Der "Versöhnungshorizont" - ein hilfreiches Konzept für die friedenspolitische Praxis

von Iris Smidoda
Das Konzept des "Versöhnungshorizonts" wird vorgestellt in einem Aufsatz (1) von Juan Gutierrez, Direktor des Gogoratuz Zentrums für Friedensforschung in Gernika. Ausgehend von einem konstatierten Mangel an Reflexion über "Versöhnung" in der Friedensforschung und der friedenspolitischen Praxis, versucht Gutierrez, sich unter Berücksichtigung verschiedener Auffassungen von "Versöhnung" dem Versöhnungsbegriff zu nähern. Ziel seiner Überlegungen ist es, denjenigen Versöhnungsbegriff zu finden, "der am meisten für den Frieden, d.h. auch für das Transformationspotential des Friedens zu versprechen scheint.(156). (2)

Zunächst geht er dabei von einem Versöhnungsbegriff aus, den er als gemeinsamen Nenner der verschiedenen Auffassungen von Versöhnung bestimmt: Versöhnung wird verstanden als "eine prozesshafte Wende zu einer beiderseitigen, oder allseitigen, positiven, dauerhaften Grundhaltung des gegenseitigen Vertrauens, der Bereitschaft, zueinander zu stehen und miteinander die Zukunft zu gestalten unter Menschen oder Menschengruppen, die sich Leiden, Schäden, Verluste, Erniedrigungen angetan haben und irgendwie ablehnend oder feindlich zueinander gestanden haben".

Um die Zusammenhänge einzuordnen, die Versöhnung bestimmen und einen für seine Ziele hilfreichen Versöhnungsbegriff weiter zu spezifizieren, greift Gutierrez zurück auf die Konflikttheorie Johan Galtungs. Entscheidend ist in Galtungs Ansatz die Verwobenheit der verschiedenen Ebenen, die durch die Dreiecke dargestellt werden. Beispielsweise müssen die drei Prozesse - Lösung des zugrundeliegenden Konfliktes, Rekonstruktion der reversiblen Schäden und Versöhnung der Konfliktparteien - gleichzeitig vorangetrieben werden. Das Gelingen des einen Prozesses ist vom Erfolg des anderen abhängig: Versöhnung gelingt dann am besten, wenn die Parteien kooperieren bei der Lösung des Konfliktes und der Rekonstruktion, andererseits sind Wiederaufbau und Versöhnung ohne Lösung des zugrundeliegenden Konfliktes nicht von Dauer. Gutierrez nimmt die Dreiecke Galtungs als Grundmuster, um sich "im Rahmen der Friedensbildung ... auf das Spezifische der Versöhnung, der einen Ecke, zu beschränken" (193).
 

 
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FF2004-1

  Der "Versöhnungshorizont": Versöhnung mit dem Blick nach vorne

Gutierrez kritisiert eine reduktive Auffassung von Versöhnung, bei der Versöhnung als etwas aufgefasst wird, das "erst am Ende eines Streites stattfindet, als letztes Kapitel in der Austragung eines Konfliktes". Ein solches Verständnis von Versöhnung geht davon aus, dass der Konflikt in einem "vorletzten Kapitel" erst gelöst werden muss und erst nach dieser objektiven Lösung der Rahmen existiert, in dem dann die "subjektive Lösung", die Versöhnung, folgen kann. Versöhnung wird so auf bloße Prävention reduziert, die "die Lasten der Vergangenheit irgendwie zu entsorgen hat, damit sie nicht zu Hindernissen für die Gestaltung der Zukunft in dem neu festgestellten Rahmen werden". Damit verliert Versöhnung jedoch ihre transformative Kraft. Versöhnung wird als das subjektive Element verstanden, das in dem neuen objektiven Rahmen zu dessen Stabilisierung einfließen soll. Eine so verstandene Versöhnung "stellt keine Forderung an die Zukunft, sondern gibt sich mit der Zukunft zufrieden, die die Verhandlungen und Abkommen bereit gestellt haben" (175).

Dem stellt Gutierrez Versöhnung als gestalterische Kraft entgegen, die auch Konfrontation und Entfernung vom Konfliktpartner nicht ausschließt. Sie schafft nicht erst nach der Lösung eines Konfliktes dieser Lösung Dauerhaftigkeit, sondern wirkt entlang des gesamten Konfliktprozesses als Antrieb und Orientierung für seine friedvolle Austragung und Transformation: "Zu behaupten, dass Versöhnung nur dann möglich ist, wenn es die Strukturen erlauben, würde heißen, dass das Subjektive hinter dem Objektiven nachzuhinken und sich bloß einzureihen hat. Das Subjektive soll aber das Objektive leiten, in Frage stellen und transformieren. Es kommt auf den Vorsprung des Subjektiven vor dem Objektiven an. Dieser treibende und anleitende Vorsprung ist der Versöhnungshorizont. Er ist noch keine vollendete Versöhnung, weil die Strukturen es nicht erlauben, er leitet aber die Transformation der Strukturen, damit strukturelle Gewalt überwunden wird und die Verwirklichung der Versöhnung stattfinden kann."

Eines von vielen Beispielen, mit denen Gutierrez das Konzept des Versöhnungshorizontes verdeutlicht, ist der Kampf Martin Luther Kings gegen die "Rassentrennung" in den USA. Kings berühmte Rede "I have a Dream" wird beschrieben als dessen "Versöhnungshorizont", als Vision von einem friedlichen und freundschaftlichen Zusammenleben von Schwarzen und Weißen. "Der Weg zu diesem Horizont ist nicht geradlinig. King ging nicht zur rassistischen Stadtverwaltung mit dem Angebot, sich Schritt für Schritt zu versöhnen, heute fünf Prozent, morgen zehn Prozent. Um den Weg zum Versöhnungshorizont frei zu machen, mussten zuerst die rassistischen Gesetze abgeschafft werden - eine strukturelle Änderung, die nur mit Widerstand, Auflehnung und Anklage zu bewerkstelligen war ... Martin Luther King jr. führte bis zu seinem Tod den Kampf für die Zivilrechte der Schwarzen ... Als er getötet wurde, war die Stunde der Versöhnung noch lange nicht gekommen" (176).

Unterscheidung zwischen gesellschaftlicher und persönlicher Versöhnung

Gutierrez unterscheidet persönliche und gesellschaftliche Versöhnung voneinander. Beide sind eng miteinander verbunden, sollten analytisch aber dennoch getrennt werden. Im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Versöhnung ist es wichtig zu erkennen, dass sich der Versöhnungsprozess nicht nur unmittelbar auf Täter und Opfer bezieht. Gutierrez spricht von einer "Menschenkette der Versöhnung": "Die direkt in Taten verwickelt waren und ihre Opfer tragen weder für jene Untaten noch für die Versöhnung die ausschließliche Verantwortung. Täter und Opfer machen die Schritte der Versöhnungsprozesse nicht allein ... Der Weg zwischen Tätern und Opfern verläuft über viele Menschen, Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn, Dritte. In einer ersten Phase wird vielleicht das betroffene Opfer seinen gebrochenen Lebensweg wieder aufnehmen, seine Lebensziele neu bestimmen, seine affektiven Bindungen neu entfalten, seine gebrochene Selbstachtung und Würde ... allmählich wieder herstellen. Dabei wird er die Nähe anderer Menschen erfahren, wird ihm von ihnen geholfen ... Der Täter der Untat bildet sozusagen den Schluss- und Endpunkt eines langen Weges." Was diese Unterscheidung in der politischen Praxis heißt, sei an folgendem Beispiel illustriert: In der Gruppe "Denon Artean, Frieden und Versöhnung" haben sich Opfer der ETA zusammengeschlossen, um für Versöhnung im Baskenland einzutreten. Die Gruppe verlangt schärfere Bekämpfungsmaßnahmen gegen die ETA und versucht beispielsweise den Einfluss von ETA-Angehörigen in Schulen zurückzudrängen. In der Gruppe sind viele, die nicht bereit sind, sich mit den Mördern ihrer Angehörigen zu versöhnen. Trotzdem setzten sie sich auf der politischen Ebene ein für die Rechte von ETA-Gefangenen in den Gefängnissen. Ihr Versöhnungshorizont ermöglicht trotz ihrer persönlichen Unversöhntheit ein gesellschaftliches Eintreten für Versöhnung - ohne gleichzeitig ihre Kampfbereitschaft und Konfrontation zu schwächen.

Strafe, Wahrheit und Versöhnung

Gutierrez widmet sich auch den komplizierten Zusammenhängen, die zwischen Strafe, Wahrheit und gesellschaftlicher Versöhnung bestehen. In den Bereich der Reconstruction, der "Wiedergutmachung" gehören auch Rechenschaft, Bestrafung (Retribution) und Wahrheitsfindung. Er greift zurück auf die Erfahrungen in den Versöhnungsprozessen in Lateinamerika und Südafrika, um die Frage zu erläutern, inwiefern in einem Versöhnungszusammenhang "Bestrafung vollzogen oder aufgehoben werden kann und soll." Er stellt dar, wie in Argentinien und Chile Versöhnung als "Euphemismus für Impunität" (Straffreiheit) erlebt wurde und die Täter mit dem Rest der ihnen noch verbliebenen Macht Gesetze zur Ausklammerung der Vergangenheit erzwangen - mit entsprechend negativen Auswirkungen auf den Versöhnungsprozess: "Dadurch wird Versöhnung verfehlt, sogar das Gegenteil erreicht - statt der präventiven Wirkung der Versöhnung wird eine erneute Gewaltausübung angelegt".

Andererseits weist er hin auf die Bedeutung der Wahrheitsfindung für den Prozess der Versöhnung. Damit die Betroffenenen nach einer traumatisierenden Unrechtserfahrung handlungsfähig weiterleben können, müssen die Wahrheit und angemessene gesellschaftliche Resonanz gefunden werden. Versöhnung stiftende Wahrheitsfindung ist jedoch vor Gerichten schwer zu realisieren, weil hier die Wahrheit Beweislast für Strafe bedeuten kann. "Eine erzwungene Wahrheit bildet keine Grundlage einer befreienden Versöhnung." (169)

Letzten Endes wird deutlich, dass die Spannung zwischen Strafe, Wahrheit und Versöhnung nicht aufgehoben werden kann. Im Einzelfall muss genau geprüft werden, ob Vergeltung oder Straffreiheit dem Versöhnungsprozess jeweils förderlich ist. Der Versöhnungshorizont kann für diese Prüfung Maßstab sein: "Jedem das Strafmaß zu versetzen, das er verdient hat, ist vordergründig. Die Strafjustiz soll nach ihrem Horizont hinterfragt werden. Es mag Vergeltung sein oder soziale Reintegration, was zuletzt Versöhnung ist. Vergeltung gehört zur Kriegskultur, Reintegration zur Friedenskultur. Die Orientierung der Justiz am Versöhnungshorizont ist die Logik der Justiz in einer Kultur des Friedens." (171)

Versöhnung als kultureller Hintergrund der Konfliktbearbeitung

Gutierrez betont die Verwandschaft von Konfliktbearbeitung und dem Versöhnungshorizont. Der Versöhnungshorizont, im Rückgriff auf Galtung verstanden als "Kultur und Haltung", eignet sich als Rahmen für die Entwicklung von Grundregeln der Konfliktbearbeitung. "Der Sinn der Konfliktaustragung ist die Suche nach einer strukturell begründeten und vergangenheitsheilenden Versöhnung. Mit anderen Worten: Der Versöhnungshorizont bildet den kulturellen Hintergrund der Konfliktaustragung." (190) Die der modernen Konfliktbearbeitung zugrunde liegenden Regeln und Prinzipien versteht Gutierrez als Instrumentalisierungen des Versöhnungshorizontes. Exemplarisch nennt er u.a.:
 

 
      bei der konsequenten Vertretung des eigenen Standpunktes aufmerksam und ehrenvoll mit anderen Menschen umgehen und ihre Würde achten;
 
 
      Einbeziehung aller vom Konflikt betroffenen in die Entwicklung einer Lösung;
 
 
      Bejahung und Akzeptanz der ethischen Standpunkte aller Konfliktparteien.
 
 
    Entsprechend seinem Verständnis von Versöhnung als transformativem Prozess tritt Gutierrez ein für ein prozessorientiertes Verständnis von Konfliktbearbeitung. Nicht das Erreichen von Vereinbarungen, Lösungen ist das primäre Ziel, sondern die Humanisierung des Konfliktprozesses entlang des gesamten Konfliktverlaufs. "Bei der Konfliktaustragung hat eine Verlagerung ihrer Orientierung stattgefunden ... Neben der Schlichtung der Sachfrage, der Streitmasse kommt es ihr hauptsächlich auf die Wiederherstellung und Festigung, Gesundung, der Beziehungen zwischen den Konfliktteilen an." In dieser Verlagerung der Zielrichtung der Konfliktbearbeitung von einer ergebnisorientierten "Conflict Resolution" (Konfliktlösung) hin zu einer prozessorientierten "Conflict Transformation" (Konflikttransformation) tritt der Zusammenhang von Versöhnungshorizont und Konfliktbearbeitung klar zutage. Ebenso wie die Versöhnung zielt die langfristig angelegte Konflikttransformation ab auf die dauerhafte Wiederherstellung der gestörten Beziehungen zwischen den Konfliktparteien. "Versöhnung ist Konfliktaustragung, sie hat aber größere Dimensionen und mehr Tiefgang." (188)

Vorteile des Konzeptes in der Praxis der Konfliktbearbeitung

Das Konzept des Versöhnungshorizonts ist in verschiedener Hinsicht hilfreich in der Konfliktbearbeitung und friedenspolitischen Praxis:

1. Es ermöglicht ein konkretes Engagement für Versöhnung nicht nur nach Beendigung eines Konfliktes, sondern entlang aller Phasen des Konfliktes.

2. Den in den Konflikt intervenierenden Dritten verleiht das konsequente Eintreten für Versöhnung eine Identität gegenüber den Konfliktparteien und lässt sie so glaubwürdig werden: "Für die Teile im Konflikt ist ein Mediator verwirrend, wirkt undurchsichtig und erscheint als Vertreter von unausgesprochenen Interessen, wenn er bloß das Vertrauen und die Freundschaft jedes Teiles sucht. Glaubwürdig wird er erst, wenn er sein Engagement für Versöhnung als Hintergrund für dieses Werben um Vertrauen und Freundschaft zur Geltung bringt." (192)

3. Versöhnung, die manche, so Gutierrez, "für eine moralische Idee gehalten haben mögen, die in kirchlichen Räumen als spirituelles Element ihren Platz hat" (153), wird konkret und handhabbar. Übersetzt in Methoden der Konfliktbearbeitung, die nicht nur Konfliktberatern sondern allen vermittelt werden können, wird das Eintreten für Versöhnung gewissermaßen demokratisiert.

4. Da Versöhnung nicht als Ereignis nach der Lösung eines Konfliktes verstanden wird, sondern als langfristig angelegter transformativer Prozess, ermöglicht das Konzept in der Praxis einen entspannten Umgang mit Unversöhntheit. Gutierrez beschreibt eindrücklich "Versöhnung als freiwillige Tat schlechthin". "Jedes Opfer tut gut, diese tief empfundene Freiwilligkeit gegen jeden Druck und Zwang heftig zu verteidigen. Der Druck, Versöhnung aufzuzwingen, ist in sich allein auch erniedrigend und es ist verständlich, dass er mit Empörung und Heftigkeit zurückgewiesen wird." Darüber hinaus wird jede Versöhnung, die nicht selbst initiiert wird von den Personen, die sich zu versöhnen haben, als politisch falsch beschrieben, da sie "ohne Selbsterhaltungskraft, ohne politische Bedeutung und sogar in dem Maß schädlich (ist), als die Öffentlichkeit über den Tiefgang der Probleme getäuscht wird." (163) Der konkrete Umgang mit Unversöhntheit in der friedenspolitischen Praxis wird weiter erleichtert durch die von Gutierrez angebotene Unterscheidung von persönlicher und gesellschaftlicher Versöhnung.

5. "Die Menschenkette der Versöhnung" bildet einen Ansatzpunkt, um Versöhnungsprozesse durch Eingreifen von außen katalysatorisch zu unterstützen, die Verantwortung für den Prozess aber dennoch bei den Betroffenen zu lassen. "Im Einsatz für Versöhnung sind eine Anzahl Menschen und Institutionen dabei, Achtung, Anerkennung, Reparationen, Würdigung entgegenzubringen, Hilfe zu materieller Selbsthilfe, zur Überwindung der Marginalisierung, zur Geltendmachung von Rechtsansprüchen beizusteuern, Schutz, Nähe und psychische Stütze anzubieten und sogar als Dritte in Beratungs- und Vermittlungspositionen für die Kommunikation und Begegnung zwischen Täter und Opfer der Untat zu übernehmen.

6. Das Bild von der "Menschenkette der Versöhnung" macht darüber hinaus deutlich, dass Menschen, die keinen Anteil an der Tat hatten, doch symbolische Schritte zur Versöhnung machen können. Historische Versöhnungsprozesse können so über Generationen weitergeführt werden. Versöhnungsprozesse, die nicht bis zum Täter gelangen, weil er nicht mehr zugänglich ist, können fortgesetzt werden "mit pragmatischen Handlungen wie mit symbolträchtigen Gesten". Beispielhaft wird Willy Brandts Kniefall genannt, mit dem er beim Besuch des Warschauer Ghettos symbolisch Verantwortung für das begangene Unrecht übernahm.

7. Das Vorhandensein direkter und struktureller Gewalt, macht eine endgültige Versöhnung von Tätern und Opfern unmöglich. Das Konzept des Versöhnungshorizonts zeigt jedoch Wege auf, wie gleichzeitig Versöhnung angestrebt und Ungerechtigkeit bekämpft werden kann. "Obwohl Versöhnung auf die Abschaffung ungerechter Strukturen und auf Reparationshandlungen warten muss, kann schon unterwegs eine Art Vorversöhnung zwischen den Menschen stattfinden, die sich schon im entgegengesetzten Lager für eine zukünftige Versöhnung engagieren."

8. Die Forderung nach einer Orientierung der Justiz an einem Versöhnungshorizont unterstreicht die Bedeutung der Weiterentwicklung innovativer Ansätze in der Justiz. Konkret weist Gutierrez hin auf die Bedeutung einer "Restaurativen Justiz", die nicht primär auf Bestrafung, sondern auf die Wiederherstellung solidarischer Beziehungen zwischen allen Betroffenen setzt. Sie hat ihre Wurzeln in traditionellen Gesellschaften und beruht mehr auf Freiwilligkeit als auf Zwang.

9. Das Konzept bietet einen hilfreichen Argumentationsrahmen, um einerseits politisch für Versöhnung eintreten zu können, gleichzeitig aber einer Verklärung und Instrumentalisierung von Versöhnung für politische Interessen entgegenzuarbeiten. Ein Versöhnungsansatz, der die Beseitigung unterdrückerischer Strukturen ebenso zwingend einfordert wie die tätige Reue der Täter im Rahmen der Wiedergutmachung, beugt einer Entwicklung vor, in der der Versöhnungsansatz ausgehöhlt wird zum "Versöhnungskitsch" ohne Tiefgang und ernsthafte Konsequenzen.

"In der Friedensforschung hatte Galtung schon früher zwei Dreiecke von grundlegender Bedeutung eingeführt: Seine Dreiteilung der Gewalt in direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt bildet den einen Strang. Der zweite ist seine Definition des Konfliktes in A, B, und C, wobei A für Haltung (Attitude), B für Verhalten (Behaviour) und C für Widerspruch (Contradiction) steht. Vor kurzem hat er ein drittes Dreieck für das Verständnis von Versöhnung gesetzt. In ihm steht die eine Ecke für Versöhnung (Reconciliation), die zweite für Lösung (Resolution), womit Galtung eine strukturelle Änderung meint, und die Dritte für Wiedergutmachung/Wiederaufbau (Reparation/Reconstruction).

Galtung behauptet, dass keine der drei Ecken sich von den anderen zweien loslösen kann. Sie sind prozesshaft miteinander verwoben, wie drei Strähnen eines Zopfes: Versöhnung ist daher verfehlt, wenn sie nicht von Resolution und Reparation begleitet wird. Dass Versöhnung eine Änderung bzw. Umwälzung von ungerechten Strukturen voraussetzt, hat Adam Curle mit aller Deutlichkeit formuliert "Um den Sklaven mit seinem Meister zu versöhnen, muss man zuerst die Sklaverei abschaffen".

Legt man diese Dreiecke aufeinander, dann decken sich:
 

 
      Direkte Gewalt, Taten und Wiedergutmachung - das ist die Ecke des Verhaltens: Taten für Untaten.
 
 
       
      Strukturelle Gewalt, Widerspruch und Lösung - das ist die Ecke der Strukturen: von ungerechten zu gerechten Strukturen
 
 
      Kulturelle Gewalt, Haltung und Versöhnung - das ist die Ecke der Kultur: von der Kultur der Zwietracht und des Krieges zur Friedenskultur.
 
 
    Anmerkungen:
 
 
    1 Gutierrez, Juan. Friedens- und Versöhnungsarbeit - Konzepte und Praxis. Unterwegs zu einer dauerhaften, friedensschaffenden Versöhnung. in: Evangelische Akademie Loccum (Hrsg). Loccumer Protokolle 55/98, S. 152 - 194.
 
 
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      Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf den oben zitierten Artikel von Gutierrez.

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Iris Smidoda ist Referentin bei "Ohne Rüstung Leben - Ökumenische Aktion für Frieden und Gerechtigkeit".