Der Pariser Gipfel 1990

Der Westen blockierte eine Friedens- und Sicherheitsordnung in

von Sabine Jaberg

Was war der Grund, dass der längst für überwunden gehaltene Ost-West-Konflikt wieder aufgebrochen ist? Russland habe die Partnerschaft mit dem Westen de facto aufgekündigt. (1) So lautet zumindest die Diagnose von Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich der handstreichartigen Eingliederung der Krim in die russische Föderation – und ein Großteil der öffentlichen Meinung stimmt ihm zu. 

Dabei ist die Beschreibung voraussetzungsvoll. Selbst wenn ihre beiden Annahmen zuträfen, dass erstens zwischen dem Westen und Moskau bis dato eine Partnerschaft bestanden hätte, die zweitens Russland mit seinem Verhalten außer Kraft gesetzt hätte, so handelte es sich doch zweifelsfrei um eine sehr asymmetrische Partnerschaft. In ihr sah Moskau sich offenkundig weniger gut aufgehoben  als der Westen. Zumindest hat Russland 2009 vorgeschlagen, sie mit einem gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag zu korrigieren. (2) Dem Westen hingegen gefällt die bestehende Ordnung offenbar ganz gut. Allenfalls kritisiert er das Verhalten einzelner Staaten. Insbesondere Russland steht hier im Fokus, nochmals verstärkt seit der Ukraine-Krise. Gegenüber Mitgliedern und Schützlingen des eigenen Clubs lässt er hingegen Milde walten. Das gilt beispielsweise für die Unterstützung des Islamischen Staats durch die Türkei ebenso wie für die Anteile Georgiens und der Ukraine an der Eskalation ihrer Konflikte mit Russland.

Konstruktionsfehler
Offenkundig haben die Staaten die sich 1989/90 bietende Chance nicht genutzt, im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) eine Friedens- und Sicherheitsordnung zu schaffen, die diesen Namen verdient. Die Hauptverantwortung hierfür trägt der Westen: Weder wollte er Moskau gleichberechtigt einbinden, noch der KSZE die für eine erfolgreiche Krisenbearbeitung nötigen Instrumente bereitstellen. Dieser Konstruktionsfehler mag zunächst nicht ins Auge springen. Immerhin erklärten die Staats- und Regierungschefs in ihrer Pariser Charta 1990 die Ära „der Konfrontation und der Teilung Europas“ (3) für beendet, um ein „neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ (4) auszurufen. Zudem gelang es, die KSZE zu institutionalisieren: Ein Rat der Außenminister, ein Ausschuss Hoher Beamter sowie periodisierte Folge- und Gipfeltreffen verstetigten und verdichteten den politischen Prozess. Die KSZE erhielt sogar feste Einrichtungen: ein Büro für freie Wahlen in Warschau sowie in Wien ein Sekretariat und ein Konfliktverhütungszentrum. Hinzu kamen die bereits zuvor beschlossenen Mechanismen zur Klärung ungewöhnlicher militärischer Aktivitäten sowie zur Menschlichen Dimension. (5)
Allerdings spiegelten die Pariser Beschlüsse auch das westliche Misstrauen gegenüber der KSZE wider. Sie gingen nur wenig über die Empfehlungen der Londoner Deklaration der NATO hinaus. (6) Zu ihnen konnten sich die USA und Großbritannien sogar erst dann durchringen, als sich abzeichnete, dass  die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands zumindest symbolische Zugeständnisse an Moskau erforderte. Sie standen aber weiterhin auf der Bremse, damit die KSZE dem Bündnis nicht den Rang ablief. So gelang es in Paris nicht einmal, ein Verfahren friedlicher Streitbeilegung und einen politischen Dringlichkeitsmechanismus zu etablieren, geschweige denn, das Konfliktverhütungszentrum mit erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen auszustatten. Dessen Funktion beschränkte sich lange Zeit auf die infrastrukturelle Unterstützung vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen (VSBM). Dabei hatten nicht nur die Sowjetunion, sondern auch andere Staaten weitergehende Vorschläge für ein solches Zentrum unterbreitet, darunter zwei NATO-Mitglieder: Neben Kanada handelte es sich um die Bundesrepublik Deutschland, die in etlichen nichtmilitärischen Bereichen eine prominente Rolle für die KSZE proklamierte  – zumindest solange sie noch um die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit warb. (7) 

Reproduktion von Asymmetrie
Dieser Befund besitzt aber auch eine Kehrseite. Versuche, die KSZE zum friedens- und sicherheitspolitischen Zentrum des neuen Europas zu machen, waren gescheitert. Nach den Vorstellungen der Sowjetunion hätte ein ‚Rat für Groß-Europa‘ die gemeinsamen Geschicke gelenkt – unterstützt von multilateralen oder auch supranationalen Organen, wie z.B. einem ‚Zentrum zur Verringerung der Kriegsgefahr und zur Verhütung von Überraschungsangriffen‘. (8) Die dem Kreml stattdessen zugestandenen Formate stellten keinen gleichwertigen Ersatz dar. Teilweise reproduzierten sie die Asymmetrie sogar, wie der NATO-Russland-Rat: Hier sitzt Moskau sämtlichen NATO-Staaten gegenüber, bleibt aber ohne Einfluss auf die Entscheidungen des Bündnisses. Das Plädoyer der Tschechoslowakei fand in Paris ebenfalls kein Gehör: Sie favorisierte ein kollektives Sicherheitssystem, das auf längere Sicht auch die NATO überflüssig machen sollte. (9) Von einer derartigen Organisation versprach sich die Prager Führung nicht nur eine Rückversicherung gegen neokoloniale Versuchungen eines vereinten Deutschlands und restaurative Tendenzen in der Sowjetunion, sondern auch eine Vorkehrung gegen ethnische sowie andere Konflikte, wie sie Europa alsbald heimsuchen sollten. 
Die Weichen für die politische Marginalisierung der KSZE wurden also bereits in Paris gestellt. Der anschließende institutionelle Aufwuchs, dem die Umbenennung in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 1995 Rechnung trug, änderte daran nichts. Die NATO schwächte ihre mutmaßliche Konkurrentin sogar weiter: Sie beschloss zeitgleich, fortan nicht mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie ihrer – seither energisch betriebenen – Ostausdehnung zu diskutieren. (10) Damit raubte sie der vorgesehenen Diskussion in der OSZE über ein gesamteuropäisches Sicherheitsmodell Sinn und Zweck. Mithin ist der gegen den erklärten Willen Moskaus geführte Kosovokrieg der NATO 1999 nicht Ausdruck des Scheiterns, sondern des Fehlens einer Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa. Gleichwohl kam ihm hohe Bedeutung zu: Russland sah sich bestätigt, dass der Westen keine Partnerschaft auf Augenhöhe praktizierte. Darüber hinaus verlor die OSZE für Moskau ihre Glaubwürdigkeit, spielte sie doch im Vorfeld des Bombardements eine seines Erachtens unrühmliche Rolle. (11) Wäre der Waffengang unterblieben, hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Welchen genau, weiß niemand. Vielleicht hätte Russlands Ministerpräsident keinen Anlass gesehen, auf der letzten Münchner Sicherheitskonferenz vor einem neuen Kalten Krieg zu warnen. (12) Allein das Grundproblem, die Asymmetrie, wäre damit nicht behoben. Ähnliches gilt mit Blick auf die Eingliederung der Krim: Für den Westen unüberhörbar meldete der Kreml hier die Durchsetzung eigener Ordnungsansprüche auch gegen Völkerrecht und westlichen Protest an. Hätte er hierauf verzichtet, stünden in der NATO die Zeichen heute vielleicht weniger auf militärische Abschreckung. (13) Wie im Falle des Kosovokriegs kommt man auch hier über kontrafaktisches Spekulieren nicht hinaus. Allerdings spiegelt sich in Russlands Agieren die Gefahr jeder asymmetrischen Ordnung wider, dass der zurückgesetzte Partner sich ihr nicht mehr fügt, ja sie mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, zu korrigieren versucht. Und Russland steht in der Ära Putin bei allen Unwägbarkeiten wirtschaftlich und politisch stärker da als noch unter Boris Jelzin oder die Sowjetunion zu Zeiten Michail Gorbatschows.
Zweifelsfrei liegt die Verantwortung für die Einnahme der Krim in Moskau. Dem Westen bleibt aber vorzuwerfen, dass er die Schwächephase der einstigen Weltmacht fast vollständig ausreizte. Dass solches Verhalten nicht klug ist, wussten bereits die Mitglieder des Europäischen Konzerts im 19. Jahrhundert. (14) Sie rechneten immer damit, dass strauchelnde Großmächte wieder Fuß fassen. Demütigungen und offene Rechnungen stellen in einem solchen Szenario eine schwere Hypothek dar, die im Beziehungsgefüge zwischen dem Westen und Russland abzubauen einer Herkulesaufgabe gleicht. Mit einer bloßen Rückkehr zum Status quo ante,  wie sie sich in der Wiederbelebung des zwei Jahre ausgesetzten NATO-Russland-Rats andeutet, (15) dürfte es nicht getan sein. Dazu sitzt bei allen Beteiligten das Misstrauen zu tief. Letztlich führt der Weg in die Zukunft nur über die Vergangenheit – genauer gesagt, über deren gemeinsame Aufarbeitung. Dazu gehören das wechselseitige Eingeständnis eigener Fehler und die Bereitschaft, sie zu korrigieren. Dem Westen stünde gut an, den ersten Schritt zu tun. 

Anmerkungen
1 Vgl.: Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich der Gedenkfeier zum deutschen Überfall auf Polen 1939 am 1. September 2014 in Danzig/Polen (www.bundespräsident.de) (abgerufen am 8. April 2016).
2 Vgl.: Projekt eines Vertrages über europäische Sicherheit (http://www.sicherheitspolitik-dss.de/autoren/lemcke/proj1_eu.htm) (abgerufen am 12. April 2016).
3 Charta von Paris für ein neues Europa. Erklärung des Pariser KSZE-Gipfels der Staats- und Regierungschefs, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin (zit.: Bulletin.), Nr. 137. Bonn, 24. November 1990, S. 1409-1415; hier: S. 1409.
4 ebda.
5 Vgl.: Jaberg, Sabine: KSZE 2001. Profil einer Europäischen Sicherheitsordnung. Bilanz und Perspektiven ihrer Entwicklung. Hamburg: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, 1992.
6 Vgl.: NATO-Gipfelkonferenz von London. Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrats am 5. und 6. Juli 1990. Londoner Erklärung, in: Bulletin, Nr. 90, Bonn, 10. Juli 1990, S. 777-779; hier: S. 779.
7 Vgl.: Genscher, Hans-Dietrich: Zur deutschen Einheit im europäischen Rahmen, in: Tutzinger Blätter, 2/1990, S. 3-13.
8 Vgl. u.a.: Schewardnadse, Eduard: Die sowjetische Haltung zur Europäischen Einigung, in: Europa-Archiv, 5/1990, S. D 127-136; hier: S. D 134. Die Sowjetunion will die Gipfeltreffen der KSZE verstetigen und in einen „Rat von Groß-Europa“ überführen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (zit.: FAZ) vom 28. Mai 1990.
9 Vgl.: Dienstbier, Jiri: Die Außenpolitik der Tschechoslowakei in einer neuen Zeit. Vorschläge zur wirtschaftlichen Gesundung Osteuropas, in: Europa-Archiv, 13-14/1990, S. 397-407; hier: S. 400-404.
10 Vgl.: Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 1. Dezember 1994 in Brüssel, in: Bulletin, Nr. 114. Bonn, 9. Dezember 1994, S. 1037-1041.
11 Vgl.: Loquai, Heinz: Die OSZE-Mission im Kosovo – eine ungenutzte Friedenschance?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1999, S. 1118-1126.
12 Vgl.: Rede von Dmitri Medwedew auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom 13. Februar  2016. (http://government.ru/en/news/21784/) (abgerufen am 8. April 2016).
13 Vgl.: Lidington, David: Die Krim ist nicht vergessen, in: FAZ vom 19. März 2016 sowie Stabenow, Michael: Stationieren und rotieren. Amerika verstärkt seine Präsenz in Osteuropa, in: FAZ vom 1. April 2016
14 Vgl.: Jervis, Robert: From Balance to Concert. A Study of International Security Cooperation, in: World Politics, 1/1985, S. 58-79; hier: S. 63.
15 Vgl.: „Tiefgreifende und andauernde Differenzen“, in: FAZ vom 21. April 2016.
 

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