Der Minister der „Armee im Einsatz" will ,,Verteidigung" neu definieren

von Martin Singe

Nachdem das Luftsicherheitsgesetz (Januar 2005) vom Verfassungsgericht im Februar 2006 gekippt worden war, hat Minister Jung angekündigt, den Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes neu definieren zu wollen. Ausgangslage ist für ihn dabei die Behauptung, dass sich innere und äußere Sicherheit prinzipiell nicht mehr voneinander trennen lassen, Während ein staatlicher Angriff von außen höchst unwahrscheinlich geworden sei, bestünden die realen Gefahren heute in möglichen terroristischen Attacken aus dem Inneren des Landes heraus bzw. durch Attacken von Luft und See her. Hier müsse die Bundeswehr tätig werden dürfen. Der Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes solle so umdefiniert werden, dass auf solche terroristische Attacken mit dem Einsatz der Bundeswehr mit militärischen Mitteln (also nicht nur polizeiunterstützend) reagiert werden kann.

Heimatschutz durch die Bundeswehr?
Die CDU arbeitet schon seit langem auf die Ausdehnung von Bundeswehreinsätzen im Innern hin. Seit 2004 kursieren sogenannte Heimatschutz-Pläne, gemäß denen in Anlehnung an US-Konzepte (homeland security) ein Teil der Bundeswehr flächendeckend in 50 vernetzten Basen über das ganze Land verteilt stationiert werden soll. Dieser Heimatschutz müsse sowohl eine „präventive als auch reaktive Komponente" haben (vgl. Beschluss der CDU/CSU-Fraktion vom 30.3.04 zu Landesverteidigung und Heimatschutz). Auch in diesem Konzept wird schön die Veränderung von Art. 87 a und 35 GG gefordert. Art. 87a regelt, dass die Bundeswehr nur bei einem Angriff von außen zur Verteidigung eingesetzt werden darf. Art. 87 a 4 lässt den Einsatz der Bundeswehr zum Objektschutz und zur Bekämpfung bewaffneter Aufstände zu, falls Gefahr für den Bestand des Bundes oder eines Landes droht (Notstandsverfassung von 1968). Art. 35 beschreibt die möglichen Unterstützungsleistungen für die Polizeien in Katastrophenfällen durch die Bundeswehr. Hierbei darf die Bundeswehr nur polizeirechtlich zugelassene Mittel einsetzen. Deshalb forderte die CDU schon 2004 in einem Gesetzentwurf eine Grundgesetzänderung für den Einsatz der Bundeswehr im Falle terroristischer Bedrohungen.

Solchen Tendenzen muss gegengesteuert werden. Über die schon jetzt weitgehenden Befugnisse der BW im Inneren hinaus dürfen neue Verwischungen zwischen innerer und äußerer Sicherheit nicht hingenommen werden. Aus guten Gründen sind Polizei und Bundeswehr von ihren Strukturen, Einsatzkonzepten und Möglichkeiten der Gewaltanwendung gemäß Verfassung strikt voneinander getrennt. Die Beschwörung ständig zunehmender Gefahren und das Ausmalen aller·möglichen Bedrohungsszenarien sollen dazu dienen, diese bislang festen Verfassungsgrundsätze aufzulösen und außer Kraft zu setzen. So bedauerte z.B. Wolfgang Schäuble im Wahlkampf 2005, dass sich nur 39% der Deutschen bedroht fühlten, während es in den USA immerhin 71 % seien. Daher müsse die Regierung den Deutschen die Bedrohungslage deutlicher schildern, damit das Volk merkt, dass „die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit obsolet" geworden seien (FR 10.9.05).

Kriegsrecht statt Verfassungsrecht?

In der Debatte um neue Bundeswehreinsatzmöglichkeiten im Innern im Anschluss an das Verfassungsgerichtsurteil zum Luftsicherheitsgesetz hat sich eine Tendenz gezeigt, die zu besonderer Sorge Anlass gibt. Offensichtlich stellen sich führende Politiker den Kriegszustand als einen außergesetzlichen Zustand jenseits verfassungsrechtlicher. und ethischer Normen vor. Einige Beispiele mögen dies kurz illustrieren. Wiefelspütz (SPD) forderte nach dem Verfassungsgerichtsurteil, das den Abschuss eines gekaperten Terrorflugzeuges als verfassungsrechtlich verboten beurteilt hatte, dass dann eben nach Kriegsrecht gehandelt werden müsse. Der gediente und damit wehrtaugliche Minister Jung (CDU) meinte einfältig, bei der Flugabwehr hätten sie nicht danach gefragt, ob auch Zivilisten im Flugzeug säßen. Und Schäuble forderte, dass der Verteidigungsbegriff demnächst weit ausgelegt werden müsse, da im Kriegsvölkerrecht nicht gelte, ,,was das Verfassungsgericht entschieden hat: dass man wenig Leben gegen viel Leben nicht abwägen darf“ (FR 9.5.06).

Gelten also die Maßstäbe der Verfassung im Kriegszustand nicht mehr? Die Verfassung selbst sieht das anders. Auch wenn sich die Kriterien für Tötungshandlungen im Kriegszustand nach völkerrechtlich geltenden Maßstäben (das heißt nicht, dass diese prinzipiell ethisch zu rechtfertigen wären) verschieben, so werden die Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes auch dann nicht einfach aufgehoben. Wenn selbst hochrangige Politiker jedoch für den Kriegszustand außergesetzliche Zustände propagieren, muss man sich dann über Guantanamo, Abu Ghraib usw. wundern? Der Rechtlosstellung des äußeren Feindes entspricht die zunehmende Diskussion um ein Feindstrafrecht im Inneren. Über diese ethisch-grundrechtlichen Aspekte der Diskussion um verstärkte Kriegseinsätze der Bundeswehr im Innern und nach außen müsste eigens einmal intensiver nachgedacht werden.

Neues Weißbuch: „Heimatschutz" in aller Welt

Bei den Diskussionen um den Einsatz der Bundeswehr im Innern wird z.Zt. häufig übersehen, dass es gegenwärtig fundamentaler um das Festklopfen der Möglichkeiten der Bundeswehreinsätze in aller Welt geht. Auch dafür soll das Grundgesetz geändert werden, weil die jetzigen Bestimmungen ein zu dünnes Eis bilden für all das, was deutsches Militär in aller Welt künftig leisten soll. Im Juli 2006 soll das neue Weißbuch, das bislang nur als Entwurf vorliegt und der öffentlichen Diskussion vorenthalten wird, vom Kabinett verabschiedet werden. Ist es das, was Jung mit der von ihm geforderten öffentlichen Debatte meint?

Das neue Weißbuch definiert die Bundeswehr als „Armee im Einsatz" und geht vor allem auf die internationalen schnellen Eingreiftruppen ein. Insbesondere die NRF (NATO Response Force) mit 25.000 Mann und die ersten der 13 EU-Battlegroups (Schlachtgruppen mit je 1.500 Mann)sind inzwischen aufgestellt. Sie sollen in 5 bzw. 20 Tagen einsatzbereit seien, was mit dem derzeit bei uns gültigen Parlamentsbeteiligungsgesetz gar nicht zu machen ist. Die Bedrohungen werden im Weißbuch in Fortsetzung bisheriger sicherheitsstrategischer Dokumente in internationaler Interessen-Dimension beschrieben: Terrorismus, zerfallende Staaten, drohende Migration ... Gegen all das gelte es sich militärisch zu wappnen. Schärfer noch als bisher werden die deutschen Interessen in den Mittelpunkt gerückt. Als Exportland sei die BRD auf sichere Transportwege, als rohstoffarmes Land auf sichere Rohstoffzufuhr (Warum liegt unser Öl ausgerechnet unter deren Sand?) angewiesen. Nach dem Motto, Heimat ist dort, wo die Bundeswehr noch niemals war, gelte es, sich den Regionen zuzuwenden, in denen wichtige Rohstoffe und Energieträger gefördert werden.

Das nennt sich dann „Krisen-und Konfliktbewältigung". ,,In jedem Einzelfall" sei ,,eine klare Antwort auf die Frage notwendig, inwieweit Interessen Deutschlands den Einsatz erfordern und rechtfertigen" (Weißbuch-Zitat. nach Süddt. Ztg., 13.5.06). Es geht künftig also in erster Linie um die Abwehr von „Störungen der Rohstoff- und Warenströme" und „unkontrollierter Migration", zugleich um die Aufrechterhaltung eines „ungehinderten Welthandels" (Weißbuch-Zitate nach FR 15.5.06).

Der Bundeswehraufbau soll wie schon länger geplant rund 35.000 Einsatzkräfte (Interventionstruppen), 70.000 Stabilisierungskräfte und 147.500 Unterstützungskräfte umfassen, daneben noch 75.000 Zivilbedienstete. Die Wehrpflicht soll beibehalten werden.

Verfassung beliebig biegbar?

Jung will vor allem für diese Auslandseinsätze eine Verfassungsänderung. In der Verfassung sei nur die Landesverteidigung verankert. Aber unsere derzeitige Hauptaufgabe der Krisen- und Konfliktbewältigung oder der Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt. Da müssen wir über eine Verfassungsänderung sprechen." (FAZ 2.5.06) Jung hat prinzipiell damit recht, dass die jetzigen Auslandseinsätze und die künftig geplanten verfassungsmäßig auf allzu dünnem Eis stehen. Letztlich stützen sie sich allesamt noch auf das out-of-area-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994. Wegen diesem Urteil unterblieb seinerzeit die damals geplante Grundgesetzänderung. Allerdings wird heute meist übersehen, dass das Urteil alle Auslandseinsätze nur im Hinblick auf die Einbindung der Bundesrepublik in internationale kollektive Sicherheitssysteme (Art. 24 GG) gerechtfertigt hat, nicht aber den grundgesetzlich definierten Verteidigungsbegriff (Art. 87 a GG) entgrenzt hat. Sämtliche unterstützende Maßnahmen im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme, zu denen das Verfassungsgericht damals irrtümlich (gewollt) auch die NATO gerechnet hat, haben sich jedoch nach dem eigenen Verfassungsrecht zu richten. Dem gemäß liegt der eigentliche Verfassungsbruch durch die out-of-area-Einsätze der Bundeswehr eigentlich schon in der öffentlich nie diskutierten Zustimmung der damaligen Bundesregierung zu dem substantiell veränderten Grundlagenvertrag der NATO. Das 1991 (Rom) / 1999 {Washington) beschlossene neue NATO-Konzept hat mit dem ursprünglichen NATO-Vertrag, auf deren Grundlage die Bundesrepublik Mitglied der NATO ist, praktisch nur noch wenig gemeinsam. Schon 1994 mahnte das Minderheitenvotum des Verfassungsgerichtes an, dass der neue NATO-Vertrag parlamentarischer Befassung bedürfte. Dies ist nie geschehen. - Nun soll diese Schieflage durch eine nachholende Grundgesetzänderung ausgeglichen werden. Es ist dringlich, dass sich die Friedensbewegung in diese Debatte intensiv einmischt und den geplanten extensiven Verfassungsaufweichungen entgegentritt. Die militärische Absicherung deutscher Interessen weltweit ist mit unserer Verfassung nicht vereinbar! Und das sollte so bleiben.

 

 

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Hintergrund
Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".