Dokumentation

Der Shorish-Plan - Ein Weg zum Frieden für Afghanistan

von Naqibullah Shorish

Der Afghanistankrieg ist in einer Sackgasse. Seit fast zehn Jahren führen die Soldaten von 36 technologisch hoch entwickelten Nationen Krieg in Afghanistan. Die Sicherheitslage im Land hat sich von Jahr zu Jahr verschlechtert. Es herrscht ein militärisches Patt, das eine militärische Lösung für jede der beteiligten Seiten ausschließt.

Unter diesen Umständen droht der Krieg noch lange anzudauern. Die Hauptlast des Krieges trägt das afghanische Volk, aber die Völker der anderen am Krieg beteiligten Staaten spüren die Folgen des Krieges. Sie zählen ihre Toten, sie sehen die enormen Gelder, die sinnvoller eingesetzt werden könnten. Das afghanische Volk ist kriegsmüde und wünscht ein schnelles Ende des Krieges durch eine politische Verhandlungslösung.

Die internationale Gemeinschaft verfügt über keine gemeinsame Strategie
Aus den USA und vor allem aus den verbündeten Staaten sind widersprüchliche Signale zu hören. Einige sprechen von der Notwendigkeit einer politischen Lösung durch Verhandlungen mit den Aufständischen, andere plädieren für die Tötung der Führer der Aufständischen. Auch über die Ziele ihres jeweiligen Einsatzes äußern sich die jeweiligen Regierungen unterschiedlich.

Die afghanische Regierung kann nicht zu einer Lösung beitragen
Die Regierung Karzai gilt nicht nur im Ausland als korrupt. Sie hat auch im afghanischen Volk keine Vertrauensbasis mehr, da sie nicht die Interessen des afghanischen Volkes vertritt. Sie verfügt auch über keine nationale Strategie für die Lösung des Konflikts.

Afghanistan braucht eine nationale Übergangsregierung
Um einen Weg aus dem Krieg und hin Weg zu Frieden, Stabilität und Sicherheit zu fi nden, braucht Afghanistan eine nationale Übergangsregierung, die in der Lage ist, eine sofortige Aufnahme von Gesprächen mit allen politischen Konfliktparteien zu realisieren. Dazu sind unterschiedliche Schritte in mehreren Phasen erforderlich.

1. Phase Vertrauensbildende Maßnahmen
Um den Friedensprozess in Afghanistan zu beschleunigen, müssen die Medien diesen Prozess unterstützen. Dafür ist ein anderer Umgang mit den politischen Gegnern erforderlich. Begriffe wie Rebellen, Terroristen, Radikal-Islamisten o.ä. müssen künftig vermieden werden.

Alle Konfliktparteien verpflichten sich zur Achtung der UNO-Charta und der UNO-Menschenrechtscharta als Grundlage für die innen- und außenpolitische Zukunft Afghanistans.

Freilassung von politischen Gefangenen
Als Zeichen des guten Willens ist auf beiden Seiten die Freilassung von Gefangenen erforderlich. Die Freilassung von weiteren Gefangenen muss im Laufe der Friedensgespräche erfolgen.

Waffenstillstand
Alle Seiten erklären ihre Bereitschaft zu einem sofortigen und allseitigen Waffenstillstand.

Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen (UN) wird eine Kommission zur Überwachung und Einhaltung des Waffenstillstandes gebildet. Dieser Kommission gehören Vertreter der Übergangsregierung, der Opposition, der Armee und des bewaffneten Widerstandes sowie der internationalen Truppen (ISAF) an. Die UN bestimmen neutrale Beobachter, von denen einer den Vorsitz der Kommission übernimmt.

2. Phase: Petersberg II
Unter Vorsitz der UN wird eine zweite „Petersberg-Konferenz“ einberufen.

In dieser Konferenz müssen sowohl die afghanischen als auch die internationalen und regionalen Interessen berücksichtigt werden. Diese Konferenz wird außerhalb Afghanistans stattfinden und sie muss in der Lage sein, auf die afghanische Regierung Druck auszuüben, damit diese die Weichen für den Friedensprozess in Afghanistan stellt.

Die jetzige Regierung hat ihre erste Legitimation auf der ersten Petersberg-Konferenz erhalten. Daher ist eine neue Konferenz in diesem Rahmen geeignet, die ursprüngliche Legitimation zu überprüfen.

An der zweiten „Petersberg-Konferenz“ sollen Angehörige der Konfliktparteien, wie z.B. Vertreter der NATO, Mitglieder der Kabuler Regierung und Vertreter des bewaffneten Widerstands sowie einflussreiche afghanische Stammesführer teilnehmen.

Hauptthemen der zweiten „Petersberg-Konferenz“ sind:

  • Vereinbarungen zwischen dem bewaffneten Widerstand und der Nato.
  • Einigung auf einen Zeitplan für einen Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan.
  • Garantien für die Souveränität Afghanistans (keine Einmischung in die innerafghanischen Angelegenheiten).
  • Weichenstellung für eine Übergangsregierung. Dieser Regierung dürfen nur erfahrene und neutrale Mitglieder angehören.

Die Übergangsregierung muss in der Lage sein, einen Rahmen für die Zukunft des Landes und für einen Frieden in der Region, u.a. durch eine gemäßigte und auf Ausgleich bedachte Außenpolitik zu schaffen.

Für die Lösungssuche bietet der bewaffnete Widerstand an, seine Beziehungen zu den Staaten, die den Widerstand bisher unterstützt haben, abzubrechen. Darüber hinaus sichert der bewaffnete Widerstand seinen Verhandlungspartnern verbindlich zu, keinerlei Unterstützung von ausländischen Kämpfern in Afghanistan anzunehmen oder zu dulden.

Die Internationale Gemeinschaft sichert den Fortbestand der bisherigen Hilfsleistungen an Afghanistan zu und fördert den wirtschaftlichen Aufbau und die Ausbildung von Fachkräften.

3. Phase: Rahmenbedingungen für weitere Gespräche und Verhandlungen
Gespräche über eine Friedenslösung für Afghanistan müssen auf verschiedenen weiteren Ebenen geführt werden.

  • Innerafghanische Gespräche: Dazu wird eine Jirga gebildet, der in der ersten Phase ausschließlich Stammesführer angehören, die alle Nationalitäten und zumindest die wichtigsten Stämme Afghanistans vertreten. Diese Jirga erarbeitet zuerst die Modalitäten für die innerafghanischen Gespräche und Verhandlungen und zieht danach Vertreter der unterschiedlichen Konfliktparteien hinzu.
  • Internationale Ebene: nachdem in der zweiten Petersberg-Konferenz und im innerafghanischen Dialog wesentliche Fortschritte erzielt worden sind, wird eine internationale Konferenz Afghanistans und seiner Nachbarstaaten (Pakistan, Iran, Usbekistan, Tadschikistan u.a.) unter der Obhut der UN vorbereitet, um die Souveränität Afghanistans wiederherzustellen und einen Weg zu Frieden und Sicherheit in der Region zu ebnen. Vor allem Staaten wie Indien, China, Russland, USA, die europäischen Länder sowie die Islamische Konferenz und blockfreie Länder müssen als Beobachter und Garantiemächte an einer solchen Konferenz teilnehmen, um künftige Interventionen auszuschließen.
  • Gespräche zwischen ISAF und Aufständischen: Neben der Suche nach einem innerafghanischen Lösungsweg für eine friedliche Zukunft des Landes sind direkte Gespräche zwischen ISAF und den Aufständischen nötig, um den Weg für eine dauerhafte Beendigung des Krieges, eine international akzeptierte Friedenslösung und den Abzug der internationalen Truppen freizumachen.

4. Übergangsphase
Die zu schaffende Übergangsregierung übernimmt für den Zeitraum von zwei Jahren die Verantwortung für folgende Aufgaben:

  • Schaffung eines gesunden Regierungsapparats ohne Korruption
  • Entwurf einer neuen Verfassung, die durch die traditionelle Loya Jirga beraten und beschlossen wird. Bis zur Umsetzung der neuen Verfassung behält die alte Verfassung ihre Gültigkeit. Die neue Verfassung wird nicht im Gegensatz zu den Vereinbarungen der zweiten Petersberger Konferenz stehen. Daher behalten diese Vereinbarungen neben der neuen Verfassung ihre Gültigkeit.
  • Vorbereitung von Neuwahlen, an denen sich keine Mitglieder der Übergangsregierung beteiligen dürfen.
  • Einhaltung der Bestimmungen zum Zeitplan des etappenweise Abzuges der ausländischen Truppen.
  • Aufbau der Sicherheitskräfte mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Dafür sind weitere Gespräche erforderlich.
  • Entwaffnung aller Kämpfer der Widerstandsgruppen, der unterschiedlichen Milizen und der kriminellen Gruppen.
  • Gemeinsames Vorgehen mit der UN gegen Kriegsverbrecher. Dabei ist auch der Internationale Strafgerichtshof einzubeziehen.
  • Bekämpfung von Drogenanbau.
  • Entwicklung einer gemäßigten und auf Ausgleich und gute Nachbarschaft zielenden Außenpolitik.
  • Eine umfassende Reform (Wirtschaft, Soziales, Gesellschaft und Kultur).

5. Sicherheit in der Übergangsphase
Aufgabe der Übergangsregierung ist es, mit Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft neue Sicherheitsorgane aufzubauen. Dieses ist ein schwieriger und möglicherweise auch langwieriger Prozess.

Erster Schritt muss die Entwaffnung aller illegal bewaffneten Gruppen und Milizen sowie der privaten Sicherheitsfirmen sein.

Zum Aufbau neuer Sicherheitsorgane wird eine Koordinierungszentrale aus den bisherigen nationalen Sicherheitskräften und den Widerstandskämpfern geschaffen. Die Widerstandskämpfer werden sich gegenüber der Übergangsregierung loyal verhalten.

Sobald die Übergangsregierung die Sicherheitslage vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hat, konzentrieren die internationalen Truppen in Absprache mit der Übergangsregierung ihre Tätigkeit auf die Kontrolle der Grenzen und der Transferrouten zur Verhinderung von Waffenschmuggel. Im Verlauf des Abzuges der internationalen Truppen geben diese ihre Aufgaben nach und nach an die Übergangsregierung ab.

Sollte die Übergangsregierung im Zusammenhang mit dem Abzug der internationalen Truppen Bedarf an internationaler militärischer Unterstützung zur Aufrechterhaltung der Sicherheit haben, wird sie sich an die UN mit der Bitte wenden, Friedenstruppen aus islamischen Ländern, nicht jedoch aus Nachbarländern Afghanistans zu senden. Diese UN-Friedenstruppen müssen unmittelbar UN-geführt sein, sie dürfen nicht an einzelne Staaten oder eine Staatengruppe mandatiert sein. Die Friedenstruppen müssen die Übergangsregierung unterstützen und die Übergangsregierung entscheidet allein, wie lange ihre Präsenz erforderlich ist und wann die Übergangsregierung allein für Sicherheit sorgen kann

Kabul, Mai 2011

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Naqibullah Shorish ist nationaler Stammesführer der Kharoti.