Kleine Renaissance des Anti-Atom-Protests

Der 7. Castorkonvoi nach Gorleben

von Wolfgang Ehmke
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Die Grünen laden ein zur Jubelfeier nach Stade und ihr Bundesumweltminister Jürgen Trittin wird den Einstieg in den Ausstieg zelebrieren. Wozu gehen dann im Wendland die Menschen noch auf die Straße und stellen sich quer, wenn der Castor kommt? Ist das neue nach-nukleare Zeitalter an den vielen Quersteller/innen vorbeigegangen?

In vielen Zeitungskommentaren wird das Demo-Geschehen der zweiten Novemberwoche entsprechend kommentiert: aus Quersteller/innen werden "Querköpfe und Querulanten". Wenig - die Abschaltung des AKW Stade - sei mehr als nichts und irgendwo müsse der Atommüll doch hin.

Unsere Sicht der Dinge ist eine ganz andere. Der Betrieb des AKW Stade wird allein aus ökonomischen Erwägungen stillgelegt. Der Weiterbetrieb des 600 Megawatt-Kraftwerks rechnet sich nicht. Die Atomstromkontingente des Reaktors, die laut Vertrag zwischen Bundesregierung und Stromwirtschaft vom Juni 2000 noch erzeugt werden können, werden übertragen auf die benachbarten AKW`s Brunsbüttel und Brokdorf und verlängern deren Laufzeit. Kein Gramm Atommüll wird "eingespart".

Die letzten Atommeiler in Norddeutschland würden vertragsgemäß zwischen 2020 (Brokdorf) und 2023 (Emsland) vom Netz gehen. Das Atomkraftwerk Obrigheim wird so kurzfristig vor Ablauf der zweiten Legislaturperiode von Rot-Grün vom Netz gehen, dass zu befürchten ist, es könnte nach einem Wahldebakel für die jetzige Regierungskoalition wieder flott gemacht werden. Möglich ist dies, weil laut "Atomkonsens" Stromkontingente komfortabel nicht nur von veralteten Reaktoren auf "jüngere" übertragbar sind, sondern auch umgekehrt.

Der Protest im Wendland richtet sich im Kern gegen dieses Geschacher, gegen einen Atomausstieg, der auf dem Papier stattfindet und gegen ein Renouveau der Atomkraft, für das CDU/CSU und FDP sich stark machen. Und es geht um das Endlagerprojekt vor Ort im Salzstock Gorleben. Auf der Baustelle unter Tage, wo das Endlagerbergwerk entsteht, herrscht Baustopp, doch wie lange noch? Erhöht nicht jeder Castorbehälter, der in Gorleben oberirdisch abgestellt wird, den Druck, den Salzstock als Atommülldeponie zu nutzen?

Die Überraschung war allenthalben groß: Fast 6000 Menschen folgten dem Aufruf der Bürgerinitiativen und Bürgerrechtsvereinigungen und versammelten sich am 8. November auf einem Acker in der Nähe des Castorverladekrans in Dannenberg zum Protest. Bis dort führt der Weg der Behälter auf der Schiene und dort muss die tonnenschwere Last von der Schiene auf Tieflader gehievt werden. Die letzten 18 Kilometer ins Elbdorf führen bekanntlich über die Straße.

Die Polizei und der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann hatten im Vorfeld des Transports dem Widerstand attestiert, die Luft sei raus. Gemeint war vielleicht, dass sie mit "150" Gewaltbereiten rechneten. Nun mussten sie auf der Bilanzpressekonferenz die kleine Renaissance der Bewegung einräumen, auch wenn die Polizisten ("wir haben sehr genau gezählt"; Elbe-Jeetzel-Zeitung 13.11.03) wie immer weitaus weniger Demonstranten entdeckten, nämlich 3.500 und 190 Traktoren.

Der 7. Castortransport nach Gorleben, wo sich nun 44 Behälter auf 420 Stellplätzen in der oberirdischen Halle unweit der Endlagerbaustelle aufgestellt sind, wurde als lokales Ereignis eingestuft und verdient dieses zweifelhafte Prädikat aus verschiedenen Gründen nicht. 18.485 Beamte von Polizei und BGS, davon allein 12.500 zwischen Lüneburg, Dannenberg und Gorleben, waren eingesetzt. Mit 25 Millionen Euro schlug dieser Polizeieinsatz zu Buche. Das Letztere mag manchen Steuerzahler erregen, wir sagen nur: die Atommüllabfuhr ins Wendland hat seinen Preis. Warum nur holt sich das Land Niedersachsen das Geld nicht von den Abfallverursachern bzw. der Gesellschaft für Nuklearservice, für deren Belange tagelang Grundrechte außer Kraft gesetzt werden und Sonderzonen eingerichtet werden, die an das Sperrgebiet in der ehemaligen DDR erinnern? Die große Zahl der eingesetzten Beamten bezeugt hingegen den langen Atem des Widerstands seit der Standortbenennung am 22.2.1977 - allen Versuchen von Politikern und Polizei zum Trotz, das Ende des Protest herbeizureden. Der Einsatz jener 18.485 Uniformierten dokumentiert allerdings, dass sich die Bundespolitiker/innen von diesem Konflikt verabschiedet haben und ihn einer verhängnisvollen Verpolizeilichung zugeführt haben.

Routiniert, aber nicht ritualisiert gingen die Castorgegner/innen vor und brachten ihr Anliegen recht (medien-) wirksam vor. Die politische Stoßrichtung war vorgegeben durch die Besetzung des Endlagerschachts Anfang September. Im Rahmen einer Betriebsbesichtigung hatten 12 Aktivisten der BI Umweltschutz unter Tage erklärt, sie würden in 800 Metern Tiefe so lange ausharren, bis der Bundesumweltminister Jürgen Trittin und der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), Wolfram König endlich regierungsoffiziell die Gründe benennen, die gegen den Salzstock Gorleben als Nukleardeponie sprechen. Hintergrund ist, dass in der bereits erwähnten Vereinbarung vom Juni 2000 von dessen "Eignungshöffigkeit" die Rede ist. Eignungshöffigkeit ist längst zum politischen Kampfbegriff mutiert. Seit 1983 die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, die Vorläuferin des BfS, nach Auswertung der Tiefbohrungen im Raum Gorleben vorsichtig von diesem Standort abrückte und Alternativen empfahl, wurde der Behörde ein Maulkorb verpasst. Das wurde erst zwei Jahre später presseöffentlich (FR 25.7.85). "Eignungshöffig" blieb der Salzstock unter den CDU-Bundesumweltministern Töpfer und Merkel mangels Alternative auch Anfang bis Mitte der 90er Jahre, als es beim Abteufen der Förderschächte unaufhörlich zu Laugenzuflüssen kam.

Dieses politische Schlagwort, das bar bzw. quer zu jedem geologischen Sachverstands sinnfällig zum Ausdruck bringt, dass immer noch gehofft wird, dem Widerstand gehe eines Tages die Puste aus, lebt gerade neu auf. Nach dem Regierungswechsel in Hannover engagiert sich der niedersächsische Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) dafür, Gorleben zu Ende "zu erkunden".

Die Stromkonzerne weigern sich bislang, nur einen müden Cent für die weitere Endlagersuche herauszurücken. Laut Atomgesetz ( 21, Absatz 4) müssen die Abfallverursacher die "notwendigen Kosten" anteilig tragen, aber notwendig sei es nicht, Alternativen zu Gorleben in Augenschein zu nehmen, wenn Gorleben eignungshöffig sei, so die Konzernsprecher.

Die Passage zu Gorleben im Text der Vereinbarung liest sich widersprüchlich. Er trägt deutlich die Handschrift des industriefreundlichen Bundeskanzlers und markiert eine Niederlage der Grünen. Der Atomausstieg dürfe nichts kosten, die weitere Endlagersuche die pekuniären Interessen der Atomindustrie nicht tangieren. Das ist die Linie jener angeblichen Ausstiegsvereinbarung, deren Kernsätze wir ganz anders in Erinnerung haben: der "störungsfreie Betrieb" der Atomkraftwerke und die nukleare Entsorgung wird garantiert.

Tatsächlich wird bis zum Jahr 2040 ab dem Jahr 2000 gerechnet noch einmal das Dreifache allein an hochradioaktiven Abfällen anfallen, so die Prognose des Arbeitskreises Endlagerung (AK End), den Jürgen Trittin im Februar 1999 damit beauftragte, "ein Verfahren und Kriterien für die Suche und Auswahl eines bestmöglichen Standortes zur sicheren Endlagerung aller Arten radioaktiver Abfälle in Deutschland zu entwickeln".

So steht die Auseinandersetzung um die ungelöste und unlösbare Atommüllentsorgung im Mittelpunkt der sachlichen und politischen Auseinandersetzung. Nach der BI-Aktion Anfang September stiegen erst die Aktivisten von Greenpeace und dann noch Kletterer von Robin Wood den Endlagerbauern auf die Schachttürme. Ohne Zweifel an der Eignung Gorlebens hätte es kein Moratorium auf der Baustelle gegeben, das weiß jeder. Ein Salzstock, der Grundwasserkontakt hat, scheidet im Prinzip als Atommülldeponie aus. Der AK End hatte seinen Schlussbericht im Dezember 2002 vorgelegt. Zumindest ein vergleichendes Verfahren sollte es geben, weitere Standorte müssten ober- und dann auch untertägig erkundet werden. Die Kosten für die ersten Schritte eines solchen Suchverfahrens, das geologische und soziologische Abwägungsprozesse vereinigen sollte, gab Trittin in Pressegesprächen mit 500 Millionen Euro an - ein Klacks gegenüber den 1,4 Milliarden Euro, die bisher allein in Gorleben schon verbuddelt wurden. Die Kosten für ein solches Suchverfahren müssen allein von den Abfallverursachern getragen werden, so unsere Forderung. Das Geld ist da. Die Konzerne haben nach Berechnungen des renommierten Wuppertal-Instituts über 30 Milliarden Euro für den Rückbau der Atomkraftwerke und die nukleare Entsorgung an Rückstellungen gehortet. Diese Kriegskasse der Konzerne verzerrt im übrigen das Wettbewerbsgefüge auf dem Energiemarkt und gehört in einen öffentlich-rechtlichen Fonds überführt.

Aber dem Grünen-Politiker Jürgen Trittin sind die Hände gebunden, und folglich produziert er Papiervorschläge und Luftnummern wie den AK End-Prozess. Das ganze Prozedere wäre aus unserer Sicht nur dann glaubwürdig, wenn die Atommüllproduktion gestoppt und wirklich von einer "weißen Landkarte" ausgegangen würde: Gorleben und der Schacht Konrad müssen gestrichen werden. Mit dem Fasslager für schwach- und mittelaktive Abfälle, der Castor-Halle und der betriebsbereiten Pilot-Konditionierungsanlage in nur 500 Metern Luftlinie zur Endlagerbaustelle sind in Gorleben unverändert alle Anlagenteile konzentriert, die dem uralten Konzept eines "nuklearen Entsorgungszentrums" entsprechen. Und das motiviert die Menschen, sich weiter querzustellen und sich für den schnellen Atomausstieg zu engagieren.

Der Castor soll sein Ziel "sicher" und "störungsfrei" erreichen - so die Devise der Polizei. Die Protestierenden wollen den Castor stoppen, überwiegend mit gewaltfreien Sitzblockaden, um als Treibsatz in der festgefahrenen Atommüll- und Energiepolitik zu wirken. Die Bezirksregierung Lüneburg überregelt die Anmeldebehörden des Landkreises Lüchow-Dannenberg und untersagt per Allgemeinverfügung alle Kundgebungen und Demonstrationen von dem Zeitpunkt an, wo der Castor rollt, und zwar auf der Schiene und Straße gleichermaßen einschließlich eines "Sicherheitsstreifens" jeweils 50 Meter links und rechts von den möglichen Streckenverläufen. Faktisch brach für zwei Tage jeder Berufsverkehr und auch Privatverkehr auf allen Straßen im einem Raum von über 25 Quadratkilometern zusammen, denn es gab als Folge von "Verkehrskontrollen" keine Chance, zu Fuß, mit dem Rad oder dem PKW östlich von Dannenberg auf der "Nordroute" oder der "Südroute" zu verkehren. Jede Kundgebung, die diese Demarkationslinie überschreiten würde, war verboten. Das Verwaltungsgericht Lüneburg attestierte gar einen "polizeilichen Notstand" (VG Lüneburg, Aktenzeichen 3 B 84/03). Im Nachhinein lobt der Einsatzleiter Friedrich Niehörster und spricht der Protest-Szene Komplimente aus: "Sie hat fairen Widerstand geleistet" (Landeszeitung Lüneburg, 13.11.03). Dafür wurden über 1000 Menschen im Dorf Grippel gekesselt, das Gemeindehaus der evangelischen Kirche in Quickborn nach (!) Durchfahrt des Castorkonvois gestürmt, die Tür ein- und der Pastor geschlagen, ein Kulturmarathon ("72 Stunden gegen den Castor") deutlich abseits des Verbotskorridors im Dorf Laase gekesselt. Die Polizei zählte 8 Leichtverletzte und die Demonstranten 85, zum Teil Schwerverletzte. Das Demo-Verbot ist letztlich unwirksam, weil es trotz der polizeilichen Übermacht immer wieder möglich ist, dass Menschen sich auf der Transportstrecke niederlassen. Das ist eine "Ordnungswidrigkeit" wie Falschparken. Ein Falschparker muss jedoch nicht davon ausgehen, dass er maltraitiert wird: seine körperliche Unversehrtheit wird in der Regel nicht tangiert. Ganz anders, quasi "gesetzlos", verlaufen die Castornächte im Wendland und die juristische Nachbereitung wird wieder Monate wenn nicht Jahre in Anspruch nehmen.

Wir erfahren in der Sache die Solidarität der Umweltverbände und kämpfen mit ihnen für den Atomausstieg und für die massive Förderung der regenerativen Energien. Der Lobbyismus der rot-grünen Bundesregierung ist offenbar: Just in der "fünften Jahreszeit" im Wendland, wenn alljährlich alles noch einmal uniformolivgrün wird, spricht sich Bundeskanzler Gerhard Schröder für die weitere Förderung des Steinkohlebergbaus in Deutschland aus. Auch wenn die Fördermenge sukzessiv von 26 Millionen bis 2012 16 Millionen Tonnen heruntergefahren wird, so summieren sich die vereinbarten Subventionen in diesem Zeitraum auf 15,8 Milliarden Euro (FR, 12.11.03). Wo bleibt eine vergleichbare Subventionierung der Solarenergie bis zur Wettbewerbsreife?

In der Auseinandersetzung um die Demonstrationsverbote werden die Bürgerinitiativen vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, dem Republikanischen Anwaltsverein (RAV) und der Humanistischen Union (HU) unterstützt. Wir stellen betroffen fest: das reicht nicht aus, denn der Rechtsstaat verabschiedet sich, sobald der Castorkonvoi im Wendland eintrifft. Dann herrscht das polizeiliche Faustrecht. Die Sonderrechtszone, wo die Demokratie endet und rechtsstaatliche Prinzipien buchstäblich mit Füßen getreten wurden, ist überhaupt nicht hinnehmbar. Hilfreich wären neutrale Beobachter/innen, Anwält/innen und wachsame Journalist/innen, die das Demo-Geschehen begleiten.

Die Zivilcourage und die positive Stimmung der Demonstranten, die deutliche Verjüngung der Protestszene und deren klares Verhalten sind eine große Ermutigung. Der Gorleben-Konflikt war nie bloß regional, wenn auch seine Stärke die regionale Verankerung ist. Gorleben ist ein Paradigma für Versäumnisse der Politik und Bürgerprotest. Spöttische und zynische Kommentare eines Bundesumweltministers Jürgen Trittin, der insgesamt friedliche Verlauf des Protests zeige, dass der Atomkompromiss seine Wirkung entfalte und zur Entschärfung des Gorleben-Konflikts beigetragen habe, werden wir in der nächsten Castor-Runde beantworten.

Allerdings auf unsere eigene und weise Art: wir werden nicht gewalttätiger, sondern gewaltiger.

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Wolfgang Ehmke ist Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. www.bi-luechow-dannenberg.de buero@bi-luechow-dannenberg.de.