Die Politik muss anfangen zuzuhören

Der TikTok Erfolg der AfD in der jungen Bevölkerung

von Lisa Heinrichs
Schwerpunkt
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Zur Europawahl am 09.06.2024 durften in Deutschland zum ersten Mal Personen ab 16 Jahren wählen. Damit sind 16-Jährige neben der Kommunal- und Landtagswahl (in vielen Bundesländern) auch auf internationaler Ebene wahlberechtigt. Schon seit Jahren nutzt besonders die Alternative für Deutschland (AfD) die Chance, unter jungen Menschen für neue Stimmen zu werben. Ihr Kommunikationsweg: die sozialen Medien, insbesondere TikTok. Videos der AfD auf der Plattform TikTok wurden in den vergangenen Jahren ungefähr drei Mal so oft aufgerufen, wie die Videos aller anderen Parteien zusammen (1). Warum sind Aufrufzahlen auf TikTok für die Regierung und die alltägliche Politik relevant?

Viele Jugendliche fühlen sich zunehmend weniger bis gar nicht von der Regierung und ihrer Politik verstanden und repräsentiert. (2) Bereits 2019 beschäftigte sich Andrea Römmele in der Wochenzeitung „Die ZEIT“ mit der Frage, ob Parteien noch zukunftsfähig sind. Sie stellt fest: „Zwischen Parteien und Jugend fehlt die Kommunikation.“ (3) Genauer gesagt fehlt eine Kommunikation auf Augenhöhe, bei der auf die Bedürfnisse der jungen Bevölkerung ernsthaft eingegangen wird.

Jugendliche verlieren zunehmend das Vertrauen in die Politik, aber auch in die Beeinflussbarkeit ihrer eigenen Lebensumstände. (4) Die AfD nutzt diesen Unmut, dieses Gefühl des Nichtverstanden-Werdens, um die Kommunikation an dem Ort zu beginnen, den viele Jugendliche als „geschützten, privaten Raum“ wahrnehmen: die sozialen Medien. Auch wenn „geschützt“ und „privat“ vielleicht keine Wörter sind, die man als außenstehende Person mit den sozialen Medien verbindet, bieten sie doch für viele Jugendliche einen Zufluchts- und Rückzugsort. (5) Einen Raum, scheinbar geschützt vor der Realität. Und genau dieser Ort dient nun der AfD als Mittel, um ihre populistischen Aussagen und Meinungen „auf Augenhöhe“ in der jungen Bevölkerung zu verbreiten. Die verkürzte Art der Kommunikation über soziale Medien kommt dabei der populistischen Informationsverbreitung zugute. Denn Strategien, die Politiker*innen von Parteien wie der AfD schon seit Jahren nutzen, sind in den sozialen Medien besonders gut und vor allem leicht auf viele Menschen gleichzeitig anwendbar. Um die 50% der 12- bis 19-Jährigen verwendeten im Jahr 2022 beispielsweise regelmäßig TikTok. (6) So erreichen Videos auf der Plattform schnell ein sehr großes und junges Publikum. Populistische Sprache setzt auf klare ideologische Abgrenzung zu anderen Parteien. Einfache Redeweisen sowie intensive Bilder, gebunden an starke Emotionen, wie beispielsweise Angst oder Wut, werden praktiziert. Das Ziel populistischer Kommunikation: Das Hervorrufen eines Wir-Gefühls. Besonders Emotionen eignen sich gut, um eine scheinbare Bindung zu einzelnen Bürger*innen aufzubauen. (7) Und es scheint zu funktionieren.

Die Wahlerfolge der letzten Jahre
Die hohen Klickzahlen der TikTok Videos der AfD sind jedoch nicht nur ein internetbezogenes Phänomen, sondern haben auch Relevanz für die alltägliche Politik. Das zeigt unter anderem die vielzitierte Studie „Jugend in Deutschland 2024“. Der Studie von Klaus Hurrelmann, Kilian Hampel und Simon Schnetzer aus dem Frühjahr 2024 zufolge wendet sich die junge Bevölkerung immer stärker der AfD zu. Demnach würden 22% der 14- bis 29-Jährigen, die eine Parteipräferenz haben und wählen gehen würden, die AfD wählen, falls morgen Bundestagswahl wäre. (8) Dabei ist nicht nur die Präsenz der AfD in sozialen Medien relevant, sondern viele Faktoren, wie beispielsweise die verschiedenen Krisen, die die (junge) Bevölkerung belasten und bei denen auf komplexe Fragen einfache Antworten gesucht werden. (9) Ob ausgehend von der Datenlage der Studie allerdings von einem Rechtsruck der jungen Bevölkerung gesprochen werden kann, wird von kritischen Stimmen infrage gestellt. (10) Doch die Landtagswahlen 2023 haben in mehreren Bundesländern gezeigt: Die AfD kann unter jungen Menschen immer mehr Stimmen für sich gewinnen. So gaben in Bayern etwa 16 % der zwischen 18- und 24-Jährigen an, die AfD gewählt zu haben, 9% mehr als noch 2018. (11) Auch in Hessen konnte die AfD unter der jungen Wählerschaft Erfolge verzeichnen. 18% der Altersgruppe gaben an, die AfD gewählt zu haben, 8% mehr als noch 2018. (12)

Am 9. Juni 2024 fanden die EU-Wahlen statt, und auch hier hat die AfD deutlich an Stimmen in der jungen Bevölkerung dazugewinnen können. So konnte die AfD in der Altersgruppe unter 25 Jahren um 11 Prozentpunkte im Vergleich zur Wahl 2019 zulegen und erreichte somit 16%. Insgesamt wurde die AfD zweitstärkste Kraft, trotz Ausschluss aus der Rechtsaußen-Fraktion Identität und Demokratie, trotz verharmlosender Äußerungen zur SS (13), trotz Ermittlungen wegen Nazi-Parolen (14) und vielem mehr.

Nächstes Jahr stehen in Deutschland die Bundestagswahlen an. Das sollte der letzte Warnschuss für alle anderen Parteien sein. Die Politik der Parteien, vor allem der Regierungsparteien, muss wieder auf Augenhöhe stattfinden. Diskriminierende, hasserfüllte, demokratieverachtende Sprache darf nicht den öffentlichen und medialen Raum einnehmen und bestimmen. Die Parteien müssen wieder den Zugang zur (jungen) Bevölkerung finden und anfangen zuzuhören. Damit ist nicht gemeint, jetzt aus Verzweiflung und Überstürzung eine Reihe von Videos in den sozialen Medien zu verbreiten, um Monate später nachzuziehen. Sondern sich stattdessen tatsächlich mit den Fragen auseinanderzusetzen: Was für Bedürfnisse und Ängste haben junge Menschen? Was fehlt ihnen im jetzigen politischen Handeln? Und letztendlich auch: Warum wählen immer mehr Jugendliche die AfD?

Denn nur wenn endlich Fragen gestellt werden und sich die Regierung und die Parteien ernsthaft für die Antworten interessieren, kann gute Kommunikation auf Augenhöhe gelingen. Ohne das Fragenstellen findet überhaupt keine Kommunikation statt. Nur wenn die Politik damit anfängt, hat sie eine Chance, für die Jugendlichen und vielleicht auch die Bevölkerung insgesamt wieder zukunftsfähig zu werden.

Anmerkungen
1 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/afd-tiktok-erfolg-str...
2 https://simon-schnetzer.com/trendstudie-jugend-in-deutschland-2024/
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-04/parteipolitik-politikver...
4 https://www.sueddeutsche.de/politik/jugendstudie-2024-jugend-in-deutschl...
5 https://www.ard-media.de/fileadmin/user_upload/media-perspektiven/pdf/20...
6 ebda.
7 Wehling, E. (2018). Politisches Framing: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht. Ullstein Buchverlage
8 https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/studie-jugend-stimmung-rechts-10...
9 https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/jugendstudie-109.html
10 https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/kritik-an-jugendstudie-si...
11 https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2023-10-08-LT-DE-BY/umfrage-alter....
12 ebda.
13 https://www.tagesschau.de/europawahl/parteien_und_programme/krah-afd-eur...
14 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/landgericht-anklage-a...

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Lisa Heinrichs studierte bis 2024 Psychologie (BA) an der Universität Konstanz und machte vor Beginn ihres Masters ein Praktikum beim Netzwerk Friedenskooperative. Sie interessiert sich besonders für die Schnittstelle zwischen Psychologie und Politik.