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Demonstrationsbeobachtung während des Transportes von hochradioaktivem Müll in das Zwischenlager in Ahaus am 19. und 20. März 1998
Der Castor rollt mit autoritär-rechtsstaatlicher Hilfe über demokratische Grundrechte
von
Die sechs Castor-Behälter mit hochradioaktivem Müll aus Neckarwestheim und Gundremmingen sind am Freitag, den 20.3.1998, abends im Zwischenlager in Ahaus eingelagert worden. In einer Überrumpelungsaktion ist der Transport vom angekündigten Mittwoch, den 25. März 1998, auf Freitag, den 20. März, vorgezogen worden. Dahinter stand der Wunsch der "Obrigkeit", die Atomkraftgegner auszutricksen, den Widerstand auszuschalten und den Protest zu umgehen. Das Demonstrationsrecht ist jedoch kein Gnadenakt der herrschenden Repräsentanten. Es ist ein zentrales demokratisches Recht. Die Öffentlichkeit in die Irre zu führen, um die Wahrnehmung des Demonstrationsrechts für eine Vielzahl von BürgerInnen praktisch auszuschalten, ist folgerichtig antidemokratisch.
Tausende von Demonstrierenden sind trotzdem nach Ahaus gekommen. Sie organisierten ihren Protest unter diesen schlechten, Kommunikation und Organisation verhindernden Bedingungen. Sie machten deutlich, daß sich der Widerstand durch regierungsamtliche Tricks nicht einfach unterbinden läßt. Deutlich wurde, wie selbstverständlich der gewaltlose, aber konsequente Protest in der Antiatombewegung verankert ist. Seit der Ankündigung des Transportes von Castor-Behältern aus Süddeutschland nach Ahaus hat die Bürgerinitiative in Ahaus breiten Rückhalt in der münsterländischen Bevölkerung gefunden. Die Skepsis eines großen Teils der Bevölkerung gegenüber "Chaoten", die in das ruhige Städtchen einfallen könnten, ist weithin der Empörung über das Auftreten der Polizei gewichen.
Die offizielle politische Strategie und das Polizeikonzept zeigen ein undemokratisches Verständnis von Bürgerprotest und einen entsprechenden Umgang mit demselben. Hinter einer äußerst brüchigen und dünnen Fassade, die den Anschein erweckt, als würden die etablierten politischen Instanzen die Grundrechte, allen voran das demokratische Urrecht auf Demonstration, wahren, verbergen sich patriarchalisch-undemokratische Repressionen. Demokratie läßt sich jedoch nicht auf eine schöne und freundliche Fassade für die Medien reduzieren. Die Polizei war darauf vorbereitet, jeden Protest ohne Schonung der Bürgerrechte zu beseitigen.
Wie bereits in den letzten drei Jahren hat das Komitee für Grundrechte und Demokratie auch diesmal die Proteste beobachtet, die den Transport von hochradioaktivem Müll in ein Zwischenlager in der Bundesrepublik Deutschland begleiteten. Trotz der Desinformationspolitik und der Vorverlegung des Transports waren ab Donnerstag, den 19. März 1998, zunächst vier, ab dem frühen Freitag morgen sechzehn Beobachter und Beobachterinnen in Ahaus anwesend, um das Geschehen sorgfältig zu protokollieren und zu dokumentieren.
1. Die Landesregierung, der Innenminister und ein Gutteil der Medien erzeugt zu propagandistischen
Zwecken falsche Bilder von "gewaltbereiten" Demonstranten. Einerseits kritisierte die
Landesregierung NRW die Castor-Transporte nach Ahaus und bezeichnete sie als "Provokation" und
"überflüssig". Gleichzeitig warnten Innenminister Kniola und Verfassungsschutz vor den erwarteten
"2000 gewaltbereiten Autonomen". Die Bevölkerung sollte so darauf eingestimmt werden, die
Protestierenden zu disqualifizieren. Die Polizei wurde auf Härte und "konsequentes" Vorgehen
vorbereitet. Nach dem Transport ist in vielen Medien berichtet worden, die PolizeibeamtInnen
hätten sich erstaunt über die Gewaltfreiheit der Demonstrierenden in Ahaus geäußert. Bereits in
einer Podiumsdiskussion zum bevorstehenden Castortransport nach Gorleben im Jahr 1997
beklagte ein Polizeibeamter, daß sie vor dem Transport 1996 innerhalb der Polizei nur auf
Gewalttäter vorbereitet worden seien. Im Wendland seien ihnen jedoch vor allem freundliche, das
Gespräch suchende, Kaffee und Plätzchen schenkende Bürger und Bürgerinnen begegnet. Dieses Gewaltbild
dient der Bereitschaft von PolizeibeamtInnen zuzuschlagen. Es erzeugt unnötig Aggressionen,
Angst und Abwehr.
2. Eine Politik des Scheindialogs. Polizei und Landesregierung haben im Vorfeld Gespräche mit
verschiedenen Gruppen und Initiativen geführt, um sich über die Einschätzungen und
Demonstrationserfahrungen derjenigen zu informieren, die Proteste organisieren. Angeblich
sollte eine Demokratie und Grundrechte wahrende Form des Umgangs mit dem Protest gefunden werden.
Diese Gespräche mußten jedoch von den Beteiligten schon kurz vor dem Transport als substanzlose
Öffentlichkeitsarbeit empfunden werden. Wenn man bedenkt, daß auch ein verantwortlicher
Polizeipräsident gemäß dem hier angewandten hohlen Demokratieverständnis übergangen werden konnte,
so verwundert dieses Public-Relation-Verfahren nicht.
3. Die willkürliche Handhabung von grundrechtswidrigen Allgemeinverfügungen. Schon
früh wurde ein Demonstrationsverbot erlassen. Zeitlich und räumlich weit ausgedehnt wurden
Demonstrationen verboten. Schon sechs Tage vor dem (vorgesehenen) Transporttermin, 24 Stunden
über den Transportabschluß hinaus und entlang einer 12 km langen Transportstrecke waren
unangemeldete Demonstrationen verboten. Auf den Bahngleisen waren alle Versammlungen verboten.
Die Verbotskriterien waren so formuliert, daß offensichtlich der Wille bestand, auch jede
angemeldete Demonstration willkürlich verbieten zu können. Grundrechtswidrig wurde somit das Recht
auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung eingeschränkt.
4. Schikanöser Umgang mit Bürgern und Bürgerinnen. Die Demonstrierenden hatten schon frühzeitig
mehrere Wiesen gepachtet oder von Bauern zur Verfügung gestellt bekommen. Auf diesen sollten
Camps eingerichtet werden. Hier sollten die Demonstrierenden übernachten können. Hier wollten
sie ihre Verpflegung wie die Kommunikation untereinander organisieren. Auch diese Camps auf
Privatgelände sollten, selbst wenn sie außerhalb der Versammlungsverbotszone lagen, angemeldet und
nur nach Genehmigungen eingerichtet werden dürfen. Kurz vor dem Transport waren die Entscheidungen
jedoch teilweise noch nicht einmal gefallen. Das Nordcamp lag beispielsweise außerhalb der
Demonstrationsverbotszone und war vom Ordnungsamt genehmigt worden. Donnerstag spätnachmittag wurde
es verboten. Die Bewohner, die bereits Zelte und vor allem die Küche für die Demonstrierenden
aufgebaut hatten, wurden aufgefordert, das Camp innerhalb von einer halben Stunde zu räumen. Die
Versorgungsstrukturen mußten auf einem anderen Platz im Dunkeln neu aufgebaut werden. Der neue
Platz lag näher an den Schienen als der alte. Nicht wesentlich anders erging es dem Südcamp, das
ebenfalls außerhalb der Demonstrationsverbotszone lag und trotzdem Donnerstag nachmittag verboten
wurde.
5. Polizeigewaltige Abschreckungspolitik bürger-normalen Protests. Nicht genehmigte
Demonstrationen und Proteste und gewaltfreie Aktionen zivilen Ungehorsams wurden von der
Polizei von vorneherein als Störungen wahrgenommen, gegen die mit aller Konsequenz
vorzugehen sei. Deutlich gemacht wurde ein rücksichtsloses Vorgehen gegen alle diejenigen,
die ihr Demonstrationsrecht wahrnehmen wollten. Diejenigen, die versuchten, auf die Gleise zu
gelangen, oder dort eine Sitzblockade machten, wurden in Gewahrsam genommen oder - später - mit
polizeilicher Gewalt unter Mißachtung der Verhältnismäßigkeit von den Gleisen vertrieben.
6. Die neu-alten Geheimnisse vor- und nachdemokratischen Herrschens. Geheimhaltung ist
eines der wesentlichen Kennzeichen der Planung dieses Transportes. Nicht nur der Termin des
Transportes, auch die Orte der Gefangenensammelstellen sollten geheim bleiben.
Kontakte zu den Gefangenen durften nur von Verwandten aufgenommen werden. Zumindest in einer
Gefangenensammelstelle durften keine Telefongespräche mit dem Ermittlungsausschuß, der
die Einschaltung von Rechtsanwälten ermöglicht hätte, geführt werden. Explizit wurde nur ein
Telefongespräche mit Verwandten erlaubt.
7. Vorsätzlich-amtliche Verletzung von Grundrechten. Der Umgang mit den Gefangenen entsprach nicht den
notwendigen grundrechtlichen Bedingungen. Diejenigen, die beispielsweise am frühen Freitag
morgen in Ahaus in Gewahrsam genommen worden waren, saßen über Stunden gefesselt im Bus.
Stunden mußten sie auf die Personalienfeststellung in Rheine warten. Die Zellen waren mit keinerlei
Mobiliar ausgestattet. In Zellen von ca. 17 qm mit einem Fenster von ca. 30 x 30 cm waren ca. 20
Personen eingesperrt. Obwohl sie die Sitzblockade auf den Schienen vor 8.00 Uhr begonnen hatten und
von dort in Gewahrsam genommen worden waren, bekamen sie erst gegen 22.00 Uhr Getränke und erst
ab 23.00 Uhr Essen. Einige bekamen in diesen kahlen Zellen erst ab 3.00 Uhr Decken oder
Isomatten. Obwohl der Grund der Ingewahrsamnahme, der Protest gegen den Castor-Transport, sich um
20.30 Uhr erledigt hatte, wurden die Gefangenen nicht vor 6.00 Uhr entlassen. Viele erlangten erst
im Laufe des Vormittags ihre Freiheit.
8. Behinderungen freien Verkehrs überall. Eine freie Bewegung war weiträumig nicht möglich. Straßen
wurden je nach polizeilichem Bedarf völlig gesperrt, die Zufahrt nach Ahaus war für
BürgerInnen zeitweise kaum oder gar nicht möglich. Busse wurden über Stunden aufgehalten. Die
DemonstrationsbeobachterInnen wurden während laufender polizeilicher Aktionen mehrfach nicht
durchgelassen und konnten die Orte nur auf Umwegen erreichen. An mindestens zwei Stellen wurde auch
eine Landtagsabgeordnete an polizeilichen Kontrollstellen nicht durchgelassen.
9. Rabiate Polizeigewalt. Demonstrationen und Proteste wurden immer wieder mit körperlicher
Gewalt gegen die Demonstrierenden durch die Polizei verhindert. Während der Blockierung der
Gleise im Süden von Ahaus wurde mit aggressiven Polizeigriffen die Räumung durchgesetzt (Kopf und
Gliedmaße verdrehen, Griffe in Augen und Nasen). Während einer Blockade von Gefangenenbussen wurde
mit Tritten und Schlägen in Gesicht und auf Genitalien gegen die Demonstrierenden vorgegangen.
Im Verlauf der Proteste sind auch Schlagstöcke und Wasserwerfer eingesetzt worden.
10. Trotz aller staatsgewaltigen Herausforderung triumphierte die bürgerliche Gewaltfreiheit. Auf
Seiten der Demonstrierenden war trotz dieser vielfältigen Beiträge zur Eskalation seitens
Politik und Polizei vor allem die tiefverankerte Gewaltfreiheit zu konstatieren. Freitag nachmittag
wurden die Schienen südlich von Ahaus besetzt. Viele angereiste Demonstrierende, vor allem aber
auch viele Ahauser setzten sich auf die Schiene und blieben dort sitzen, als die Polizei anrückte.
Deutlich wurde, daß die Bürger und Bürgerinnen ihre Erklärung ernst meinten, den Transport durch
eine Sitzblockade aufhalten zu wollen. Wenn auch - wie bei den Protesten in Gorleben - die
hilfreichen, erklärenden und motivierenden - aber auch beruhigenden - Kommentare durch
Megaphonanlagen der Bürgerinitiativen fehlten - viele, die dies hätten leisten können, waren in
Gewahrsahm genommen - war dies eine um so eindrucksvollere Demonstration des gewaltlosen
Protestes und massenhaften zivilen Ungehorsams.
11. Protestkultur gestärkt. Entgegen diesem polizeilichen Konzept der Verhinderung von
Demonstrationen, zeigten die BürgerInnen ihre Bereitschaft zum gewaltfreien Protest, der sich
nicht durch willkürliche polizeiliche Maßnahmen aufhalten läßt. Im Münsterland ist innerhalb eines
knappen Jahres seit der Ankündigung der Transporte von hochradioaktivem Müll aus den Kernkraftwerken
in Süddeutschland eine Protestbewegung entstanden, die allmählich ihren Rückhalt in der
Bevölkerung findet hat. Das polizeiliche Vorgehen, das auf eine Mischung von Deeskalation und
tatsächlicher Gewalt gegen den Protest aus der Bevölkerung setzte, hat den Protest gestärkt.