Der gewaltsame Widerstand auf dem Platz des Himmlischen Friedens war nicht vergeblich

von Colman Mc Carthy

Der gewaltfreie Widerstand hat in China nicht funktioniert, so die konventionelle Einschätzung. Ein lobenswerter Versuch mutiger Studenten: Ihr und euer Traum von Freiheit hat die Welt ein paar Wochen lang in Atem gehalten, und vielen Dank für das aufregende Straßentheater auf dem "Platz des Himmlischen Friedens". Aber die Diktatoren mit ihren Kanonen haben gewonnen, und jetzt durchsieben Schüsse die Schädel der Dissidenten. Wenn es nach der Zahl der Toten geht, sind Chinas aufmüpfige Studenten vernichtend geschlagen.

In der Geschichte der Razzien sieht es zunächst immer so aus. Nach der Er­mordung von 69 Schwarzen in Sharpe­ville, Südafrika, im März 1960 schien die Anti-Apartheidbewegung geschla­gen. Nach dem Massaker am Blut­sonntag in Moskau während der Re­volution von 1905 blieb wenig Hoff­nung. Auch 1917, als die Truppen des Zaren die gewaltfrei demonstrieren­den Menschen auf dem Znamesnsky-Platz in Petersburg zusammenschos­sen, war es nicht anders.

1919 starben in Amritsar in Indien 10.000 unbewaffnete Demonstranten im Maschinengewehrfeuer der Eng­länder. Dies schien das Ende von Gandhis Experiment des gewaltfreien Widerstandes zu sein. 1898 ließ Lord Kitchener, einer der größten Schläch­ter des Britischen Empire in Omdur­man, Sudan, 10.000 Derwische nie­dermetzeln, als eine moslemische Re­volte niedergeschlagen werden sollte.

Keiner dieser Massenmorde hat die Leiden der Menschen, die das Aufbegehren gegen ein verhärtetes Regime ausgelöst hatten, beseitigt.

In allen Fällen waren wie in China die Aufbegehrenden sich im Klaren über die militärische Stärke der anderen Seite und ebenso darüber, daß diese immer wieder hemmungslos eingesetzt wurde, wenn sie herausgefordert wurde.

Aber sie wußten doch etwa: die Chance, Gerechtigkeit zu erreichen durch brutale Gewalt, ist wesentlich geringer als durch gewaltfreie Aktion. Wenn Gandhi Panzer und Kanonen benutzt hätte, wären die Engländer heute noch in Indien, so wie in Nord-Irland, wo es keinen Gandhi gibt.

Als die polnische Regierung die Ge­werkschaft Solidarität verbot und 1981 das Kriegsrecht verhängte, konnten sich nur wenige die weitgehenden Re­formen vorstellen, die Lech Walesa im vergangenen Frühling durchgesetzt hat.

Als die ersten Anhänger Christi ge­steinigt, erhängt oder den Löwen vor­geworfen wurden, schien die Macht Caesars so unerschütterlich wie die Hügel von Rom.

Kaum jemand hat diese Erfolge des Widerstands genauer untersucht als Gene Sharp, der Präsident des Albert-Einstein-Instituts in Cambridge und Direktor des Instituts für Gewaltfreie Aktion in Harvard. Sharp, 61, hat das Buch "Politik der Gewaltfreien Aktion" geschrieben. Ende Mai ging er nach Beijing, um die Protestbewegung zu studieren.

Er erinnert sich: "Wir kamen auf dem Tiananmen-Platz an, wenige Minuten, bevor die Schießerei losging. Wir hör­ten die ersten Panzer kommen. Sie kamen direkt auf uns zu. Wir zogen uns zurück." Die acht Tage dauernde Untersuchung - fünf Tage Interviews und Beobachtung des Protest vor dem Massaker und drei Tage danach - ließen ihn zu der Erkenntnis kommen: "Das ist nicht das Ende des Kampfes. Eine gerade zwei Monate alte Bewe­gung hätte auch unter anderen Um­ständen in China niemals Freiheit und Demokratie bringen können. Hätten die Studenten Gewalt angewendet, wäre ihr Protest viel schneller nieder­geschlagen worden, es hätte wesentlich mehr Tote gegeben, und die Folgen für die Zukunft wären wesentlich schlimmer."

Trotz des Massakers haben die Stu­denten auf verschiedene Weise zur Entwicklung der Freiheit in China bei­getragen. Sie haben eine zeitweise Lähmung der Regierung verursacht. Sie haben Konflikte innerhalb der Ar­mee ausgelöst. Sie haben die Regie­rung ins Unrecht gesetzt. Sie haben in großem Maßstab öffentliche Unter­stützung zu mobilisieren verstanden. Ihr Einfluß war zu groß geworden, deshalb hat die Regierung so brutal reagiert.

Zwar hat der Gewaltfreie Widerstand für dieses Mal verloren. Aber es ist eine unbedeutende Niederlage im Vergleich zu der Niederlage der Diktatoren, ihrer Unfähigkeit zu argu­mentieren, Kompromisse zu schließen und zu verhandeln. Wer sich auf die unmenschlichen Methoden der Gewalt zur Lösung von Konflikten verläßt, gibt immer, ohne Ausnahme, eine Einge­ständnis seiner Niederlage. Denn die Ursachen des Konflikts werden be­stenfalls momentan unterdrückt, aber nicht dauerhaft beseitigt. In "Gewalt­freier Widerstand" sagt Gandhi, Regie­rungen, die versuchen, Bürger mit Gewalt zu disziplinieren, sind wie ein Mann, der versucht, mit dem Schwert gegen das Wasser zu kämpfen. Ir­gendwann werden dem Mann die Arme lahm.

Die Exekutionen gehen weiter. Aber gleichzeitig wächst in der ganzen Welt die Unterstützung für die Studenten. Daß die Diktatoren jetzt Lügen ver­breiten - die Studenten hätten die Sol­daten zuerst angegriffen - ist ein Zei­chen ihrer Unsicherheit. Während des Aufstands hatten sie Angst vor der Freiheit. Jetzt haben sie zusätzlich Angst vor der Wahrheit. Und die hat noch niemand besiegt.

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Hintergrund
Coleman Mc Carthy ist Journalistin in den USA und schreibt für die Washington Post.