Komitee Jahrbuch 2008

Der Kampf um Menschenrechte und Demokratie im Zeitalter neoliberaler Globalisierung

von Hannah Jacobs

"Die globale Transformation menschenrechtlicher Demokratie" lautet der Titel des aktuellen Jahrbuchs des Komitee für Grundrechte und Demokratie. Schon im redaktionellen Editorial werden die Schwierigkeiten umrissen, in den weltweiten rasanten Umbrüchen menschenrechtliche Orientierungen zu finden, von denen aus Menschen ihr Handeln begründen könnten. In Erinnerung an Raul Hilberg und Tadeusz Borowski sucht die Jahrbuchredaktion, Menschenrechte und Demokratie unter der Perspektive der Vernichtungslager zu bestimmen.

Zumindest zwei Konsequenzen dieses anspruchsvollen Ansatzes sollen hier kurz angedeutet werden: zum einen folgt für die Redaktion aus dieser Perspektive, sich in den eigenen Denkbewegungen nicht an den herrschend dargebotenen Rationalisierungen aller Art anzupassen, sich und anderen zukunftshoffend nichts vorzumachen, radikal allen politischen Legitimationen zu wehren, die über die heutigen Menschenopfer zukunftsgewandt hinwegmarschieren, sei es in Afghanistan, Irak oder in bundesdeutschen Lagern. Demnach sei es zweitens geboten, alle politische Praxis darauf zu orientieren, "dass alle Menschen in ihren eigenen Kontexten und sozialen Organisationen auf der Erde prinzipiell die gleichen Möglichkeiten besitzen, sich als Menschen im Zusammenhang anderer Menschen zu entwickeln" (S. 11). Dieser radikale, auf den Menschen in seiner jeweils sozialen und materiellen Bedingtheit zielende Menschenrechtsansatz versteht Menschenrechte und Demokratie als Einheit sozialer Selbstbestimmung mit ganz verschiedenen materiellen Formen und Akzenten, von denen um der konkreten Menschen willen nicht abstrahiert werden darf. Von dieser menschenrechtlichen Demokratie kann selbstredend - davon handeln die Jahrbuchaufsätze - weltweit angesichts kapitalistischer dissoziierender Durchdringung und Unterwerfung nicht die Rede sein. Diese Einheit sozialer Selbstbestimmung und Selbstbefreiung bedeutet: Menschenrechte hätten demnach radikale Demokratie zur Folge und zur Voraussetzung. Nach Ansicht der Redaktion ist die demokratische Schwundform "repräsentative Demokratie" nicht nur demokratisch ungenügend. Sie ist es ebenso menschenrechtlich.

Die Beiträge des Jahrbuchs können diesen radikalen Ansatz nur bedingt verfolgen, konzentrieren sie sich doch vor allem darauf, die diversen Demokratie aushöhlenden Schattenseiten gegenwärtiger Globalverhältnisse zu kritisieren, ohne Vorstellungen einer radikalen menschenrechtlich-demokratischen Perspektive und Praxis zu entwerfen. Die Redaktion fragt deshalb im Editorial zurecht: "Wo aber und wie lange hat es Sinn, den Herrschenden ihre eigenen, von uns anders mitgesungenen Melodien vorzuspielen, damit sie vielleicht ab und an einen richtigen Tanzschritt machen? Und wo und wann betrügen wir uns nur selber, sind darum kritisch und konstruktiv, sind nicht um der Menschenrechte und Demokratie, also um unserer selbst willen radikal, klar und eindeutig genug?" (S. 14 f.)

Einige zusammenfassende Anmerkungen zu einzelnen Aufsätzen: Im instruktiven Einleitungsbeitrag gehen Wolf-Dieter Narr und Roland Roth den Transformationen von Menschenrechten und Demokratie in ihrer geschichtlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts nach. Sie decken ihre Verkürzungen und Ideologisierungen bis zur Gegenwart auf, um abschließend das Unabgegoltene der liberalen Konzeption von Menschenrechten und Demokratie aufzuspüren. Sie halten daran fest, dass trotz aller globalkapitalistischen Größenordnungen eine demokratisch menschenrechtlich angemessene Form politisch sozialer Organisation von unten nach oben erfolgen muss, ausgehend von lokalen Assoziationen, die sie der herrschend kapitalistischen Desozialisierung notwendigerweise entgegensetzen. Das Ende der liberalen Demokratie in der neoliberalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft konstatiert Joachim Hirsch und skizziert in dichter Beschreibung diese Entwicklung anhand verschiedener sozialer und politischer Phänomene (z.B. Internationalisierung des Staates), die allesamt auf einen "sanften Totalitarismus" hinausliefen. Eine internationale globalisierungskritische Bewegung sei inzwischen zu einem politischen Faktor geworden. Und von ihr werde die weitere gesellschaftliche und politische Entwicklung ganz wesentlich abhängen. Dirk Vogelskamp greift diesen Gedanken auf und geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Zukunft eine radikaldemokratische linke Opposition hat. Er verwirft, mit Johannes Agnoli argumentierend, die mit dem Erstarken der parlamentarischen Linken geweckten Hoffnungen, über repräsentativdemokratische Institutionen "globale soziale Rechte" durchsetzen zu können. Mit der Rückkehr der "Rechtsglobalisten" in die Staatlichkeit verbindet er jedenfalls keinen Schritt in die notwendige soziale Selbstbefreiungspraxis. Vielmehr erkennt er in der taktischen Annäherung an den Staat nur eine neue sozialdemokratische Herrschaftspraxis (die Transformation der Linken), die die antikapitalistische Rebellion in die Form parlamentarischer Versöhnung gießt.

In weiteren Beiträgen wird den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen wie beispielsweise der "exekutiven Ausnahmegewalt als Regelherrschaft" im "Global War on Terror" (Albrecht Funk) nachgegangen, die die substantielle Aushöhlung liberaler Demokratie und immer schon eingeschränkter Menschenrechte weiter vorantreiben und Fragen nach einer radikal anderen Vergesellschaftung aufwerfen. Aber auch an einzelnen Phänomenen wie der Institution der Sicherungsverwahrung (Helmut Pollähne) oder dem bundesdeutschen Lageruniversum (Tobias Pieper) wird der schleichende Wandel zum Unrechtsstaat exemplarisch aufgezeigt. Martin Singe analysiert differenziert und luzide, wie die bundesrepublikanisch vorangetriebene Entgrenzung des Militärischen Demokratie und Menschenrechte zersetzen.

Auch alle anderen, hier aus Platzgründen nicht angesprochenen Beiträge untersuchen sehr erhellend Facetten der Transformation von Demokratie und Menschenrechten (Birgit Sauer geht der Transformation der Geschlechterverhältnisse und der Remaskulinisierung der Demokratie nach, Annette Groth greift mit den Economic Partnershiop Agreements die europäische Dimension dieses globalen Umbruchs auf, Ulrich Brand und Markus Wissen setzen in den ökologischen Konflikten auf ein materialistische Menschenrechtspolitik globaler sozialer Bewegungen). Das Jahrbuch bietet eine insgesamt desillusionierende, zugleich erkenntnisgewinnende Lektüre zum Zustand und zur Transformation von Demokratie und Menschenrechten in Zeiten weltumspannend totalitärer kapitalistischer Vergesellschaftung. Die allesamt anregenden Beiträge vertiefen aktuelle linke Debatten und versuchen, menschenrechtliche Orientierungspunkte zu setzen, was nicht allen Autorinnen und Autoren gelingt, die jedoch allesamt allem modischen Gerede über mögliche andere Welten, Alternativen oder radikale Aufbrüche gegenüber distanziert bleiben und keine "billigen" Hoffnungen auf anti-neoliberale Allianzen anbieten. Dadurch wird dem eigenen Nachdenken über den analytischen Bezugsrahmen und eine angemessene menschenrechtsorientierte Praxis Raum gelassen.

Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Jahrbuch 2008: Die globale Transformation menschenrechtlicher Demokratie, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2008, 264 Seiten, Preis: 19,90 Euro.

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Hintergrund
Hannah Jacobs ist freie Journalistin und lebt in Düren.