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Symposium in Marburg:
Deserteure - Verfolgte der Militärstrafjustiz und der Militärpsychatrie
vonIm Lichte der jüngeren Forschungen erweist sich entgegen früherer Legenden die Wehrmacht als eine der tragenden Säulen der NS-Herrschaft, die Militärjustiz als Verfolgungsinstrument, das dem Volksgerichtshof nicht nachstand und die Psychiatrie im Dienste der Militärs als Folterinstanz, die Soldaten mit rabiater "Therapie" wieder an die Front brachte, den Kriegsgerichten zuführte oder zur Psychiatrie und Euthanasie aussortierte. Erst in jüngster Zeit wurde - vorwiegend durch mutige engagierte Einzelgänger - das beschönigende Geschichtsbild geknackt. In den "Standardwerken" der Forschungen zur Militärgerichtsbarkeit hatten die Täter das lange gültige Bild einer korrekt arbeitenden Militärjustiz gezeichnet, hart aber gerecht. Längst müßte nach den neuen Fakten die Entschädigung bisher vergessener Opfer geregelt werden.
Das Symposium, initiiert von der Marburger Geschichtswerkstatt, setzte sich am 25. und 26. 10. 1991 in der Universität Marburg erstmals in der BRD umfassend mit den historischen Bedingungen von Desertion, mit Deserteuren und dem Verfolgungsinstrumentarium der Deutschen Wehrmacht (Militärjustiz und Militärpsychiatrie), sowie der Frage des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit Desertion nach 1945 auseinander.
Führende Wissenschaftler und Betroffene kamen zu Wort. Zuerst zeigte Prof. Manfred Messerschmidt die Verzahnung von Wehrmacht und Nationalsozialismus in den außenpolitischen Zielen, in der Ideologie und in Fragen der Struktur des "Führerstaates" auf. Der Österreicher Dr. Walter Manoschek konkretisierte dies anhand der Kriegsverbrechen der Wehrmacht. Der Schwerpunkt seines Referats lag auf der Beteiligung der Wehrmacht am Genozid in Serbien: "In einem wahren Blutrausch, der den Aktionen der SS im Osten um nichts nachstand, ermordete die Wehrmacht allein im Herbst 1941 wahllos mehr als 25.000 unschuldige serbische Zivilisten, darunter auch sämtliche erwachsenen männlichen Juden des Landes" - dies noch vor der Wannsee-Konferenz 1942. Insbesondere Dr. Manoschek wies am Beispiel der zum 50. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion im Juli ausgestrahlten deutsch-russischen-österreichischen TV-Koproduktion darauf hin, wie noch heute - jetzt im Interesse der Völkerverständigung - beschönigende Mythen über die Rolle der Wehrmacht verbreitet werden.
Die Referate des Ex-Managers und (gar nicht mehr Amateur-) Historikers Fritz Wüllner und des Hamburger Psychiatrieprofessors Peter Riedesser machten das Ineinandergreifen von Militärjustiz und Militärpsychiatrie deutlich. Beide agierten einzig für den Zweck, durch Terror die "Manneszucht" und Disziplin in der Wehrmacht aufrechtzuerhalten und die "Schlagkraft der Truppe" zu gewährleisten. Beide Institutionen trieben von sich aus die Perfektionierung ihrer Terrorinstrumente voran. Richter sprachen Todesurteile "am laufenden Band", weit über die Forderungen des Militärstrafgesetzes hinaus, insgesamt etwa 50.000. Ärzte trieben Soldaten, die sich - von heute gesehen in einer höchst gesunden Reaktion - durch psychosomatische Reaktionen wie Kriegsblindheit, Lähmung, Zitteranfälle oder psychischem Zusammenbruch dem Schlachtfeld entzogen an die Front zurück: mit brutalen "Therapie"-Methoden wie Elektroschocks, Insulin- und Malariabehandlung. Bei "unbelehrbaren Psychopathen" sorgten sie für Kriegsgerichtsurteile. Kein Soldat sollte die Möglichkeit haben, "der Hölle der Front zu entschlüpfen", eventuell ansteckend wirkende "Kriegsneurosen" sollten schon im Keim erstickt werden. Exkurs: Auch heute benutzen Militärs für ihre Effizienz die modernsten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Nicht Folter, sondern ein gesamter militär-medizin-pharma-psychiatrisch-soziologischer Komplex ölt die Militärmaschine elegant. Schon durch wissenschaftliche Eignungstests und Verplanung von Menschentypen an die richtigen Plätze wird Ausfällen vorgebeugt.
Drei Deserteure berichteten von ihrer Flucht, ihren Motiven, ihrer Verfolgung und dem "Schweigen" danach. Peter Schilling desertierte aus "humanistischer" Opposition heraus und plante in einem Schweizer Internierungslager die Befreiung der deutschen Gemeinde Brüning nahe der Grenze, um ein Zeichen gegen den nationalsozialistischen Krieg zu setzen. Horst Schluckner desertierte, um der Verfolgung wegen "Feindbegünstigung" und "unbefugten Waffenbesitzes" zu entgehen. Dabei wurde er verraten und über Jahre in einem nordnorwegischen Arbeitslager unter grausamen und unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten. Rudolf Lorenz geriet in die Maschinerie der Militärpsychiatrie und desertierte - er hatte sich geweigert, Polen und Sowjetbürger zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu verschleppen. Allen gemeinsam, ob sie anschließend in der BRD oder der DDR lebten: Die Anerkennung blieb nicht nur aus, die Deserteure hatten vielmehr zu schweigen - fast 50 Jahre lang.
Franz Dillmann stellte die traurige Geschichte der Nicht-Entschädigung der unter der NS-Herrschaft verfolgten Deserteure, Kriegsdienstverweigerer, "Wehrkraftzersetzer", "Kriegszitterer" und "Kriegsneurotiker" dar. Um diese skandalöse Lücke einer "Wiedergutmachung" des NS-Unrechts zu schließen und um diese und andere "vergessene Opfer" des NS-Regimes zu entschädigen, sind in einigen Bundesländern Länderstiftungen und "Härtefonds" eingerichtet worden. Auch das Land Hessen plant eine Stiftung, die ausdrücklich auch die Opfer der NS-Militärjustiz und -psychiatrie mit einbezieht.
Ein wenig Hoffnung gibt es jetzt auch nach einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. September 1991, mit dem erstmals die Witwe eines hingerichteten Wehrmachts-Deserteurs eine Rente zugesprochen bekam. Im Bundestag wird seit fünf Jahren über die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz beraten, bisher ohne Ergebnis.
Zum Abschluß des Symposiums stellte Prof. Martin Bennhold den Versuch, die NS-Opfer zu ignorieren, in den Zusammenhang der Geschichte des deutschen Militarismus: In der bundesdeutschen Gesellschaft, die den deutschen Militarismus verharmlost und zahlreiche Nationalsozialisten in die Gesellschaft integriert hat, wurde die Aufarbeitung der Geschichte der NS-Zeit jahrzehntelang verzögert. Die Anerkennung der Desertion als antimilitaristische und antifaschistische Haltung wurde abgelehnt; zumal mit der Wiederbewaffnung in der BRD genau die Sekundärtugenden wieder gefragt waren, gegen die die Deserteure standen: Gehorsam, Unterordnung, soldatische Pflichterfüllung. Programmatisch befand der Bundesgerichtshof 1964 in einem Entschädigungsverfahren (Az: IV ZR 236/63): "Es gibt sicherlich keinen Staat, der jedem seiner Bürger das Recht zuspricht, zu entscheiden, ob der Krieg ein gerechter oder ein ungerechter ist und demgemäß seiner staatsbürgerlichen Pflicht, Wehrdienst zu leisten, zu genügen oder ihre Erfüllung zu verweigern. Würde der Staat jedem Bürger dieses Recht zubilligen, so würde er sich damit aufgeben."
Besonders an diesem Punkt macht sich die Aktualität der Diskussion um Deserteure fest: "Daß die kritische Auseinandersetzung mit der Militärjustiz im NS-Staat jahrzehntelang ausblieb, ist nicht zuletzt darin begründet, daß die Befassung mit ihren Gräueltaten die militärisch-ideologische Traditionspflege im demokratisch-parlamentarischen Nachkriegsdeutschland berührt und sie womöglich grundlegend in Frage gestellt hätte (...)" (Fritz Wüllner). Die militaristische Tradition machte es offensichtlich "nötig", Desertion als "Vaterlandsverrat", als kriminellen Akt zu brandmarken.
In einer abschließenden Presseerklärung zogen die Veranstalter das Fazit aus den Fakten: Die generelle politische und rechtliche Qualifikation der Militärjustiz und der Militärpsychiatrie des Zweiten Weltkrieges als Terrorinstrumente des NS-Staates und die Anerkennung der Deserteure, "Wehrkraftzersetzer", Saboteure, Gehorsamsverweigerer, "Kriegsneurotiker", "Kriegszitterer" der Wehrmacht als politisch Verfolgte und Widerständler. Verfolgte der Militärjustiz und der Militärpsychiatrie sind per se politisch Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes und haben deshalb einen Anspruch auf Anerkennung und Würdigung, Entschädigung und Rentengleichstellung.
Die Referate und Diskussionsbeiträge werden voraussichtlich im Dezember als Buch zum Druckkostenpreis (ca. 4,-- DM) erscheinen und sind bei der Geschichtswerkstatt, Liebigstr. 46, 3550 Marburg, zu bestellen.