Der revolutionäre Antimilitarismus

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Die Geschichte der Friedensbewegung ist nicht vollständig ohne eine Würdigung des revolutionären Antimilitarismus. Er hatte seine Blütezeit zwischen der Jahrhundertwende und (außerhalb Deutschlands) bis zum zweiten Weltkrieg. Viele seiner Ideen sind heute zumindest im radikalen gewaltfreien Flügel der Friedensbewegung Allgemeingut geworden. Ge­tragen wurde er damals von Flügeln der marxistischen und vor allem der anarchistischen (Arbeiter-)Bewegung. Im Gegensatz zur "bürgerli­chen" Friedensbewegung, die ihre Hoffnung auf internationale Frie­densverträge setzte, verfolgten die AntimilitaristInnen (unter ihnen üb­rigens bemerkenswert viele Frauen, u.a. Helene Stöcker, Henriette Ro­land Holst und Clara Wichmann) die Losung "Keinen Mann und kei­nen Cent für den Militarismus".

Ihre Strategie war die Verweigerung des Militärdienstes und aller anderen kriegs­fördernden Arbeiten (einschließlich der Rüstungsproduktion), wie sie vor allem in England schon im ersten Weltkrieg in beachtlichem Umfang praktiziert wor­den war. Gewalt lehnten sie grundsätz­lich ab, auch wenn sie dem Erzielen der revolutionären Ziele (die Befreiung der Arbeiterklasse) dienen sollte. Bart de Ligt, einer ihrer herausragenden Ver­treter, formulierte Anfang der dreißiger Jahre auch das erste Konzept der So­zialen Verteidigung, der gewaltfreien Verteidigung gegen Krieg und Militär.

Die revolutionären AntimilitaristInnen organisierten sich in verschiedenen Gruppen und veranstalteten mehrfach internationale Kongresse. Sie können hier nicht alle aufgezählt werden. Statt­dessen soll beispielhaft die WRI (War Resisters' International) herausgehoben werden, die ihren Ursprung in dieser Bewegung hat. Die "Internationale der Kriegsdienstgegner" wurde 1921 ge­gründet. Auf ihrer Gründungsver­sammlung in Bilthoven in den Nieder­landen wurde folgende Erklärung ver­faßt, die wir hier in der veränderten Fas­sung von 1925 dokumentieren:

Erklärung der War Resisters International

"Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Wir sind daher entschlos­sen, keine Art von Krieg zu unterstützen und für die Beseitigung aller seiner Ur­sachen zu kämpfen.

Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit!

Denn er ist ein Verbrechen gegen das Leben und missbraucht den Menschen als Mittel für politische und wirtschaft­liche Zwecke.

Wir sind daher entschlossen, getrieben von starker Liebe zur Menschheit, keine Art von Krieg, weder Angriffs- noch Verteidigungskrieg, zu unterstützen. Dies ist wichtig, weil fast jeder Krieg von den Regierungen als Verteidi­gungskrieg hingestellt und im Bewußt­sein der Völker als Verteidigungskrieg geführt wird.

Wir unterscheiden drei Arten von Krieg:

a)    Krieg zur Verteidigung des Staates, zu dem wir durch Geburt oder Wahl gehören. Den Waffendienst für die­sen Zweck zu verweigern, ist schwie­rig, weil der Staat alle seine Macht­mittel gebrauchen wird, um uns zu zwingen. Ferner, weil man die ange­borene Liebe zu unserer Heimat so lange zu der nationalistischen Täu­schung missbraucht hat, als seien Staat und Heimat dasselbe.

b)    Krieg zur Verteidigung der bestehen­den Gesellschaftsordnung mit ihren Sicherungen und Vorrechten für die Besitzenden. Daß wir keine Waffen für diese Zwecke ergreifen werden, versteht sich von selbst.

c)    Krieg zur Verteidigung und Befrei­ung des bedrückten Proletariats. Die Weigerung, für diesen Zweck die Waffen zu ergreifen, ist schwer:

1.    Weil der bolschewistische Staat und noch mehr das empörte Proletariat in Zeiten der Revolution in jedem einen Verräter sehen wird, der sich weigert, es mit Waffengewalt zu unterstützen.

2.    Weil unsere angeborene Liebe für die Leidenden uns in Versuchung führen könnte, Gewalt zu gebrauchen, um ihnen zu helfen oder sie zu unterstüt­zen.

Wir sind indessen überzeugt, daß Ge­walt niemals die Ordnung aufrechter­halten, nicht wirklich unsere Heimat schützen, das Proletariat nicht befreien kann.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß durch je­den Krieg eine erschreckende Verwilde­rung und Verrohung, die Vernichtung aller Freiheit, eintritt und daß das Pro­letariat nur scheinbar dadurch gewinnt, in Wahrheit aber seine Leiden vermehrt. Es ist daher unmöglich, irgendeinen zu unterstützen, weder durch direkten Dienst im Heere, in der Flotte, in der Luft noch durch bewusstes Herstellen von Munition und Kriegsmaterial, noch durch Zeichnung von Kriegsanleihen, noch durch Hergabe unserer Arbeit, um andere für die Kriegsdienst freizuma­chen.

Wir sind uns klar, daß wir als konse­quente Pazifisten nicht das Recht haben, eine bloß negative Stellung einzuneh­men, sondern bemüht sein müssen, die tieferen Ursachen des Krieges zu erken­nen und für die Beseitigung aller seiner Ursachen zu kämpfen.

Als Ursachen des Krieges sehen wir nicht nur Selbstsucht und Habsucht an, die sich in jedem Menschenherzen fin­den, sondern auch alle Faktoren, welche die Menschen als Massen zu gegenseiti­gem Hass und Massenmord führen.

Wir sehen in folgenden Antrieben die für unsere Zeit wichtigsten:

1.    Die Unterschiede der Rassen, die zu Neid und Hass künstlich gesteigert werden.

2.    Die Unterschiede der Glaubensbe­kenntnisse, die durch Unduldsamkeit zu gegenseitiger Missachtung künst­lich aufgestachelt werden.

3.    Die Gegensätze der Klassen, der Be­sitzenden und der Nichtbesitzenden, die fast unvermeidlich hintreiben zu Völker- und Bürgerkrieg, solange das gegenwärtige Produktionssystem besteht, das auf Profitwirtschaft an­statt Bedarfswirtschaft beruht.

4.    Die Gegensätze der Nationen, in denen wir zum großen Teil eine Folge des jetzigen Produktionssy­stems sehen, das zum Weltkrieg und wirtschaftlichen Chaos geführt hat.

      Wir sind überzeugt, daß diese Gegen­sätze durch eine den Bedürfnisse der einzelnen Nationen angepasste Rege­lung der Weltwirtschaft ausgeglichen werden können.

5.    endlich sehen wir auch eine wesentli­che Ursache des Krieges in der falschen Auffassung über das Wesen des Staates. Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.

Die Anerkennung der Heiligkeit des menschlichen Lebens, der menschlichen Persönlichkeit, muß das Grundgesetz der menschlichen Gesellschaft werden.

Andererseits darf auch der einzelne Staat nicht mehr als souveränes Einzel­wesen betrachtet werden! Denn jede Nation ist ein Teil der großen Familie der Menschheit.

Wir müssen daher mit aller Kraft für die Beseitigung von Klassen und trennen­den Gesetzen wirken und für die Schaf­fung einer weltumfassenden Brüderlich­keit, begründet auf gegenseitiger Hilfe."

 

Diese Erklärung wurde zitiert nach: graswurzelrevolution, Sonderheft: Sozi­algeschichte des Antimilitarismus, Nr. 117/118. Zu bestellen bei: gwr, Kirch­str. 14, 29462 Wustrow

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