Drei Generationen aus den sozialen Bewegungen im Interview

Denkt selbst und entscheidet Euch!

von Renate Wanie
Hintergrund
Hintergrund

Die Idee für ein Interview mit politisch Engagierten aus verschiedenen Generationen einer Familie entstand auf dem Hintergrund der Anmerkung der 23-jährigen Aktivistin Clara Tempel, die sie als Teilnehmerin an einem Aktionstraining vor dem Atomwaffenstandort in Büchel machte: „Mir ist der Widerstand sozusagen in die Wiege gelegt!“ Erfreut über diese Aussage und zugleich neugierig geworden, dachte ich an eine generationenübergreifende Befragung in verschiedenen Familien, z.B. zu möglichen Unterschieden im Engagement, den Einflüssen und den Aktionsformen. Nachfolgend interviewe ich politisch aktive Frauen aus drei Generationen der Familie Tempel: Helga Tempel, Katja Tempel und Clara Tempel. Sie engagieren sich in unterschiedlicher Weise in der Friedens-, Umwelt und Anti-Atombewegung.

Friedensforum (FF): Helga Tempel, Du gehörst zusammen mit Konrad Tempel zu der Generation, die bereits in den 1950er Jahren auf die Straße ging, um gegen die Atombewaffnung der Bundesrepublik zu demonstrieren. Ihr seid zwei der InitiatorInnen der ersten Ostermärsche. Welchen Einfluss haben diese ersten Erfahrungen in den Bewegungen auf die folgenden Jahrzehnte Deines Engagements genommen? Wo lag Dein friedenspolitischer Schwerpunkt?

Helga: Durch mein Engagement wurde ich sensibilisiert für die verschiedensten Missstände und Gefährdungen und erkannte, dass es unendlich viel zu tun gibt im politischen Bereich. Ich traf durch meine Mitwirkung an verschiedenen Aktionen und Vorhaben der Friedensbewegung auf Menschen, die dachten und handelten wie ich (und natürlich Konrad Tempel). Das machte mir Hoffnung und gab mir Vertrauen. Der Austausch mit ihnen, auch auf internationaler Ebene, verstärkte meine Motivation und erweiterte den Bereich meiner Aktivitäten. Einerseits gab es den Widerstand gegen die atomare Bedrohung und die Militarisierung allgemein, andererseits die Verbreitung der Überzeugung, dass es andere, gewaltfreie Wege für kollektive Auseinandersetzungen gebe. Die Gründung der Weltfriedensbrigade setzte diese Vision praktisch um.

FF: Katja und Clara, ihr seid zeitweise gemeinsam aktiv, aber auch in verschiedenen Bewegungen. Welche Zusammenhänge sind dies? Welche Themen und Ziele stehen aktuell im Zentrum Eures Engagements?
Katja: Wir arbeiten seit drei Jahren zusammen in der Prozesskampagne "Wider§pruch - Vom Atomwaffenlager bis in den Gerichtssaal". Nach einem gemeinsam mit sieben anderen MitstreiterInnen organisierten Go-In auf die Startbahn des Fliegerhorstes in Büchel haben wir diese Kampagne gegründet, um uns gegenseitig in der Auseinandersetzung mit den Gerichten zu stärken und langfristig bis zum Verfassungsgericht die Völkerrechtswidrigkeit der Atomwaffen überprüfen, bzw. den Zivilen Ungehorsam als legitimes Mittel anerkennen zu lassen.

Clara: Mein politisches Zuhause ist JunepA, das Jugendnetzwerk für politische Aktionen. Neben meiner Arbeit bei „Wider§pruch“ beschäftige ich mich gerade viel mit dem Thema Klimagerechtigkeit. Dazu gehört zum Beispiel die niedrigschwellige Aktion Zivilen Ungehorsams gegen Braunkohle „Kohle erSetzen!“, die wir in diesem Jahr zum dritten Mal organisieren werden. Mir geht es vor allem um (Selbst-)Ermächtigung: Es ist ein großartiges Gefühl, sich vor Gericht selbst zu verteidigen oder andere junge Menschen an Zivilen Ungehorsam heranzuführen. Das ist im Moment die widerständigste aller Handlungen für mich.

Grundhaltungen
FF: Was sind die politischen und ethischen Grundhaltungen für euer Engagement, worin unterscheiden sie sich eventuell?

Katja: Für mich ist am wichtigsten, dass es unantastbare Menschenrechte gibt, die jedem zustehen und die es gilt zu verteidigen - auch wenn es bei der Skandalisierung von Unrechtsstrukturen zu Auseinandersetzungen mit staatlichen Instanzen kommt.
Ich bin dabei geprägt von Menschen wie Thoreau, King, Gandhi, aber auch den Brüdern Berrigan und Joan Baez. Tief beeindruckt hat mich John LaForge, der uns alle fragte: What do you wage for Peace? Sind wir auch bereit, unser Leben für den Frieden (oder andere existenzielle Ziele) zu geben oder zumindest Risiken einzugehen?

Ich fühle mich verantwortlich, aufzustehen und zumindest für den Tag der Aktion Zivilen Ungehorsams das laufende Unrecht zu unterbrechen.

Helga: Am Ende des 2. Weltkriegs, als Deutschland vom Faschismus befreit wurde, war ich 13 Jahre alt. Das Motto „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ wurde bestimmend für mein politisches Bewusstsein. Die Begegnung mit den Quäkern und deren mutigen Zeugnissen brachten mich dazu, selbst aktiv zu werden, wie etwa für Kriegsdienstverweigerung und Antimilitarismus. Eintreten für demokratische Teilhabe und gleiche Rechte für alle Menschen und eine klare Absage an Gewalt bestimmten mein Handeln als Bürgerin, aber auch als Lehrerin und später als Mutter.

Ich bin der Überzeugung, dass Menschen willens sind und lernen können, Konflikte konstruktiv, also gewaltfrei auszutragen. Das Demokratieverständnis von Henry Thoreau, die Ethik der Bergpredigt sowie eine tiefere  Beschäftigung mit Gandhi wurden unsere Maßstäbe.

Clara: Meine politische und ethische Grundhaltung ist vor allem einfach ein Gefühl – darüber, wo etwas schief läuft, wo etwas ungerecht ist und wie wir dagegen vorgehen können. Oft auch viel Wut oder Traurigkeit. Inhaltlich ist es mir sehr wichtig, dass wir verschiedene Themen miteinander verbinden und auch die Lösungen dafür zusammendenken.

Ziele
FF: Auf welche politischen Entscheidungen möchtet Ihr jeweils Einfluss nehmen? Worin unterscheidet sich möglicherweise das, was Du Katja, und das was Du, Clara, aktuell erreichen möchtest?
Clara: Ich arbeite vor allem mit Utopien, die mich in Bewegung halten, weniger mit konkreten politischen Entscheidungen, auf die ich hoffe. Vielleicht vernachlässige ich diesen Aspekt auch zu sehr, aber mir ist es wichtiger, was sich im Menschen bewegt, welche Schritte wir gemeinsam gehen, wie wir von unten eine Zukunft aufbauen können, die den Rahmen für ein gutes Leben für alle schafft.

Katja: Ich bin nicht interessiert, direkt meine Arbeit so auszurichten, dass politische Entscheidungen damit verändert werden. Es ist ein Nebeneffekt meiner Arbeit, aber nicht das Hauptziel. Mein vorrangiges Ziel ist es, Unrecht für einen kleinen oder längeren Zeitraum zu stören. Nicht tatenlos zuzusehen. Und gleichzeitig durch die Vorbereitung und die Durchführung einer Aktion immer wieder Lernorte für widerständiges Handeln zu öffnen. Menschen zu ermutigen, Zivilen Ungehorsam zu leisten. Wenn dann auch politische Entscheidungen beeinflusst werden - super!

FF: Helga, was war in Deinem jahrzehntelangen friedenspolitischen Engagement das politische Ziel? Für was hast Du Dich eingesetzt? Was wolltest Du verändern?
Helga: In den frühen Jahren war ich überzeugt, dass nachdenkliche Menschen nach den Erfahrungen des Krieges zu einem klaren NEIN zu Militär und Krieg kommen müssten. Ich hoffte darauf, über massenhafte Kriegsdienstverweigerung künftige Kriege unterbinden zu können. Mehr und mehr erkannte ich, dass dies ein beschwerlicher Weg sein würde, der langen Atem und entschlossenes Handeln von uns verlangen würde. Mehr und mehr vertraute ich auf politische Veränderungen in kleinen Schritten und versuchte auch durch eigenes Beispiel Menschen davon zu überzeugen.

Vorbilder in der Familie
FF: Ich lese immer wieder von Vorbildern in der Familie für das eigene politische Engagement. Welche Rolle hat für Euch, Katja und Clara, das Engagement von Euren Eltern bzw. Großeltern gespielt? Habt Ihr zuhause oft diskutiert, möglicherweise kontrovers? Welche Unterschiede oder auch Übereinstimmungen gab es?

Katja: Ich kann mich an keine Kontroversen erinnern. Für mich war wichtig, dass zu einem verantwortungsvollen Leben immer auch der Einsatz für ein lebenswertes Leben, heute würde mensch sagen „für ein gutes Leben“, dazugehört. Dort, wo dies bedroht ist, müssen wir aktiv werden. Wenn wir wegsehen oder schweigen machen wir uns mitschuldig.

Mittlerweile habe ich gut gelernt, ein Gleichgewicht in meinem Leben zu finden, zwischen Aktion, gelassene aber beobachtende Duldung von Unrecht  und Lockerlassen. Das hilft mir sehr, nicht in eine Burn-out-Situation zu kommen.
Clara: Mein Zuhause hat die größte Rolle gespielt. Natürlich habe ich die Hoffnung, dass tief in mir ein widerständiger Kern steckt, der auch erweckt worden wäre, wenn ich in einem anderen Kontext aufgewachsen wäre. Aber der Kontext, in dem ich nun mal aufgewachsen bin, hat die besten Wachstumsbedingungen für diesen widerständigen Kern geschaffen:

Das Wendland, Erzählungen von Aktionsplanungen am Abendbrottisch, das Tippen von Pressemitteilungen im Ohr, wenn ich mal wieder nicht einschlafen konnte, die Bilder von meinen Eltern im Fernsehen, wenn ich in der Castorzeit zu meiner Oma verfrachtet wurde, die Aktionen von der Lebenslaute, zu denen ich mit meiner Mutter gefahren bin, meine Großeltern, von denen immer so viel Resonanz darauf kam, was wir gemacht haben: All das hat ihn genährt und wachsen lassen.

Aber nicht nur diese Konfrontation mit den inhaltlichen Seiten des Widerstands. Auch die Freiheit, in der ich aufwachsen durfte, die Selbstbestimmtheit meiner Kindheit und Jugend, das Vertrauen, das meine Eltern mir entgegengebracht haben… - das hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Kontroversen gab‘s da eigentlich relativ wenig – ist doch auch mal schön!

FF: Hast Du, Helga, besonders das politische Bewusstsein und Engagement deiner Kinder befördert und unterstützt?

Helga: Wir waren sehr vorsichtig, unsere Kinder auf eine bestimmte Haltung hin zu beeinflussen. „Denkt selbst und entscheidet Euch“ – darauf kam es uns an und darin versuchten wir sie zu unterstützen. Dennoch – wenn beide Eltern sich übereinstimmend orientieren und gemeinsam handeln, bleibt das nicht ohne Einfluss. Dass dieser auch zu einer deutlichen Absetzbewegung führen kann, hat unser Sohn gezeigt. Jenseits von Politik richtet er sich beruflich auf eine vertiefte Menschlichkeit, auf Achtsamkeit und liebevollen Umgang – auf Frieden nach innen also.

Aktionsformen
FF: In den sozialen Bewegungen gibt es ein großes Spektrum von Aktionsformen. Helga, Du und Konrad, ihr habt mehrere Bewegungen und z.B. die Organisation ForumZFD mit gegründet. Sind diese Aktivitäten auch für Euch, Clara und Katja, relevant?

Clara: Relevant insofern, als dass ich all diese Aktivitäten sehr wichtig und bereichernd für das Spektrum der Aktionsformen finde. Ich fände es falsch, anzunehmen, dass gesellschaftlicher Wandel nur mit bürgerlichem Protest oder nur mit radikalen, illegalen Aktionen angestoßen werden kann. Es braucht eine Vielzahl von Aktionsformen – auch, damit möglichst viele Menschen Anknüpfungspunkte haben und sich angesprochen fühlen.

Katja: Ich verstehe mich als gewaltfreie Aktivistin und bin immer wieder an mehreren Kämpfen beteiligt. Im Moment ist es nach langen Jahren im Anti-Atom-Widerstand vor allen Dingen der Anti-Militarismus. In Büchel auf den Fliegerhorst Büchel oder bei Aktionen gegen das Gefechtsübungszentrum Altmark oder Rhein-Metall in Unterlüß. Ein großes Projekt ist auch die Erstellung einer Dokumentation über 33 Jahre Lebenslaute. Zudem bereite ich gerade mit anderen ein neues Go-In auf die Startbahn in Büchel vor. Der Zivile Friedensdienst kommt gerade näher an mich heran, weil ich gerne mehrere Jahre in diesem Bereich im Ausland arbeiten möchte.

FF: Welche Aktions- oder Beteiligungsformen bevorzugt Deine Generation, Clara? Mit welchem Ziel? Und welche Rolle spielen die sozialen Medien?

Clara: Ich spreche nicht gerne für „meine Generation“. Diese Generation ist (wie wahrscheinlich jede andere Generation) wahnsinnig divers und bunt und ich will nicht die Stimme dieser Generation sein. Ich und die Menschen, mit denen ich viel unterwegs bin, bevorzugen die Aktionsform des Zivilen Ungehorsams. Das ist für uns ein kraftvoller Weg „Nein“ zu sagen – eben nicht nur an PolitikerInnen zu appellieren, sondern sich selbst zu ermächtigen und aktiv in den Prozess des Unrechts einzugreifen.
Soziale Medien spielen eine immer größere Rolle, aber ich sehe das auch sehr kritisch. Mittlerweile haben wir festgestellt, dass wir für eine gute Pressearbeit in der Aktion ein Smartphone brauchen und das widerspricht eigentlich meinen persönlichen Grundsätzen. Aber da muss man eben abwägen – und live aus einer Aktion twittern zu können ist schon eine großartige Sache.

FF: Und zum Schluss die Frage: Gibt es ein Beispiel für eine Aktion, an der ihr alle drei gemeinsam teilgenommen habt? Was war eure wichtigste Erfahrung dabei?

Helga: Ich erinnere, dass Clara bereits als Kind bei einer nächtlichen Sitzblockade gegen die Atomtransporte im Rahmen von X-tausendmal quer im Wendland teilnahm, an der Konrad und ich ebenso wie Claras Eltern beteiligt waren. Es war bewegend für uns zu wissen: Da vorn sitzt unsere Enkelin, neben uns unsere Tochter und der Vater im Lautsprecherwagen.

Solche Gemeinsamkeit bei Widerstandsaktionen wiederholte sich jedoch nicht, denn der Altersunterschied von 64 Jahren zwischen Clara und mir ist zu groß. Als sie begann, sich eigenständig einzubringen, zog ich mich grad wegen abnehmender körperlicher Kräfte zurück. Die Zahl der gemeinsamen Aktionen mit Katja dagegen ist naturgemäß ungleich größer.

Katja: Zu dritt haben wir wohl tatsächlich nur die Blockade in Gorleben gemacht. Aber mit Helga und Konrad fing mein politisches Engagement an: Fasten für den Frieden und Blockade des Atomwaffenstützpunktes in Kellinghusen. Später dann gemeinsame Aktion in Brunssum, in Mutlangen, vor der Rhein-Main Airbase während des Irakkriegs. Mit Clara bin ich regelmäßig gemeinsam in der Aktion oder in der Orga-Gruppe: Bei Go-Ins, Kohle erSetzen, auf dem GÜZ in der Prozesskampagne Wider§pruch oder anderswo.

Clara: Ich glaube, in diesem Kontext ist es wichtig, das Gemeinsame genau so wertzuschätzen wie die Selbstständigkeit. Es ist großartig, dass ich meiner Familie so verbunden sein kann in meinem Widerstand. Und gleichzeitig ist es aber auch wichtig, dass ich mein eigenes Ding mache, eigene Erfahrungen mache, die sich vielleicht auch von dem abgrenzen, was meine Eltern und Großeltern für Erfahrungen gemacht haben. Umso schöner ist es dann, wieder irgendwie zusammenzukommen – am Abendbrottisch oder auf der Straße.

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