Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 in der Literatur

von Jörg Lehmann

Als der französische Kaiser Napoleon III. am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg erklärte, sollte niemand ahnen, welche tiefgreifenden Folgen für die französische Gesellschaft dieser Krieg haben sollte. Sechs Wochen später war das Second Empire vor Sedan geschlagen, der Kaiser gefangengenommen. Am 4. September wurde die Republik ausgerufen und Napoleon III. abgesetzt.

Mit dem Systemwechsel hätte der Krieg beendet werden können, aber die „Regierung der nationalen Verteidigung“ unter der Führung von Léon Gambetta entschloss sich zu einer „levée en masse“. Paris wurde daraufhin von den Preußen belagert, mit bald absehbarem Ende – am 18. Januar 1871 ließ sich Wilhelm I. im Spiegelsaal von Schloss Versailles zum Deutschen Kaiser proklamieren. Damit wurde das Deutsche Kaiserreich offiziell gegründet. Am 30. Januar 1871 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet, am 10. Mai ein Friedensvertrag zwischen der Französischen Republik und dem Deutschen Reich geschlossen (Friede von Frankfurt). Die Provinzen Elsaß-Lothringen mussten abgetreten und eine hohe Reparation bezahlt werden. Inzwischen war in Paris die Kommune ausgerufen worden. Der revolutionäre Pariser Stadtrat stellte eine Herausforderung für und ein Gegenmodell zur Zentralregierung dar. Diese entschloss sich, den Aufstand in der „semaine sanglante“ vom 21.-28. Mai 1871 niederzuschlagen; dabei wurden mindestens 20.000 Personen getötet.

Während sich das neugebildete Deutsche Reich in seinem Ruhm sonnte und Weltmachtpläne entwarf, musste sich die französische Gesellschaft neu sortieren. Für einen derart klaren Sieger wie die Preußen und ihre Verbündeten war es leicht, von diesem Krieg zu erzählen: Hier konnten ungebrochene Heldengeschichten dargeboten werden, die von einer Vision kollektiver Macht gekrönt wurden. Anders sieht es dagegen für die Verlierer von Kriegen aus – welches Erzählmuster bietet sich denn auch an, wenn das Ergebnis für jeden politisch denkenden Menschen zutiefst beunruhigend ist? Den Franzosen war nicht nur ein wenig geliebter Kaiser verlustig gegangen, sondern auch die darauf folgende Republik war durch die Niederlage und die Unterzeichnung des demütigenden Friedensvertrages diskreditiert – ganz zu schweigen von der Auseinandersetzung um die Pariser Kommune, die die Gesellschaft wie ein Bürgerkrieg zerklüftete. Die fundamentale Irritation, die durch den Sturz des Kaiserreiches, die Belagerung von Paris und die Pariser Kommune ausgelöst wurden, sollte die französische Gesellschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein beschäftigen. Der erhöhte Sinnstiftungsbedarf wurde von den Leitmedien der damaligen Zeit bedient. Die journalistische Presse und die Literatur bemühten sich um eine Deutung des nationalen Desasters, und so verwundert es nicht, dass fast jede/r renommierte Literat/in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch ein Buch zu 1870/71 vorgelegt hat, wie etwa Victor Hugo, George Sand, Alphonse Daudet, Guy de Maupassant oder Émile Zola.

Die große Masse der direkt nach 1871 in Frankreich publizierten Bücher aber stellten die Revanche-Literatur und die Produkte des katholisch-monarchistischen Lagers dar. Das entsprach auch den tatsächlichen politischen Kräfteverhältnissen; nach der Niederlage war ursprünglich die Einführung einer konstitutionellen Monarchie vorgesehen gewesen, und die konservativen Kräfte hatten bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1871 eine deutliche Mehrheit erhalten. Die revanchistischen Texte beschrieben die Preußen stereotyp als Barbaren oder neuzeitliche Vandalen und warfen ihnen Gräueltaten wie Brandstiftung, Plünderung und Verheerungen vor. Vor diesem negativen Hintergrund konnten sich die Verfasser von zumeist autobiographischen Werken positiv abheben, ihr eigenes militärisches Versagen kaschieren und die französische Bevölkerung als Vertreter einer Kulturnation bzw. von ritterlichem Kampfethos, von Gerechtigkeit und Moral profilieren. Das „barbarische“ Vorgehen der Preußen habe, so legen diese Texte nahe, keinen fair geführten Krieg ermöglicht, und daher sei eine Revanche nötig. Ganz anders dagegen lautete das Narrativ der Katholiken und Monarchisten – sie interpretierten die Niederlage von 1870/71 als „Châtiment“, also als Bestrafung für die Dekadenz und Sündenhaftigkeit der Kaiserzeit, und bekräftigten Werte wie Gottesfürchtigkeit, Demut und Opferbereitschaft.

Die wichtigste Publikation des literarischen Höhenkammes dagegen stammt von Victor Hugo; in seiner Gedichtsammlung L'Année terrible relativiert er die französische Niederlage, indem er seinen Glauben an die transhistorischen Werte Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft usf. unterstreicht. Seine Sinndeutung greift auf die antike Vorstellung vom Rad des Schicksals zurück, das mit jeder Drehung die Positionen von Oben und Unten vertauscht; so gelingt es ihm, den preußischen Sieg als Zwischenstation in der Geschichte abzuwerten und gleichsam drohend eine weitere Drehung des Rades anzukündigen.

Bis 1880 hatte sich die Dritte Französische Republik stabilisiert – wesentlich aufgrund der Zerstrittenheit des monarchistischen Lagers war es zu keiner monarchischen Staatsform gekommen –, und eine Reihe von Verfassungsgesetzen war angenommen worden. 1880 amnestierte das Parlament die ehemaligen Kommunarden, so dass diese aus dem Exil oder der Verbannung zurückkehren bzw. in Frankreich publizieren konnten. 1881 wurde dann ein Gesetz zur Pressefreiheit verabschiedet, das klare Vorgaben für die Zensur festschrieb. Diese veränderten politischen Rahmenbedingungen waren sicherlich auch mitentscheidend für die dann einsetzenden literarischen Entwicklungen. So publizierte Émile Zola 1880 mit dem Novellenband Soirées de Médan nicht nur das Gründungsmanifest des Naturalismus, sondern auch erstmals einen antimilitaristischen Sammelband, der viel Beachtung erhalten sollte. Die Novellen traten gewissermaßen einen Schritt zurück, strichen die Sinnentleerung des Krieges und des Militarismus heraus und prangerten den Nationalismus und die Doppelmoral der zeitgenössischen Gesellschaft ironisch an. Guy de Maupassant steuerte die Novelle Boule de suif („Fettklößchen“) zu diesem Sammelband bei – übrigens eines der wenigen heute noch lesenswerten Werke dieser Zeit – und begründete mit ihr seinen Ruhm als Autor von sozialkritischen Kurzgeschichten.

Ganz offensichtlich hat die Unfähigkeit der militärischen Führung im Krieg von 1870/71 die Akzeptanz für Militarismuskritik in der Bevölkerung erhöht. Nach den Soirées de Medan wurden noch einige antimilitaristische Werke publiziert – etwa Camille Lemonniers Les Charniers („Die Massengräber“), Lucien Descaves Les Sous-Offs („Die Unteroffiziere“) oder Georges Dariens Bas les cœurs! („Nieder mit den Herzen!“). Dennoch wurden diese Bücher wenig beachtet; keines von ihnen hat eine Vision von einer friedlichen Gesellschaft anzubieten, die ihre Konflikte ohne Gewalt austrägt.

So überrascht nicht, dass das wichtigste Buch zum deutsch-französischen Krieg nicht wirklich kriegskritisch ist. 1892, zwanzig Jahre nach den Ereignissen, erschien Émile Zolas La Débâcle. Das Buch bildet den 19. Teil des Zyklus Les Rougon-Macquart, mit dem Zola ein sozialkritisches Monumentalbild des untergegangenen Kaiserreiches schuf. Dieser Roman gilt als der erste und zugleich bedeutendste realistische Kriegsroman des 19. Jahrhunderts. Als Ursache für die Niederlage wird hier die Degeneration Frankreichs beschrieben, indem die unfähige Verwaltung, der korrupte Generalstab und der Bürgerkrieg thematisiert werden. Zola versinnbildlicht den innergesellschaftlichen Konflikt zwischen zukunftsfähigen und degenerierten Gesellschaftsteilen an seinen beiden Protagonisten; der Tod einer der beiden Hauptfiguren macht den Weg frei für einen Neuanfang, aus dem Frankreichs Zukunft erwachsen soll. Zolas Roman zeichnet sich aber auch durch seinen Anspruch auf eine wissenschaftlich fundierte Erzählung aus. Niemals zuvor war so umfangreich für einen Kriegsroman recherchiert und eine wissenschaftliche Theorie – der Darwinismus – als biologistisches Erklärungsmodell für das „Debakel“ angeboten worden. Der für diese Zeit überwältigende Erfolg des Buches (über 500.000 verkaufte Exemplare) ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass das Glücksversprechen des Romans – eine Regeneration der französischen Gesellschaft – für die Leserschaft gewinnbringender zu konsumieren war als der neurotische Revanchismus der Massenliteratur. Für den heutigen Geschmack allerdings ist Zolas Sozialdarwinismus schlecht verdaulich. Dennoch stellt der Roman einen wichtigen Meilenstein auf Zolas Weg zum Intellektuellen dar, dessen Einfluss 1898 in der Dreyfous-Affäre deutlich wurde.

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Jörg Lehmann hat über Kriegsliteratur in der Weimarer Republik promoviert und danach als Webkonzepter und Online-Redakteur gearbeitet – u.a. für die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. Derzeit schreibt er eine wissenschaftliche Studie über die literarische Verarbeitung der französischen Niederlage von 1870/71 und den Aufstieg der Intellektuellen. Er hat dazu einen Blog mit kurzen Textausschnitten eingerichtet (allesamt französisch): http://guerre1870-71.tumblr.com/