedenen Gipfeltreffen von Politikern in Köln im Juni 1999 waren einige dieser Methoden wieder einmal gut zu beobachten.

Immer häufiger werden Demonstrationen an den Orten verboten, wo sie diejenigen erreichen können, gegen die oder gegen deren Handlungen sich der Protest richtet. Das Verwaltungsgericht Berlin hat jedoch im Fall des Protestes gegen das öffentliche Gelöbnis von Bundeswehrsoldaten mit Bezug auf das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die Bundeswehr nicht beanspruchen kann, das Gelöbnis auf einem öffentlichen Platz vor einem ihr wohlgesonnenen Publikum durchzuführen.

In Köln wurde von der Polizei ein Demonstrationsverbot in unmittelbarer Nähe der Tagungsorte der Politiker quasi selbstverständlich vorausgesetzt, ohne dass dies formal erlassen wurde. Es wurde so getan, als hätten die Politiker ein Recht, nur von ihnen zustimmendem und sie bejubelndem Volk umgeben zu sein. Kritik an ihnen und ihrer Politik scheint einem demokratischen Staat nicht mehr gemäß zu sein. Bei Anmeldungen kleinerer Demonstrationen wurde ganz einfach darauf verwiesen, dass in diesem gesamten "Sicherheitsbereich" eine Versammlung nicht möglich sei. Solche kleinen Demonstrationen - wie etwa der "Tanz ums goldene Kalb" einer 15köpfigen Demonstrationsgruppe - und deren Anmelder können sich den Widerspruch - zunächst überhaupt auf einem rechtsmittelfähigen Bescheid zu bestehen, dann die Gerichte anzurufen - kaum leisten und scheuen den Aufwand. Gegen kleine Gruppen, die ohne Anmeldung ihrer Demonstration gegen dieses ungeschriebene Verbot verstießen, wurde sofort mit den entsprechenden polizeilichen Maßnahmen vorgegangen: Einkesselung und Ingewahrsamnahme.

Für die großen Demonstrationen war die Nutzung der Plätze in unmittelbarer Nähe des Tagungsortes aus räumlichen Gründen kaum möglich. Der Streit um Kundgebungs-Orte und Demonstrationswege begann hier fast ein Jahr vor den Gipfeltreffen. Möglichst weit sollten die Demonstrationen von allen Orten, die ihnen weitgehende öffentliche Wahrnehmbarkeit garantiert hätten, ferngehalten werden. In immer neuen Gesprächen wurde das für und wider erörtert, so dass der Eindruck entstehen konnte, dass mit diesen Gesprächen die Anmelder auch hingehalten werden sollten, um letztlich die polizeilichen Auflagen ohne gerichtliche Überprüfung durchsetzen zu können.
 

Die Anmelder der Demonstration gegen den G-7-Gipfel am 19. Juni 1999 bestanden letzlich auf der Zustellung eines rechtsmittelfähigen Bescheides. Nach ihrem einmonatigen Drängen erhielten sie ihn endlich. Dieser Bescheid enthielt zwar die inzwischen üblichen formelhaften Bezüge zum Brokdorf-Urteil, aber nur um dieses in seinem Sinn zu entstellen und ins Gegenteil zu verkehren. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1998 scheint so jung zu sein, dass es sich in diesen ordnungsbehördlichen Kreisen noch nicht herumgesprochen hat. Vage Formulierungen von irgendwem aus dem Internet, von Personen und Organisationen, die nichts mit den Anmeldern der Demonstration zu tun haben, müssen herhalten, um Gewalt herbeizureden, die das Verbot begründen soll. Nicht konkrete Verdachtsmomente wurden aufgeführt, sondern alles wurde in eine Wolke des Verdachts, der Vermutungen und Behauptungen von Gewalt und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit eingehüllt.

In diesem Fall genügte der Gang zum Verwaltungsgericht, um Recht zu bekommen. Der Richter war eindeutig in seiner Einschätzung der Rechtslage. Die Polizei zog ihren Bescheid zurück und akzeptierte die Anmeldung für den von den Demonstrierenden vorgesehenen Ort.

Auch die Einschüchterung von Demonstrationsanmeldern ist immer wieder zu beobachten. Mündlich wird ihnen die Verantwortung für jedwedes Verhalten aus der Demonstration heraus übertragen und es wird ihnen angedroht, dass sie für jedes rechtswidrige Vorkommnis haftbar gemacht werden. Im Zweifelsfall werden ihnen gar ordnungspolizeiliche Maßnahmen abverlangt, indem sie die Sprüche auf den in der Demonstration mitgeführten Plakaten und Transparenten auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen sollen.

Die Auseinandersetzungen um das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit finden bei solchen Anlässen jedoch auch alltäglich auf der Straße und häufig ohne rechtliche Überpüfung statt. Üblich geworden ist es inzwischen, dass die Polizei massiv und in größtmöglicher Zahl vertreten ist. Bei entsprechenden Anlässen ist die Polizei ständig und überall präsent. Sie besetzt möglichst alle Plätze, bevor überhaupt eine Gruppe sich einfinden kann, die demonstrieren will. Einschüchterung und Abschreckung sind angesagt. Erlaubt ist dann nur ein der Polizei genehmes Verhalten und Aussehen. Wer dem nicht entspricht, soll sofort die ganze Härte des Armes des Gesetzes zu spüren bekommen. - Ein Verdacht, etwa irgendeinen reibungslosen Ablauf auch nur geringfügig stören zu wollen, kann schnell entstehen. Schon der Aufenthalt in der Nähe von anderen Verdächtigen, die falsche Kleidung, Haartracht oder was auch immer die Irritation eines Polizeibeamten auslösen kann, kann als Kriterium zur Segregation ausreichen. "Kollateralschäden" sind dann zwar bedauerlich, aber wo gehobelt wird, fallen eben auch Späne.
 

Weitere Methoden zur Verhinderung der Wahrnehmung des Demonstrationsrechts sind das Aufenthaltsverbot und der sogenannte Unterbindungsgewahrsam (Vorbeugehaft). Mit dem Argument, man befürchte die Begehung einer Straftat, wird denjenigen, die man pauschal unter diesen Verdacht stellt, das Betreten ganzer Stadtteile oder ganzer Innenstädte verboten. Bei den Chaostagen 1996 ist dieses Mittel in erheblichem Maß gegen unliebsame Personen eingesetzt worden.

Aussehen, Kleidung und Haartracht, reicht immer häufiger aus, um einen 24stündigen Platzverweis für einen großen städtischen Bereich zu erteilen. Das Verwaltungsgericht Hannover, dessen Urteil insgesamt zu kritisieren ist, forderte zumindest noch Fingerspitzengefühl bei der Umsetzung der damaligen Allgemeinverfügung der Stadt Hannover. Es machte zumindest deutlich, dass das Aussehen allein nicht zur Grundlage von Platzverweisen gemacht werden dürfe. Trotzdem waren genau diese äußeren Kennzeichen damals häufig die einzigen Begründungen für Platzverweise. Auch im Nachhinein hat das Verwaltungsgericht Hannover auf Klagen Betroffener in mehreren Fällen die verhängten Platzverweise für rechtswidrig erklärt. In Köln wiederholte sich ähnliches Pfingsten 1998 bei einem Punk- und Grufti-Treffen. Auch während der Gipfeltreffen in Köln wurde spätnachmittags eine ganze Straßenbahn, in der sich Teilnehmer der Intercontinentalen Karawane befanden, angehalten. Die Insassen erhielten kurzerhand einen 24stündigen Platzverweis für die Innenstadt, so dass sich viele nicht trauten, an der Demonstration am nächsten Vormittag teilzunehmen.

Ein anderes subtiles Mittel der Abschreckung von der Teilnahme an Demonstrationen ist die zunehmende vollständige Videoüberwachung jeder Versammlung unter freiem Himmel. Das Bundesverfassungsgericht hat es als unzulässig bezeichnet, den "staatsfreien Charakter" von Versammlungen durch "exzessive Observationen und Reglementierungen" zu verändern. Es stellte fest, dass auch die optische Dokumentation einer Demonstration durch Video- und Fotoaufnahmen einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 Grundgesetz darstellt. Jedoch scheint dieses Urteil keinerlei Auswirkungen auf die Praxis der Videoüberwachung zu haben. Von Dokumentationstrupps auf Autos, wie auch mittels kleiner handlicher und unauffälliger Videokameras in der Hand einzelner Polizeibeamter wird zunehmend der ganze Demonstrationszug möglichst vollständig überwacht. Aber wo kein Kläger ist, gibt es auch kein Urteil.
Bei all diesen erschreckenden Tendenzen ist es wichtig, immer wieder an die weitgehenden Verteidigungen des Meinungs- und Versammlungsrechts durch das Bundesverfassungsgericht zu erinnern. Nur indem wir uns das Recht immer neu nehmen und dafür auch rechtlich streiten, können wir es schützen.

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Elke Steven ist Soziologin und Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln.