Buchbesprechung: Daniel Mullis

Der Aufstieg der Rechten und die Regression der Mitte

von Renate Wanie
Schwerpunkt
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„Dieses Buch ist als Ergebnis meiner Bemühungen zu verstehen, was in der Mitte der Gesellschaft passiert ist, dass die Rechte derart erstarken konnte“, so Daniel Mullis, Humangeograph und Historiker am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt/M. Mullis ist überzeugt, dass nur „das Wissen um die Verfasstheit der Gegenwart und die immanenten Krisendynamiken“ dabei helfen könne, „sich als Gesellschaft und individuell der Regression und dem damit einhergehenden Erstarken der Rechten zu widersetzen“.

Der Autor setzt sich mit dem Aufstieg der AfD auseinander und dem Rechtsruck in der politischen Mitte Deutschlands. Im Rahmen seines Forschungsprojektes führte Mullis fünfzig wissenschaftliche Interviews in Stadtteilen von Frankfurt/M und Leipzig; ausschlaggebend für die Auswahl war, dass die AfD dort erfolgreich ist.

Gesellschaftliche Krisenentwicklung
Schnell habe sich in der Diskussion über den Aufstieg der AfD eine Frontenstellung etabliert: „Die einen betonten eher kulturelle Faktoren wie die Ablehnung von kosmopolitischen, pluralistischen und postmaterialistischen Lebensentwürfen.“ Andere wiederum nannten die grundlegende Skepsis gegenüber Zuwanderung, die ökonomische Prekarisierung und Abstiegserfahrungen. „Die Linke habe die Arbeiterschicht im Stich gelassen und würde diese nicht mehr repräsentieren, weshalb die entstandene Lücke von Rechts besetzt worden sei“, laute die wiederholt vorgetragene Analyse. Qualitative Studien würden indes zeigen, dass die Unterscheidung zwischen kulturellen und ökonomischen Positionen nicht zielführend sei. Sie stünden in Wechselwirkung zueinander. Dabei werde deutlich, es gebe nicht den einen Faktor.

Mullis nimmt Bezug auf den Rechtsextremismusforscher Matthias Quent, der von der Forcierung eines emotionalisierten Kulturkampfes von Rechts („Reaktion der kulturell Verbitterten“) spricht. Dabei sei nicht gemeint, dass soziale und politische Faktoren keine Rolle spielen, „sondern dass die Rechten soziale und politische Faktoren umdeuten, um sie, von Fakten entleert, emotional zu bewirtschaften mit dem Ziel, demokratische Errungenschaften einzureißen und die Geschichte zurückzudrehen, um Nationalismus und autoritäre Ansprüche zurückzugewinnen“.

In drei Fallstudien beleuchtet Mullis spezifische Aspekte der „Regression der Mitte“. Zunächst betrachtet er die Proteste und Krisen der vergangenen fünfzehn Jahre sowie das damit verbundene Protestgeschehen. Die multiplen Krisenerfahrungen (z.B. in der Finanz- und Eurokrise, die Zuwanderung 2015/16, in der Coronapandemie oder jüngst im Kontext von Krieg und Klimakrise) seien nicht unmittelbar Auslöser der politischen Verschiebungen. Sie dienten in erster Linie als Katalysatoren. Zentral seien nicht die Ereignisse an sich, „sondern die Art und Weise, wie sie politisch bearbeitet werden“.

Protestgeschehen als Seismograph
Auf diesem Hintergrund betrachtet Mullis das Erstarken der AfD. Umfragen zeigen, dass diese Partei nicht zuletzt aus Protest gegen die anderen Parteien gewählt wird. Er verweist darauf, dass Menschen nicht einfach zurückzugewinnen seien, indem ihr Unbehagen angesprochen wird. Ihr Widerspruch sei grundlegender Art, da sie sich gegen die Eliten und sogenannte „Altparteien“ richte. Mullis interpretiert das Protestgeschehen als Seismograph für den Zustand der Gesellschaft. Protest aber sei nie nur Reaktion, sondern bestimme mit, wie Situationen gedeutet werden. Ein Beispiel: Die rechten Proteste gegen Flüchtlinge 2015/16 hätten dazu beigetragen, dass das rassistische Framing der „Überfremdung“ mehrheitsfähig wurde und Regierungen Migrationskontrolle prominent auf ihre Agenda setzten. „Der Fokus auf Proteste mache deutlich, dass rechte Erzählungen und Gefühle an Gewicht gewinnen, angefacht von der AfD und, seit diese in der Opposition sind, auch von den Unionsparteien.“ Zu beobachten sei ein voranschreitender Protest der Entzivilisierung. (Nachtwey 2017)  

Dreh- und Angelpunkt des Buchs ist jedoch die empirische Arbeit in Teil II. Es sind die Ergebnisse in Frankfurt/M sowie Leipzig. Mullis berichtet, was seine Gesprächspartner*innen vor Ort als krisenhaft beschreiben, welche rassistischen Ressentiments vorhanden sind, wie die Menschen ihre politische Handlungsmacht einschätzen und welche Glückserwartungen und Normalitätsvorstellungen vorherrschen. Aber auch, was die relevanten Brüche und Veränderungen waren, die von ihnen als schwere Zeit bezeichnet werden. Dazu gehören die Erfahrungen der Pandemie, der aktuelle Krieg Russlands in der Ukraine und die damit einhergehende Inflation. 

Doch auch progressive Bewegungen konnten Erfolge verbuchen. Nach Einschätzung von Mullis „war es z.B. der Gesellschaft nach dem Anschlag von Hanau möglich, Rassismus und Rechtsradikalismus unmissverständlich als die zentralen Gefahren für die Demokratie anzuerkennen“. Auch den Aktivismus fürs Klima schätzt er „erfolgreich ein, als ein Thema, das lange Zeit in den Schubladen der Verwaltung zu verstauben drohte und sich auf die Tagesordnung setzte“. Kein Gehör habe allerdings der mannigfache Protest gefunden, der auf die wachsende soziale Ungleichheit sowie den Mangel an politischer Partizipation hinwies.

Normalisierung einer regressiven Stimmung
Die Art und Weise, wie die progressiven Bewegungen politisch konfrontiert und medial angegangen wurden, habe deutlich gezeigt: „Sie werden vornehmlich als Störung empfunden. Und ihre Forderungen in der Tendenz als irrational und überzogen bewertet.“ Rechtsaußen sei nicht nur ein Krisensymptom, sondern auch ein krisentreibender Faktor.

Pegida und andere rassistische Initiativen, die auf die Straßen gingen oder sich an Coronaprotesten beteiligten, erlebten ihre Auftritte jedoch anders. Ihre Belange galten als legitime Sorgen von „besorgten Bürger*innen“, die politisch ernstzunehmen seien. Hinzu kommt, dass manche lokale Politiker*innen an den Protesten selbst teilnahmen. Mullis spricht von einer sukzessiven Normalisierung dieser regressiven Stimmung. So bereiteten innerhalb der Unionsparteien politische „Schwergewichte“ wiederholt den Boden für rechte Narrative, wenn sie gegen Geflüchtete oder Klimaaktivist*innen wetterten.

Für die These einer Regression der Mitte sprechen der Kulturkampf, wie z.B. „das Schüren migrationsfeindlicher Ressentiments, der Vorwurf der Cancel Culture“ oder auch „laute Kritik an der Gendersprache“. Mullis macht deutlich, dass nicht allein die radikale Rechte sich zunehmend der Mittel des Kulturkampfes bedient, sondern auch die Rhetorik der Unionsparteien sowie die FDP mit variierenden Nuancen: „Sie bedienten sich der Methoden von Rechtsaußen und beschritten damit den Pfad der regressiven Identitätspolitik“ und höhlen damit demokratische Normen aus.  

Im letzten Abschnitt seines Buches schreibt Daniel Mullis zu den Herausforderungen: „Vielleicht ist es heute an der Zeit, die diskursive Mitte grundlegend neu zu verorten und an die Lebensverhältnisse einer postmigrantischen und pluralistischen Gesellschaft anzupassen.“ Dafür gilt es massenhaft in sozialen Bewegungen auf die Straße zu gehen, denn eine „Politik, die echte Politik sein will, setzt eigene Themen (…) und versucht Gesellschaft zu gestalten. Sie wirbt und kämpft für eigene Anliegen - auch wenn sie unpopulär und unrealistisch erscheinen mögen.“ Es geht um soziale Gerechtigkeit, Pluralität sowie kollektive Erfahrungen und Solidarität.

Dieses Buch sollte unbedingt gelesen werden, mit seinen in die Tiefe gehenden Analysen ist es impulsgebend auch für das Engagement in sozialen Bewegungen.

Mullis, Daniel (2024): Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte. Stuttgart, Philipp Reclam jun. Verlag, 2024, 336 S., ISBN 978-3-15-011469-8, 22,- €

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