Gewaltfreier Kampf für die Agrarreform. Nur gewaltlos ist Gerechtigkeit erreichbar

Der gewaltlose Kampf der brasilianischen Landlosen

von Wolfgang Hees
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Die brasilianische Landlosenbewegung "Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST)", die noch zu Zeiten der brasilianischen Militärdiktatur Ende der siebziger Jahre entstand, verfolgt drei Ziele: Landbesitz für die landlosen Bauern, eine umfassende Agrarreform und eine gerechtere Gesellschaft. Das MST legt großen Wert darauf, keine geltenden Gesetze zu verletzen und die Inhalte der Verfassung zu erfüllen. Unter diesem Aspekt betreibt es Aktionen wie die Landbesetzungen, die an sich illegal sein mögen, aber dazu dienen, die Gesetze zu erfüllen, die die Durchführung einer Agrarreform vorschreiben. Da die Regierung von sich aus nicht aktiv wird, sieht das MST diese Vorgehensweise als legitim an, auch wenn dadurch der "Schutz des Privatbesitzes" durchbrochen wird.

Die Verfassung sieht diese Möglichkeit im Rahmen eines sozialen Interesses, das bei der Agrarreform gegeben ist, ja auch durchaus vor. Dabei hat sich das MST grundsätzlich der Gewaltlosigkeit verschrieben, denn es ist eine Überzeugung der Bewegung, daß Unterdrückung und strukturelle Gewalt nur gewaltlos überwunden werden können. Überdies mußten die Landlosen schon in früheren Kämpfen die Erfahrung machen, daß in bewaffneten Auseinandersetzungen alle Verlierer sind und insbesondere die schlecht bewaffneten Bauern mit ihren Frauen und Kindern immer die größten Opfer tragen mußten. Aufgrund der ungleichen Bodenbesitzverteilung in Brasilien hat der Kampf um Land in Brasilien eine blutige Tradition:

- in der Kolonialzeit wehrten sich die indigenen
  Völker und entlaufene Sklaven in ihren Quilombo
  genannten Wehrdörfer. Das Massaker bei der
  Zerstörung des großen Quilombos von Palmares 1694
  steht stellvertretend für die Gewalt der
  Sklavenhaltergesellschaft;

- mit dem Ende der Sklaverei 1888 wurde die
  Leibeigenschaft durch eine ökonomische
  Abhängigkeit ersetzt: das Land war den
  Großgrundbesitzern vorbehalten und die "befreiten"
  Sklaven gerieten in völlige ökonomische
  Abhängigkeit von ihnen. Wo sie sich
  zusammenschlossen und auf brachliegendem Land
  eigene unabhängige Gemeinschaften bildeten, wurden
  sie von der Allianz der Grundbesitzer mit dem
  Militär vernichtet. Beispielhaft dafür steht
  Canudos, wo 1897 eine Gemeinschaft von über 20.000
  Menschen nach fünf militärischen Expeditionen
  vernichtet wurde;

- in der dreißiger Jahren verteidigten in vielen
  Regionen Brasiliens Kleinbauern ohne
  Bodenbesitztitel auch mit Waffengewalt ihre
  Äcker;

- ab 1950 organisierten sich die Kleinbauern und
  Landarbeiter als Klasse mit politischem Anspruch.
  Bekannt wurden die Bauerligen im Nordosten, die
  Union der Kleinbauern und Landarbeiter Brasilien
  (ULTAB) und die Bewegung der Landlosen Bauern
  (Master). Über ihren politischen Einfluß trieben
  sie die Agrarreformbewegung voran, bis 1964 das
  Militär mit Hilfe des Großgrundbesitzes putschte.
  Die Bauernführer wurden inhaftiert, gefoltert und
  getötet. Nur wenige gelangten ins Exil.

Wirtschaftskrise, Metallarbeiterstreik und die Arbeit der kirchlichen Landpastoral ermöglichten es den Landlosen, sich im Schutz der Kirche ab 1979 unter dem Slogan "Land für den, der es bearbeitet" neu zu organisieren. Die Agrarkonflikte waren durch viele Morde an Landlosen und ihren Führern sowie progressiven Kirchenvertretern durch gedungene Revolvermänner (pistoleiros) gekennzeichnet. Die Re-Demokratisierung (1985-1988) stand für die Landlosen unter dem Motto "Ohne Agrarreform keine Demokratie" und der Erkenntnis "Landbesetzung ist die einzige Chance".

Große Landbesetzungen und die Besetzung staatlicher Behörden wurden mit massiver Öffentlichkeitsarbeit gekoppelt, Hungerstreik als Methode eingesetzt. Dem ersten nationalen Kongress der Landlosen im Januar 1985, der als Gründungsdatum des MST als nationale Bewegung gilt, folgte die Gegengründung der UDR "Demokratische Union der Agrarier", als Sammelbecken der militanten konservativen Großgrundbesitzer. Diese Union der Feinde der Agrarreform setzte auf politisches Lobbying und parallel auf die Gründung verschiedener paramilitärischer Privatarmeen, die häufig mit dem Militär kooperierten.

In den Jahren ab der neuen Verfassung 1988 und den demokratisch gewählten Präsidenten weitete sich die Landlosenbewegung aus. Zum Leitsatz der Bewegung wurde "Besetzen, Widerstehen, Produzieren". Neben der Besetzung unproduktiven Großgrundbesitzes in allen Teilen Brasiliens wurde der politische Einfluß durch Märsche, Behördenbesetzung und Großkundgebungen wie dem Grito da Terra verstärkt. Mit diesem "Schrei des Landes" gelingt es dem MST auch, nachdem es landesweit eigene Strukturen aufgebaut hat, mit neuem Selbstbewußtsein aus seiner relativen Isolierung herauszukommen und die Allianz mit progressiven Teilen der Kirche, den Gewerkschaften und linken politischen Parteien neu aufzubauen. Ab 1995 ändert sich dementsprechend auch ihr Motto: "Agrarreform: ein Kampf von allen - Besetzen, Widerstehen, Produzieren".

Unter der Amtszeit von Präsident Cardoso wird die Bewegung zur wichtigsten Opposition gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, die gerade in der Landwirtschaft zu einer großen Krise führt. Die Regierung hält die einseitige Förderung der großen Exportlandwirtschaft für notwendig, um die Währung durch diese Deviseneinnahmen zu stabilisieren. Diese Agrarpolitik hat während der bisher vierjährigen Amtszeit aber dazu geführt, daß 400.000 kleine und mittlere landwirtschaftliche Familienbetriebe aufgeben mußten und die Zahl der Arbeitslosen - auch in Brasilien derzeit das größte Problem - erhöhten. Die Anstrengungen für eine Agrarreform sind hingegen minimal: Cardoso hatte im Wahlkampf 1994 angekündigt jährlich 40.000 landlose Familien anzusiedeln, doch wurde diese Zahl bereits im März 1995 auf 16.500 Familien "korrigiert". Statistiken über die tatsächliche Ansiedlung sind unbekannt oder umstritten. Auf jeden Fall mußten unter Cardoso weit mehr Bauern ihr Land verlassen, als angesiedelt wurden.

Seit das MST im April 1996 einen Sternmarsch der Landlosen aus allen Landesteilen nach Brasilia organisierte und dort über 100.000 Menschen gegen die neoliberale Politik Cardosos einmarschieren ließ, ist die Bewegung zum Hauptfeind des Präsidenten geworden. Dabei ist die öffentliche Meinung auf der Seite der Landlosen: 68% befürworteten den Marsch auf Brasilia, 79% der Bevölkerung unterstützen den gewaltfreien Kampf des MST (weitere 6% würde sogar einen gewaltsamen Kampf unterstützen), die Agrarreforum wird von 83% befürwortet und 76% beurteilen die Regierungspolitik für die Agrarreform als zu langsam und unsensibel. (Forschungsinstitut Intersciense, veröffentlicht in der Zeitung Globo 25.2.97).

Auch für das MST wurde der Staatsapparat mittlerweile zum größten Gegner: insbesondere die politische Unterdrückung durch die Polizei und die Gerichte machen der Bewegung zu schaffen. Präventive Inhaftierung, der Vorwurf des Aufbaues krimineller Vereinigungen und der Anstachelung gegen die Staatsgewalt, absurde Vorwürfe des Drogenhandels, der Guerillabildung usw., die Nichtbeachtung des habeas corpo grundlos festgenommener Führer der Bewegung gehören heute zu den üblichen Praktiken gegen die Bewegung. Über den Geheimdienst P2 infiltriert sich der Staat zunehmend in die Bewegung und versucht ansonsten, Teile der Bewegung durch Bestechung zu korrumpieren. Im Fall des Massakers an Landlosen von Corumbiaria mußte die Polizei vor Gericht zugeben, daß diese Infiltration nicht der "Verbrechensbekämpfung" dient, sondern auch zur Radikalisierung des Konfliktes beiträgt. Diese Praktiken und die Verhaftung von angeblichen Rädelsführern des MST wird landesweit auch von angesehenen Institutionen wie der Vereinigung der Rechtsanwälte oder der Brasilianischen Bischofskonferenz als Rückfall in Praktiken der Militärdiktatur kritisiert. Darüber hinaus kennzeichnen die Massaker von Eldorado (s.Kasten) und Corumbiaria die Amtszeit Cardosos als die gewalttätigste Phase seit 1980, als die Landpastoral CPT die Agrarkonflikte Brasiliens auszuwerten begann.

Aus den Erhebungen der CPT lassen sich interessante Schlüsse über die Entwicklung und Interkorrelation im brasilianischen Agrarkonflikt ziehen. Die CPT hat in ihrem Jahresbericht "Gewalt auf dem Land - Brasilien `97" interessante Statistiken der Indikatoren für die Gewalt auf dem Land, die Mobilisierung durch die Landlosenbewegung und die staatliche Agrarreformpolitik veröffentlicht.

Aus ihnen wird deutlich,

a) daß die Aktionen der Regierung für eine
   Agrarreform (d.h. die Ansiedlung von ehemals
   Landlosen) immer nur eine Reaktion auf den Druck
   der Landlosenbewegung und deren Besetzungen sind

b) die Anzahl der durch die Regierung angesiedelten
   Familien in einem direkten Bezug zur Verringerung
   der Gewalt auf dem Lande bestehen.

Das gewaltfreie Handeln des MST - Opposition und Ungehorsam mit teilweise illegalen, aber legitimen Aktionsformen - trägt somit nachhaltig zur Lösung der sozialen Konflikte auf dem Land bei, die in ihrer ganzen Dimension - angesichts von 4,9 Millionen landlosen Bauern - nur politisch gelöst werden können.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Wolfgang Hees ist Vorstandsmitglied des bundesweiten Zusammenschlusses der Brasiliensolidaritätsgruppen (Ko-Bra) und Brasilienreferent bei Caritas International.