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Ein Garant der Menschenrechte oder wer sonst?
Der Nationalstaat
von,,Wenn es überhaupt so etwas wie ein Menschenrecht gibt, dann kann es nur ein Recht sein, das sich grundsätzlich von allen Staatsbürgerrechten unterscheidet".
(Hannah Arendt, 1962, S. 438 f.)
Die Gegenwart - ein Suchbild menschenrechtlicher Frustration
Die Gegenwart der Menschenrechte, soweit es darum geht, sie einzuhalten, ein globaler, ein nationalstaatlicher, ein europäisch-angelsächsischer Skandal! Nein, der Ausdruck Ärgernis verharmlost. Durch jede gegenwärtige Stunde, durchjede gegenwärtige Tat, meist Nichttat, durch jedes gegenwärtig gesprochene Wort blutet die Wunde der menschlichen, oft menschenrechtsmündigen Entmenschung fort. Das geschieht innerhalb von sogenannten Nationalstaaten oder solchen, die es sein wollen und international sogar dafür bekriegt werden, wenn sie es nicht sind. Stichwort: Nation-Building nicht nur im Irak. Das .geschieht zwischen, über oder unter den Nationalstaaten in global entgrenzter und zugleich andauernd neu ver-, ab- und ausgrenzender kapitalistischer Konkurrenz. Der weltweit im Gang befindliche Kampf ums gute, ums bessere Überleben an der Macht- und Wohlstandsspitze, der reichstes, machtprassendes Leben und Tod massenhaft erzeugt.
Aus der kaum sortierbaren Fülle der Fälle, die zeigt, dass es sich um systematische Produktion, nicht um randständige Phänomene handelt, ist nur auf die verunstalteten, aufgedunsenen, die fleckigen und Ekel erregenden Menschenkörper hinzuweisen, die nicht nur in diesen Wochen an die sonnen- und badetrunkenen Ufer der kanarischen Inseln treiben. In spanischen Hoheitsgebieten jetzt, in italienischen gestern und morgen, irgendwo im Mittelmeer zwischen Libyen, Italien und Griechenland. Wehe diese Körper kämen noch lebend an - nicht von bösen Schleppern verführt-, sie wären als Menschen erkenntlich und irgendwie als solche Wesen, als homines sapientes zu behandeln, fast(!), nicht ganz versteht sich, wie wir selbst. Dann bliebe nichts, als sie schleunigst irgendwie zurück auf den afrikanischen Kontinent - oder in anderen Fällen irgendwohin in den „asiatischen Raum" – zurück zu karren, als „Abschüblinge abzuschieben", wie es hochdeutsch lautet oder sie in Lager zu pferchen, die möglichst schon als „Auffanglager" praktische „Entwicklungshilfe" bedeuten. Denn wir, wir Europäer und Angelsachsen, die die Menschenrechte erfunden haben, als Fortschritt der Zivilisation ausgeflaggt, wir die wir Bescheid wissen, was Menschenrechte sind, wir helfen all den (verdammten) Völkern der Erde, indem wir ihnen zeigen, was aus ihnen wird, wenn sie für ihre Existenzrechte nicht selbst sorgen. Das Menschenrecht vor allen Menschenrechten haben sie, so scheint es, noch nicht begriffen: jeder ist sich selbst der nächste. Dafür leben wir im christlich begründeten Abendland und seiner Expansion westwärts, nun global.
Nationalstaat, Globalisierung und Menschenrechte - ein dissonanter Dreiklang
- Die ersten modernen Erklärungen der Menschenrechte in den werdenden USA und in Frankreich zuerst und die Entstehung des Nationalstaats sind Ende des 18. und im 19./20. Jahrhundert im selben historischen Kontext entstanden. Dass prinzipiell jedes Individuum zählt (sofern es unausgesprochen männlich, weiß und besitzend gebildet ist). Dass Staaten mitsamt ihrem sie konstituierenden Gewaltmonopol alle potentiellen Bürger (und im Laufe der Zeit Bürgerinnen) in einem Gebiet unmittelbar als die ihren begreifen, die ihrerseits zu Bürger(innen) werden, in- dem sie sich mit dem Staat identifizieren. Also Staatsbürgerinnen. Beides, Menschenrechte und Nation wurden mit universellen Ansprüchen verbunden. Die Allgemeinheit der Menschenrechte, die für alle Menschen - ,,von Natur gleich und frei" - gelten sollten, blieb von Anfang an abstrakt. Ein edles, unverbindliches Postulat. Bis heute sind die Spuren der Sklaverei kolonial, postkolonial, und·dies nicht nur, nicht einmal primär in den USA, nicht getilgt. Die Allgemeinheit des Nationsanspruchs galt nach innen im Sinne einer bürgerlichen Totalität, sie galt zugleich nach außen im Sinne des selbstverständlichen, Kriege einschließenden herrschaftlichen Souveränitätsanspruchs. ,,Unser Land", so auch in liberaldemokratisch verfassten Staaten bis heute,,,gehört uns". Nation une et indivisible. Diese durch ihre Grenzen und Ausgrenzungen bornierte Allgemeinheit gilt konkret. Der Widerspruch zwischen diesen im Umfang, jedoch auch im Konkretionsgrad qualitativ verschiedenen Allgemeinheiten gilt bis heute. Er wird freilich selten thematisiert. Staatsbürgerinnen zeichnen sich heute mehr denn je dadurch aus, dass sie das erste Gebot des modernen Staates beherzigen - insofern ist die US-Flaggengeste vielsprechend: ,,Ich bin der Herr, und ein wenig die Frau, dein Nationalstaat, du sollst keine anderen Loyalitäten neben mir haben." Für alle Nicht-Staatsbürgerinnen gilt: sie sind Personen nationalstaatlich minderen Ranges. Für sie gelten Menschenrechte als Wassersuppe. Das trifft Ausländerinnen, die aus anderen starken Staaten kommen, nur zu einem eingeschränkten Teil. Diejenigen aber, die aus irgendwelchen Gründen staatenlos sind oder aus schwachen Staaten stammen, enthalten möglicherweise sogar den Teller der Magersuppe entzogen. Ihre Existenz steht im wörtlichen Sinne andauernd auf dem Spiel. Die Menschenrechte mit ihrem universellen Anspruch aber werden zu einem Kampfmittel. Das nennt man neuerdings „humanitäre Intervention".
- Nationalstaat und kapitalistische Entwicklung bilden von Anfang an eine zweigipflige Einheit. Der letzte große Wachstumsring der Globalisierung seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts schien nur für wirklichkeitsblind hoffende Toren eine Chance zu bieten, nun die Menschenrechte auf der bewohnten Erde zu realisieren. Das Gegenteil ist der Fall. Die verschärfte Konkurrenz verdichtet die Nationalstaaten kontrollstark nach innen und mehrt ihre ab- und ausgrenzenden Maßnahmen, so die von andersher oder anderwärts (,,outsourcing") benutzbaren Menschen nicht·der Wahrheitsfindung als Hauptmitesser am einseitig wachsendenden Weltkuchen dienen.
- Die Menschenrechte, europäisch angelsächsisch immateriell gefasst, weil sich Bildung und Besitz derjenigen, die sie für sich annahmen, als Vorgabe von selbst verstanden, fallen selbst innerhalb der Staaten, die ihren Bürgerinnen gegenüber die Menschenrechte widersprüchlich wahren, ins atomistisch Leere. International aber fallen die Menschen, die nationalstaatlich nicht stark „armiert" sind, ins existentiell Ungewisse hinab. An dessen Boden treiben die Wasserleichen und verhungern die bauchdunsigen Kinder.
Aus der menschenrechtlichen Utopie zur menschlichen Verwirklichung
- In einer durchstaateten Lind durchkapitalisierten Welt gibt es keine Lösung. Dieses nüchterne factum brutum darf man nicht übersehen, wenn man innerhalb der Nationalstaaten wirtschafts-, gesellschafts- und außenpolitisch zugleich alle Kraft des Agierens zusammennimmt, um zu allererst zwei Zielen zentimeterweise sich anzunähern (und jeder Zentimeter kann Leben von Menschen retten, die verhungernd belassen, nicht abgeschoben oder indirekt ersäuft werden). Zum einen: auf ein ökonomisch-politisches Tandem des sozialen und arbeitspolitischen Ausgleichs zu drängen, das die Existenz-, damit die Fremdenängste abbauen lässt. Damit andre Menschen aufgenommen werden können. Zum anderen: für eine Ökonomie nach innen und außen zu streiten, die die noch wachsenden Gefahren tödlicher Konkurrenz bis hin zu den sogenannt natürlichen Ressourcen abbaut.
- Erst dann, wenn die inneren, die bürgerlichen Voraussetzungen geschaffen werden, vielmehr ineins damit, kann es gelingen, auf der weltweiten·Ebene, menschenrechtliche Politik zu inszenieren, die nationalstaatliches Interesse, auch das Interesse der im Rahmen der UN führenden Nationalstaaten und des gleichfalls nationalstaatlich bornierten Völkerrechts ein Stückweit übersteigt. In Richtung des von Kant vorgedachten friedenspolitischen als eines au fond menschenrechtspolitischen Vertrags (födus pacificum et rerum hominum - küchenlateinisch erweitert).
Nur in dieser, aufgrund von Platzmangel mir vage andeutbaren Richtung wird es gelingen - darin bin ich mir einigermaßen gewiss -, jedem Menschen, wie es Hannah Arendt in ihrem unverändert aufregend aktuellen Kapitel geschrieben hat – trotz etlicher historisch zu korrigierender Kostümierung - jedem Menschen, sage ich mit H.A. ,,einen Standort in der Welt", einen sozialpolitisch begründeten versteht sich, zu gewährleisten und zu sichern. Und erst dann kann man von Menschenrechten und ihrer Geltung mehr als geschwätzig und herrschaftsinstrumentell reden.
Arendt Hannah, 1962: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. Siehe hier besonders Teil II (Imperialismus), das missverständlich überschriebene und historisch nicht durchgehend stimmige, im Kern aber selbst in seinem dunklen Bericht leuchtende Kapitel 9„ Der Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte" M S.402-452.