Der Streit um das Kirchenasyl

von Wolf-Dieter Just
Hintergrund
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Die öffentliche Diskussion um das Kirchenasyl

Obwohl es schon seit 11 Jahren immer wieder Gemeinden gibt, die an Leib und Leben bedrohten Flüchtlingen Kirchen­asyl gewähren, kam erst seit Anfang dieses Jahres eine breite öffentliche Diskussion hierüber in Gang. Ein Anlass dazu war ein Kirchenasyl für 17 von Abschiebung bedrohte Angolaner in Berlin. Der Innensenator Heckelmann forderte den Berliner Kardinal Ster­zinsky auf, das Verhalten der Pfarrge­meinden "und das damit einhergehende öffentliche Auffordern zum Rechts- und Gesetzesbruch" zu missbilligen. Als die­ser sich weigerte und sich sogar demon­strativ vor die Gemeinde stellte, kam es zu einem Konflikt, der weit über Berlin hinaus Beachtung fand.

Ein zweiter Auslöser für die Diskussion war die Gründung der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" anläßlich einer Tagung der Ev. Akademie Mülheim im Februar. Diese Gründung nahm der nordrhein-westfäli­sche Innenminister Schnoor zum Anlass, die Praxis der Gewährung von Kirchen­asyl scharf zu kritisieren. Er nannte es anmaßend, wenn Christen beider Kon­fessionen die Anwendung des Gesetzes von ihrer individuellen Gewissensent­scheidung abhängig machten.

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Den letzten und entscheidenden Anstoß erhielt die öffentliche Diskussion durch ein Spiegel-Interview mit dem Vorsit­zenden der Katholischen Bischofskonfe­renz, Karl Lehmann, in dem er die Ge­wissensentscheidung des Einzelnen verteidigt. Nun sah sich Bundesinnen­minister Kanther zu einer Reaktion her­ausgefordert. Er warf den Kirchen vor, eigenes Recht für sich zu beanspruchen, den Rechtsstaat mit solchen Aktionen in Frage zu stellen. Die Kirchen hätten kein Recht, der deutschen Justiz zur Ab­schiebung anstehende Asylbewerber zu entziehen.

Positionen im innerkirchlichen Mei­nungsstreit

Bald sollte es aber auch innerhalb der Kirchen zu Meinungsverschiedenheiten über Fragen des Kirchenasyls kommen. Hauptanlass waren die 10 Thesen des Rates der EKD vom 9./10. September 94 zu diesem Thema. Darin wird erklärt, daß es eine "christliche Beistands­pflicht" gibt und daß dies auch Men­schen gegenüber gilt, "die sich durch die Ablehnung ihres Asylgesuchs und die danach anstehende Abschiebung an Leib und Leben bedroht sehen". Ein solcher Beistand durch Gewährung von Unter­kunft, Betreuung, Rechtshilfe und öf­fentliche Appelle sei zunächst nicht rechtswidrig. Asyl könne allerdings nur der Staat, nicht die Kirche gewähren. Wo Hilfe in rechtswidriger Form ge­währt werde - etwa durch Verstecken - dürfte "die Kirche als handelnde und verantwortliche Institution" nicht in An­spruch genommen werden. Wer dies dennoch tue, "muß dies allein verant­worten und die Folgen seines Handelns selbst tragen". Das Thema "Kirchenasyl" dürfe "nicht zu einem grundsätzlichen Konflikt von Kirche und Staat gemacht werden."

Dies ist allgemein als klare Distanzie­rung vom Kirchenasyl verstanden wor­den, da - so jedenfalls die vorherr­schende Meinung - dies immer mit ge­wissen Verstößen gegen die Rechtsord­nung verbunden ist. Es wird ja zunächst einmal die Absicht einer Behörde durchkreuzt, einen Flüchtling abzu­schieben. Dies kann zumindest als Bei­hilfe zu illegalem Aufenthalt und als Verstoß gegen das Ausländergesetz be­wertet werden. So wie es aber zu Rechtswidrigkeiten kommt, lehnt der Rat jede Verantwortung der Kirche ab. "Wer die Kirche oder eine bestimmte Gemeinde in den Rechtsbruch hinein­ziehen will, begründet damit Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner persönlichen Gewissensentscheidung und an seiner Bereitschaft, die Folgen seines Handelns auf sich zu nehmen."

Dementsprechend wurde die Erklärung von Gegnern des Kirchenasyls begrüßt, von Befürwortern kritisiert. Bittere Kla­gen kamen von kirchenasylgewährenden Gemeinden, die sich vom Rat im Stich gelassen fühlten. In der Auseinanderset­zung mit Politikern und Behörden wür­den ihre Positionen geschwächt. Da nützte es Vertretern des Rates wenig, wenn sie auf die These 7 verwiesen, nach der die EKD den "Christen, die aus Gewissensgründen bei ihrer Hilfe für Bedrängte gegen gesetzliche Verbote verstoßen", Gebet, Seelsorge, Respekt und Schutz nicht verweigern will.

Tatsächlich wird in den Thesen die Ver­antwortung individualisiert, von der Kirche auf die einzelnen Christen abge­wälzt.

In einer Erklärung der Bundesarbeits­gemeinschaft "Asyl in der Kirche" heißt es hierzu: Die Frage des Kirchenasyls dürfe nicht in dieser Weise "individualethisch verengt werden. Wo der gegenwärtige Abschieberigorismus Menschen in Gefahr für Leib und Leben bringt, hat nicht nur der einzelne Christ, sondern die Kirche zu widerstehen". Dieser Kritik schloss sich die Delegier­tenversammlung der Ev. Studentenge­meinden in der Bundesrepublik an und warf dem Rat vor, er entsolidarisiere sich von den Kirchengemeinden. Der Schutz des Lebens und die Würde von Flüchtlingen müsse über staatliche An­ordnungen gestellt werden. Der Rat habe mit diesen Thesen "jede Form von Neutralität gegenüber dem Staat verlas­sen und sei bemüht, sich als staatstra­gende Kirche zu erweisen". - Weniger polemisch, in der Sache aber ähnlich, erklärte der Bischof der Ev. Kirche Ber­lin-Brandenburg, Wolfgang Huber, ge­genüber dem Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt (30.06.94) zur These 6 des Rates: "Problematisch ist die These, die Verantwortung für die Folgen des "Kirchenasyls" müssten die einzelnen allein tragen. Beschlüsse zum Schutz von Flüchtlingen werden aber von Ge­meindekirchenräten getroffen. Diese gemeinschaftlich getroffene Entschei­dung darf nicht individualisiert werden. Wir dürfen die Gemeinden nicht im Stich lassen."

Die beiden Ausländerbeauftragten der Ev. Kirchenprovinz Sachsen, Eberhard und Christina Vater, kritisierten, daß die EKD einem möglichen Verstoß gegen den Rechtsstaat mehr Bedeutung bei­messe als der Gefahr für Leib und Le­ben einzelner Flüchtlinge. Den Gemein­den sollten offenbar Grenzen gesetzt werden bei der Gewährung von Kir­chenasyl. Erwähnt sei schließlich die Kritik, die bei der kurz nach der Ratser­klärung tagenden Konferenz der Aus­länderreferenten der Gliedkirchen laut wurde. Die Erklärung falle weit hinter das zurück, was einzelne Gliedkirchen der EKD zum Thema "Kirchenasyl" hatten verlauten lassen. Kirchenasyl ge­höre in die Verantwortung der Kirche. Sie habe ein "Wächteramt" im Staat und sei herausgefordert durch die Unbarm­herzigkeit der gegenwärtigen Abschie­bepraxis. Kritisiert wurde auch die These 3 des Rates, nach der die Scheu staatlicher Organe vor dem Vollzug rechtmäßiger Maßnahmen in kirchlichen Räumen nicht ausgenutzt werden dürfe. Gewiss sei es theologisch falsch, "heilige Räume" für die Kirche zu beanspruchen, in die niemand gewaltsam eindringen darf. Die Scheu vor Polizeiaktionen in der Kirche sei aber angemessen, denn in diesen Räumen wird das Evangelium des Friedens und der Versöhnung zwi­schen Gott und Menschen und der Men­schen untereinander verkündet. Die Formulierung des Rates könne von staatlichen Organen als Aufforderung aufgefasst werden, Flüchtlinge gewalt­sam aus Kirchen herauszuholen.

So ist es zu einer innerkirchlichen Pola­risierung zwischen Rat einerseits, Lan­deskirchen und Mitarbeiteren der Aus­länderarbeit andererseits gekommen, die an ähnliche Konflikte um die kirchliche Haltung zum Asylkompromiss vor zwei Jahren erinnert. Als problematisch ist auch dieses Mal die Vorgehensweise des Rates empfunden worden. Weder diejenigen in der Kirche, die praktische Erfahrungen mit Kirchenasyl haben, noch die Ausländerreferenten der Gliedkirchen wurden vor der Stellung­nahme konsultiert.

Der Versuch des Rates, mit Rücksicht auf das Verhältnis Kirche - Staat die Verantwortung beim Kirchenasyl zu in­dividualisieren, darf schon jetzt als ge­scheitert gelten. Kirchenasyl wird von Gemeinden gewährt und liegt damit in der Verantwortung der Kirche. Ob dabei Rechtsverstöße begangen werden oder nicht, ob das Verhältnis zu Staat und Politik belastet wird oder nicht - die Kirche muß dafür geradestehen und hat sich darauf zu besinnen, was in diesem sensiblen Arbeitsfeld ihr Auftrag ist.

Um dies zu klären, müssen vor allem die theologisch-ethischen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, intensiv bedacht werden. In der Demo­kratiedenkschrift hat die EKD ihrer Zu­stimmung zur freiheitlichen Demokratie im Sinne des Grundgesetzes Ausdruck gegeben. Der Staat wird in seiner ord­nenden Funktion bejaht. Zum demokra­tischen Staat gehört die Rechtsstaatlich­keit. Für den Christen wie für jeden an­dern Bürger gibt es eine Verpflichtung zur Rechtsbefolgung. Diese Verpflich­tung gilt allerdings auch für den Staat selbst und seine Organe. Wie aber hat sich die Kirche zu verhalten, wenn be­gründete Zweifel bestehen, daß gelten­des Recht durch staatliche Organe rich­tig angewendet wird? Genau darum geht es beim Kirchenasyl: Menschen sollen abgeschoben werden, denen möglicher­weise Gefahr für Leib und Leben droht. Darin liegt - wie oben erwähnt - ein Verstoß gegen unsere Rechtsordnung. Recht und Rechtsanwendung geraten in Widerspruch zueinander.

Unstrittig ist, daß die Kirche in einem solchen Fall mit allen zu Gebote stehen­den legalen Mitteln auf korrekte An­wendung des Rechts dringen soll. Wenn dies aber nicht ausreicht und hohe Rechtsgüter wie das Leben, die Freiheit und körperliche Unversehrtheit von Menschen auf dem Spiel stehen - wie hat die Kirche dann zu handeln?

Ein Widerstandsrecht wird sie nicht in Anspruch nehmen wollen. Widerstand ist gegenüber Herrschenden geboten, die keine rechtmäßige Gewalt besitzen, d.h. gegenüber Unrechtsregimen, Tyrannen, Diktatoren. Diese Situation ist in der Bundesrepublik nicht gegeben. Beim Kirchenasyl geht es nicht darum, ein solches Widerstandsrecht in Anspruch zu nehmen. Die staatliche Rechtsord­nung als solche wird nicht in Frage ge­stellt. Es geht vielmehr um Einzelmaß­nahmen von staatlich Verantwortlichen, die als unvereinbar gelten mit christli­chen Grundsätzen und allgemeinen Menschenrechten. Diesen Maßnahmen wird gezielt entgegengewirkt - wobei begrenzte Rechtsverstöße in Kauf ge­nommen werden. Über die Legitimität solchen Handelns muß weiter gestritten werden.

Gleichzeitig wird die Praxis der Gemeinden, an Leib und Leben be­drohten Flüchtlingen Schutz zu gewäh­ren, weitergehen.

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Wolf-Dieter Just ist Studienleiter an der Ev. Akademie Mülheim/Ruhr.