Der Konflikt begann nicht erst mit den NATO-Angriffen

von Christine Schweitzer
Schwerpunkt
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Der Konflikt im Kosovo hat eine sechshundertjährige Geschichte, auf die sich besonders die serbische Seite auch gerne beruft. Doch wenn auch die Schlacht auf dem Amselfeld zwischen dem Königreich Serbien und den vorrückenden Osmanischen Truppen 1389 bestenfalls als "gewähltes Trauma" Serbiens eine Rolle spielt, so ist es doch wichtig, sich die Geschehnisse in diesem Jahrhundert stichwortartig vor Augen zu rufen, um zu verstehen, welche tiefen Wurzeln dieser Konflikt hat: Faktoren sind die Rolle, die Albanien (mit dem Kosovo) in den beiden Weltkriegen spielte, Abwanderung und Vertreibungen von Albanern wie auch von Serben aus dem Kosovo und mindestens zwei Phasen gewaltsamer Eskalation mit viel Polizeigewalt, Massenverhaftungen und Misshandlungen allein in der Zeit des Tito-Regimes.

Die Balkankriege 1912-13 endeten mit der Ausrufung Albaniens. Im 1. Weltkrieg gab es Streit um Albanien und Kosovo, wobei besonders Bulgarien Ansprüche erhob. Nach der Niederlage der Mittelmächte wurde Albanien in seinen Vorkriegsgrenzen wiederhergestellt; Kosovo und Makedonien fielen an Serbien und wurden mit ihm dann Teil des 1918 gegründeten "Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen". Zu Beginn des 2. Weltkriegs besetzte Italien Albanien und machte es zu seinem Protektorat, 1943, nach der Besetzung Jugoslawiens durch deutsche Truppen im April 1941, wird der Kosovo "Großalbanien" dazugeschlagen, das wie Kroatien eine Marionette der Achsenmächte ist.
Mit der Befreiung Jugoslawiens durch die Partisanen 1944 und der offiziellen Gründung der Volksrepublik Jugoslawien mit sechs Republiken 1945 kommt der Kosovo wieder zu Jugoslawien. 1948 gehen mit dem Bruch zwischen Tito und Stalin auch die zuvor guten Beziehungen zu Albanien verloren. 1955-56 finden brutale Verfolgungen im Kosovo unter dem Vorwand, Waffen der albanischen Bevölkerung einsammeln zu wollen, statt. Die Situation entspannt sich erst Anfang der sechziger Jahre wieder, als der Kosovo wie die Vojvodina zur autonomen Provinz wird und nach dem Sturz des zweiten Mannes im Staat, Aleksandar Rankovic, der sich für die Verfolgungen in den fünziger Jahren verantwortlich zeichnete, ein Übergang zu einem wirklichen Föderalismus stattfand. Ende der sechziger Jahre kommt es zu einem Wiederaufleben albanischen Nationalbewusstseins im Kosovo, die u.a. zur Eröffnung einer albanisch-sprachigen Universität und weiterführender Schulen 1970 führen. 1974 erlässt Jugoslawien eine neue föderative Verfassung, in der die Macht der Republiken sehr gestärkt wird. Davon profitieren auch der Kosovo und die Vojvodina, die den Republiken beinahe gleichgestellt werden: Sie bekommen eine eigene Regierung, Parlament, Verfassungsgericht, höchstes Gericht und eine Vertretung in allen föderativen Institutionen.

Kurz nach dem Tode Titos 1980 kommt es 1981 zu Unruhen in Kosovo, auf die Serbien mit einer Verhaftungswelle und einem dreimonatigen Ausnahmezustand reagiert. Ein Fonds wird eingerichtet, der Serben ermutigen soll, in den Kosovo zu ziehen. 1986 läutet das Manifest der Serbischen Akademie der Wissenschaften, in dem die nationalen Ansprüche der serbischen Nation (`überall wo Serben leben, ist Serbien`) festgehalten werden, die nationalistische Mobilisierung auf serbischer Seite ein. Auf ihrer Welle gelangt der neue Parteichef der kommunistischen Partei Serbiens, Slobodan Milosevic, an die Macht. Er fordert, die `serbische Kontrolle über Kosovo wiederherzustellen` und beruft Volksversammlungen und Massendemonstrationen ein. 1988 wird die Regierung der Vojvodina durch Massendemonstrationen serbischer Nationalisten abgesetzt, 1989 verliert dann nach heftigen Auseinandersetzungen auch der Kosovo seinen Status als autonome Provinz.

Erklärungsversuche für die Eskalation des Konfliktes
Die Kriege in Jugoslawien begannen mit dem Konflikt im Kosovo und sind nun in den Kosovo zurückgekehrt. Aber weder Aufreihung geschichtlicher Daten noch das Paradigma des "ethnischen Konfliktes" genügen, um zu erklären, warum es zu diesem Zeitpunkt zur Zuspitzung kam. Wichtige Faktoren sind hier in meinen Augen:

1. Der Kosovo mit seinen Grenzen zu Makedonien,
   Bulgarien und Albanien hat immer eine strategische
   Bedeutung für Jugoslawien gehabt.

2. Bis Ende der 80er Jahre wuchs das ökonomische
   Gefälle des Kosovo zu den anderen jugoslawischen
   Republiken, obwohl viel Wirtschaftshilfe in die
   Region gesteckt wurde. (Dabei wurden allerdings
   nur Energiewirtschaft und Schwerindustrie
   gefördert anstelle arbeitsintensiver Industrien;
   die Arbeitslosigkeit war 1985 dreimal höher als im
   jugoslawischen Durchschnitt.)

3. Die außenpolitischen Beziehungen zwischen dem
   sozialistisch-blockfreien Jugoslawien und dem
   chinaorientierten Albanien waren immer schwierig
   und wirkten sich auf die Politik gegenüber dem
   Kosovo aus.

4. Die Struktur Jugoslawiens selbst mit seinen
   national definierten Republiken legte nahe, alles
   national zu legitimieren und zu denken. Daraus
   resultierende Argumentationen waren z.B. auf der
   Seite der Kosovo-Albaner die Forderung, als
   staatsbildende Nation anerkannt zu werden.
   Während von serbischer Seite die Position
   vertreten wurde, dass Albaner im Unterschied zu
   den anderen sechs jugoslawischen Nationen einen
   eigenen Staat außerhalb der Grenzen Jugoslawiens
   besaßen und deshalb die Albaner im Kosovo nur
   nationale Minderheit sein konnten.

5. Die lange konfliktreiche Geschichte und
   gegenseitige Ängste und Misstrauen machten jede
   konstruktive Konfliktbearbeitung von Anfang an
   sehr schwer.

6. Nach dem Tode Titos begann ein Kampf um die Macht
   in Jugoslawien, der zum Großwerden mehrerer mit
   nationalistischen Argumenten operierender
   Politiker führte. Aus dieser Sicht handelt es sich
   bei den Konflikten im südslawischen Raum im Kern
   nicht um ethnische Konflikte sondern um das
   Machtstreben und den Machterhalt politischer
   Cliquen und Persönlichkeiten wie Milosevic (und
   Tudjman etc.).

Die Zeit des gewaltfreien Widerstandes
Wenn heute darüber gesprochen werden muss, welche Gelegenheiten es gegeben habe, den Konflikt mit anderen als gewaltsamen Mitteln zu bearbeiten, dann ist die Phase des gewaltfreien Widerstandes gegen die Gleichschaltung durch Serbien, die ungefähr von Sommer 1989 bis Herbst 1997 dauerte, von besonderer Bedeutung. In dieser Zeit versuchten die Kosovarer unter Führung ihres gewählten Präsidenten Ibrahim Rugova, sich gegen die Aufhebung der Autonomie 1989 zur Wehr zu setzen und ihr dann schnell formuliertes Ziel der Unabhängigkeit des Kosovo durchzusetzen.

Dieser Widerstand, von der Kosovarer Führung als "friedliche Strategie" bezeichnet, wurde von praktisch der gesamten Bevölkerung mitgetragen. Trotz seines letztendlichen Misserfolges, ist er ein beeindruckendes Beispiel dafür, über welch langen Zeitraum eine gewaltlose Strategie aufrechterhalten werden kann. Dabei war er anfangs durchaus nicht vorhersehbar. 1988 erwarten die meisten Beobachter der Situation im Kosovo eine Intifada, nicht gewaltfreien Widerstand. Die Entscheidung für Gewaltfreiheit stellte eine rein pragmatische Entscheidung dar, wobei einige der Führer der Kosovo-Albaner mit den Theorien von Gandhi u.a. vertraut waren. Howard Clark (siehe seinen Beitrag in der "gewaltfreien aktion 3-4/1989) macht vier Gründe für diese Entscheidung aus:

1. Erfahrung mit den Massendemonstrationen 1981, die
   mit viel Gewalt niedergeschlagen wurden;

2. Gewaltlose Protestaktionen und Streiks der
   Bergleute im November 1988 und Februar/März 1989,
   in dessen Verlauf 7.000 Bergleute sich in den
   Bergwerken einschlossen und 1.700 von ihnen einen
   Hungerstreik begannen, der viel Eindruck machte;

3. eine von StudentInnen initiierte
   Versöhnungsbewegung innerhalb der Kosovarer, bei
   der 2.000 Familien bis 1993 das Ende der
   Blutrache verabredeten und

4. die Entwicklung von 1989 mit ihren
   Bürgerrevolutionen als "Erfolgsgeschichten".

Dazu kam als fünfter Punkt die Gewissheit, dass jedes andere Vorgehen zu einem Krieg mit unvorstellbaren Opferzahlen führen würde, eine, wie sich gegenwärtig herausstellt, überaus realistische Einschätzung der Gewaltbereitschaft durch die Führung des gewaltlosen Widerstands.
 

Der gewaltfreie Widerstand konzentrierte sich auf den Aufbau eines parallelen, von Albanern getragenen Systems. Öffentliche Aktionen (Demonstrationen z.B.) wurden nach 1991 als zu gefährlich betrachtet. Man fürchtete - im Nachhinein kann man sagen, zu recht - dem serbischen Regime einen Vorwand für gewaltsames Durchgreifen zu liefern. Das parallele System konzentrierte sich auf die drei Bereiche Schule, Gesundheitssystem und Regierung:

In den Schulen war im August 1990 ein serbisches Curriculum erlassen worden. Die albanischen LehrerInnen weigerten sich, der Lehrplanänderung Folge zu leisten und unterrichteten weiter gemäß des alten Curriculums. Daraufhin entließen die serbischen Behörden alle Schuldirektoren und zahlten keine Löhne mehr aus. Zu Beginn des nächsten Schuljahres (September 1991) stand dann die Polizei vor den Schulen und verweigert den albanischen SchülerInnen den Zutritt zu ihren Schulen. Daraufhin begann die Kosovarer Führung mit dem Aufbau von Schattenschulen, die zuletzt von 220.000 SchülerInnen besucht wurden, die von 19.000 LehrerInnen unterrichtet wurden. (In der Mehrzahl handelte es sich hierbei um weiterführende Schulen, nachdem die Hauptschulen ein Jahr später wieder geöffnet wurden.) Ebenso geschlossen wurde die albanisch-sprachige Universität in Prishtina; auch sie wurde illegal fortgeführt und hatte zuletzt 16.000 StudentInnen. Trotz dieser beeindruckenden Zahlen muss allerdings festgestellt werden, dass - zwangsläufig - die Qualität des Schul- und Universitätsunterrichts abfiel und dass der Schulbesuch vor allem von Mädchen wieder zurückging, nachdem erst in den letzten Jahrzehnten der Gedanke, dass auch Mädchen formale Bildung genießen sollten, hatte verankert werden können.

Ein zweiter Schwerpunkt lag auf dem Gesundheitssystem, nachdem die meisten albanischen ÄrztInnen ihre Arbeit in den Krankenhäusern verloren und die Behandlung grundsätzlich in serbischer Sprache erfolgen musste. Viele der entlassenen Ärzte engagierten sich, oftmals ehrenamtlich, bei der humanitoren Organisation "Mutter Theresa", die besonders Ambulatorien aufbaute. Allerdings funktionierte das alternative Gesundheitssystem nicht besonders gut. Die Kindersterblichkeit stieg, viele Krankheiten (Lungenkrankheiten z.B.) stiegen drastisch an und auch hier wurden Frauen besonders Opfer, da Geburten nicht mehr in den Krankenhäusern, sondern zu Hause stattfanden und mit hohem Risiko behaftet waren.
 

Das dritte Hauptelement des Widerstandes war die Errichtung eines parallelen politischen Systems. Es fanden zweimal Wahlen zu einem Kosovo-albanischen Parlament statt (das allerdings nie zusammentrat) und eine funktionierendes Verwaltungs- und Regierungsystem wurde eingerichtet.

Allerdings, und dies kann als eine der zentralen Schwächen des Widerstandes angesehen werden und wohl als einer der Gründe, warum er letztlich zusammenbrach, fehlte dem Widerstand eine Strategie, wie seine Ziele - die Unabhängigkeit von Serbien/Jugoslawien - aus eigener Kraft erreicht werden könnten. Stattdessen setzte man von Anfang an (nicht erst jetzt) auf die internationale Gemeinschaft quasi als Retter, die dem Kosovo die Selbständigkeit geben und durch die Stationierung von Truppen absichern sollte.

Eine zweite Schwäche des Widerstandes war seine Passivität. Der Alltag ging weiter, ohne dass Veronderungen sichtbar wurden und ohne dass besondere Akte des Widerstandes durchgeführt werden konnten. Hier zeichnete sich allerdings 1997 eine Veränderung ab, als die StudentInnen in Prishtina mit Demonstrationen für die Wiedereröffnung von Schulen und der Universität begannen. Zur gleichen Zeit begannen allerdings auch die gewaltsamen Aktivitäten der Kosovo-Befreiungsarmee. Sie war die andere Antwort auf den Stillstand in der politischen Situation.

Ein drittes kritisch zu sehendes Element war das Fehlen jeglicher Dialogbereitschaft mit dem Gegner. Lange Zeit galt jeder Kontakt, auch zu serbischen Oppositionellen, als verratsverdächtig. Ebenso suchte man z.B. auch bei den Studentenprotesten 1997 vergeblich Transparente in serbischer Sprache.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass der gewaltfreie Widerstand im Kosovo versagte, weil es ihm nicht gelang, den Konflikt gewaltlos so voranzutreiben, dass alle Konfliktparteien in einen Suchprozess nach einer Lösung eingebunden wurden, sei es durch ein politisches Engagement der internationalen Staatengemeinschaft oder durch eine stärkere Thematisierung des Problemes innerhalb der Jugoslawischen Föderation. Erst die Terrorakte der Befreiungsarmee und die massiven Gegenaktionen der serbischen Polizei und des Militärs riefen die internationale Gemeinschaft auf den Plan, die zuvor eher geneigt war, die Vorgänge im Kosovo als interne Angelegenheit Serbiens bzw. Jugoslawiens anzusehen und damit dem Widerstand eine faktische Unterstützung zu versagen. Dieses ungeschickte und auf gewaltsame Intervention konzentrierte Vorgehen löste dann letztlich die Katastrophe aus, vor der seit 1989 immer wieder gewarnt wurde, nämlich die Vertreibung der Kosovo-Albaner aus ihrer Heimat.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.