Stellvertreterkrieg

Der Kampf der Regionalmächte um die Neuordnung des Mittleren Ostens

von Werner Ruf

Wellen der Empörung machten sich breit in den westlichen Medien, als Qasim Soleimani Mitte Dezember 2016 in den Straßen von Aleppo auftauchte und seine Truppen inspizierte, die maßgeblich zur Vertreibung der pauschal „Rebellen“ genannten Milizen beigetragen hatten. Als Unterstützer Assads gilt er im Westen als Feind. Doch das ist er nicht immer und überall: Als Kommandeur der al-Quds-(Jerusalem-)Brigaden, der Spezialkräfte der iranischen Pasdaran, kämpft er seit über zwei Jahren mit Luftunterstützung der USA effizient gegen den „Islamischen Staat“ im Irak. Soleimani hat dort die berüchtigten schiitischen Milizen hashd sha’abi aufgebaut, die mit äußerster Brutalität gegen die sunnitische Bevölkerung vorgehen. Er gilt auch als verantwortlich für die Ausbildung der libanesischen Hizbollah.

Während die US-Luftwaffe die syrischen KurdInnen im Kampf gegen den IS unterstützt, bombardiert der NATO-Partner Türkei eben diese KurdInnen. Wer, wann, wo im syrischen Hexenkessel welche Miliz – die meisten agieren als terroristische Banden – mit welchen Mitteln unterstützt, ist schon lange nicht mehr durchschaubar. Der Versuch, das Interessengeflecht auch nur halbwegs zu entwirren, gleicht nicht nur der Arbeit des Sisyphos, er vermag es auch nicht in die Niederungen geheimdienstlicher Aktionen vorzudringen oder zu erhellen, warum und wann welche Gewaltakteure von welchen staatlichen und parastaatlichen Akteuren unterstützt werden, wie und warum sich solche Allianzen kurzfristig verändern oder neu aufleben. Entlang der Benennung der Interessen der wichtigsten Akteure können bestenfalls Schlaglichter auf diesen grausigen Konflikt geworfen werden, dessen Opfer die Menschen in Syrien sind und dessen Ende noch lange nicht absehbar erscheint.

1. Die USA können aus wirtschaftlichen Gründen wie nach den verlorenen Kriegen in Afghanistan und Irak nicht mehr selbst und direkt massiv militärisch in allen Konflikten der Welt intervenieren. Dies erleichtert Russland die Rückkehr auf die Weltbühne und verschafft den Regionalmächten erweiterte Handlungsspielräume. Dies heißt nicht, dass die USA auf Einflussnahme und Gestaltungswillen verzichten, aber sie tun es in verstärktem Maße mit Hilfe von wenig kontrollierbaren Stellvertretern von den Saudis bis zum Iran.

2. Russland verfügt in der Region nur noch über einen einigermaßen verlässlichen Partner: Das Regime Assad und – aber nur bedingt – den Iran. Seit sowjetischen Zeiten ist Syrien ein wichtiger Partner Moskaus, Zehntausende ExpertInnen sind in Syrien in allen Bereichen des öffentlichen Lebens präsent. Die große Zahl von Kämpfern in den Rängen der sich auf den Islam berufenden terroristischen Milizen wird von Russland auch als Bedrohung der eigenen Sicherheit wahrgenommen. Jenseits von Waffenlieferungen hat sich Russland in den ersten Jahren des Konflikts relativ zurück gehalten. Zentrales russisches Interesse ist der Erhalt der Marinebasis in Tartus, der einzigen außerhalb des russischen Territoriums. Mehr und mehr scheint Russland Grundsätze der zaristischen Politik aufzunehmen, die sich einst als Schutzmacht der großen griechisch-orthodoxen Minderheit im Nahen Osten verstand. Das säkulare Assad-Regime wird so zum Bollwerk für den Schutz der christlichen Minderheiten gegen die sunnitische Mehrheit in Syrien.  

3. Saudi-Arabien, das schon seit Jahrzehnten seinen Einfluss bis weit nach Afrika und in den Kaukasus durch den Export des salafistisch-wahabitischen Islam ausgebaut hat, und die Gesamtheit der im Golf-Kooperationsrat (GCC) zusammengeschlossenen Despotien vermochten es, die Revolten des „Arabischen Frühlings“ zu nutzen, um die säkularen Regime der Region zu stürzen oder zu schwächen: Unter ihrer Führung wurde die Arabische Liga erstmals handlungsfähig. Sie war es, die mit einer Resolution die Blaupause für jene Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats lieferte, die die Flugverbotszone über Libyen verhängte und der Koalition der Willigen einen regelrechten Krieg zum Sturz   Gaddafis ermöglichte. Doch innerhalb des GCC herrscht keineswegs Einigkeit: Saudi-Arabien nutzt seine dominante Position, um sich zum neuen Hegemon in der Region gegen den Iran aufzubauen, indem es in der gesamten islamischen Welt den reaktionären wahabitisch-salafistischen Islam fördert.

4. Demgegenüber unterstützt Qatar die von den Saudis bekämpften Muslimbrüder, die es zwar mit Hilfe des von Riad finanzierten Putsches in Ägypten von der Macht vertreiben konnte, die aber zumindest in der arabischen Welt eine Massenbewegung darstellen und in Ankara regieren. Qatar und sein Sender al jazeera unterstützen massiv die Muslimbrüder und islamistische Milizen in Syrien. Hinter dieser auf ideologischer Ebene betriebenen Auseinandersetzung geht es aber auch um konkrete geostrategische Interessen: Die Lebensader der saudischen Despotie, der Ölexport, wird von geografischen Gegebenheiten bedroht: Die Ausgänge des Roten Meeres (Suez-Kanal und Bab Mandab gegenüber dem Horn von Afrika) können von fremden Mächten leicht blockiert werden, wie auch der Iran die Straße von Hormuz im Persischen Golf durch versenkte Schiffe und Verminung leicht schließen kann. Der Krieg im Jemen dürfte also auch auf geostrategische Überlegungen zurückzuführen sein. Der Sturz des säkularen Assad-Regimes (und die Unterstützung diverser sunnitisch-islamistischer Milizen) sind Teil einer Strategie, die in einer Islamisierung der Region die Absicherung der saudischen Dominanz sieht. Seit 2009 versucht Qatar eine Gas-Pipeline nach Norden zu bauen, die über syrisches Gebiet an die großen, vom asiatischen Raum nach Europa verlaufenden Pipelines angeschlossen werden soll. Dies wurde durch iranischen Druck auf Damaskus verhindert, da Teheran seinerseits einen ähnlichen Plan verfolgt und sich die qatarische Konkurrenz vom Halse halten will.

5. Oberste Priorität der Türkei hat im Konflikt die Verhinderung einer Autonomie oder Staatlichkeit für ein kurdisches Gebilde, und sei es nur auf syrischem Territorium, denn dies hätte unmittelbare Rückwirkung auf die Forderungen der kurdischen Bevölkerung im eigenen Lande. Darüber hinaus wird immer deutlicher, dass die Nachfolgerin des Osmanischen Reiches, die sich zunehmend auf die Nationalcharta von 1920 beruft, wohl auch eine territoriale Erweiterung in Nordwest-Syrien wie möglicherweise in Mossul anstrebt, wo die türkische Armee gegen den Willen der USA und der Regierung in Bagdad am Kampf gegen den IS teilnimmt.

6. Nach außen erscheint es, als ob Israel sich in diesem Konflikt zurück halte. Jedoch hat die israelische Luftwaffe mehrfach Ziele in Syrien bombardiert und diese Angriffe – falls dazu überhaupt Erklärungen abgegeben wurden – damit begründet, dass sie Einheiten der dort kämpfenden libanesischen Hizbollah galten bzw. den Transport (iranischer?) Waffen zugunsten der Hizbollah und des syrischen Regimes verhindern sollten. Allerdings weisen viele Informationen darauf hin, dass Israel auch mit der al-nusra-Front,  dem in Syrien kämpfenden Arm von al qa’eda, zusammenarbeitet, die sich vor kurzem in Fatah al-Sham umbenannt hat und neben dem IS als radikalste Miliz im Kampf gegen Assad und das iranische Regime gilt.

7. Der Iran ist nicht nur der wichtigste Gegenspieler der heterogenen und in sich von Widersprüchen und gegenläufigen Interessen gekennzeichneten Anti-Assad-Koalition. Er ist zugleich die einzige Regionalmacht, die den saudischen Hegemonieanspruch bedroht. Diese Konstellation prägt den Konflikt zunehmend und hat zu seiner Konfessionalisierung entlang der Linie Sunniten gegen Schiiten geführt. Die sogenannte „schiitische Achse“ reicht unter Einbeziehung von Milizen der afghanischen Hazara von Iran über die irakische Regierung, Assad bis zur Hizbollah und den jemenitischen Houthi. Das Atomabkommen mit dem Iran, verhandelt von den fünf Ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats und Deutschland, hat dazu geführt, dass nicht nur die Sanktionen gegen das Land aufgehoben wurden, sondern dass Teheran wieder als normaler Staat auf die internationale Bühne zurückkehrte – eine Entwicklung, die von Israel und Saudi-Arabien massiv kritisiert und bekämpft wird.

Hinter dem Wirrwar des Wer bekämpft Wen mit Wem und Warum schält sich eine fürchterliche Perspektive heraus: Die Instrumentalisierung von Ethnizität und Konfession, in der angelsächsischen Literatur sectarianism genannt, hat im einst multikonfessionellen und multiethnischen Nahen Osten eine Dynamik in Gang gesetzt, die zur Herausbildung neuer, ethnisch bzw. konfessionell homogener politischer Gebilde führen kann. Dieser Prozess wird begleitet von Vertreibung und Flucht ganzer Bevölkerungsgruppen, ja Massenmord, - und ist im Begriff, neue Landkarten ethnisch-konfessioneller Staaten entstehen zu lassen. Die damit einhergehende Fanatisierung der sich konfessionell definierenden Gruppen. wird befördert durch die kriegsbedingte Verknappung von Ressourcen, die ihrerseits die Mechanismen von Ein- und Ausschluss auf ethnisch-konfessioneller Basis verschärfen. Diese Dynamik birgt die Gefahr, zum Selbstläufer zu werden. Dies umso mehr, als die involvierten Interessen auswärtiger Mächte Ethnizität und Konfession für ihre Interessen instrumentalisieren.

Unabdingbare Voraussetzung für die Eindämmung des nahöstlichen Flächenbrandes wären:

  • Die Beendigung jedweder ausländischer Einmischung in den Konflikt in Syrien (und Irak) gemäß Art 2. 7 der UN-Charta;
  • Ein totales und konsequentes Waffenembargo gegenüber allen Konfliktparteien einschließlich der am Konflikt beteiligten regionalen Mächte;
  • Eine Genf-IV-Verhandlungslösung, an der – im Gegensatz zu Genf I bis III – unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen alle beteiligten Mächte und Gruppen (einschließlich der Kurden!) mit Sitz und Stimme teilnehmen.

Die politische Verantwortung hierfür liegt nicht nur bei den großen Mächten, sondern vor allem auch bei den Regionalmächten, die erkennen sollten, dass die ausgelöste ethnisch-konfessionelle Dynamik letztlich auch ihre Systeme bedrohen wird.

Abschluss des Manuskripts 30.12.2016.
 

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Werner Ruf, geb. 1937, promovierte 1967 im Fach Politikwissenschaft in Freiburg i. Br. Er lehrte an den Universitäten Freiburg, New York University, Université Aix-Marseille III, Universität Essen, und war von 1982 bis 2003 Professor für internationale Beziehungen an der Universität Kassel.