Deutsch-Jüdisch-Israelische Begegnungen: Denken in Tätern und Opfern?

von Christine MählerAnke Niemeier
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Wo immer Menschen zusammentreffen, bringen sie ihre unterschiedlichen sozialen, gesellschaftlichen oder nationalen Identitäten mit: In verschiedenen Kontexten wie beispielsweise Familie, Beruf oder Freizeitaktivitäten fühlen sich Menschen einer oder mehreren spezifischen Gruppen zugehörig.

Charakteristisch für Gruppen sind - neben einer oft anzutreffenden Unklarheit bezüglich der Gruppengrenzen - fließende Grade von Zugehörigkeit zu Gruppen: Eine Person kann zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichem Ausmaß der Gruppe angehören. Weiterhin charakterisiert die Möglichkeit des raschen Wechsels von Mitgliedern das Gruppengeschehen. Zudem ist für den Einzelnen eine mehrfache Gruppenzugehörigkeit nicht nur möglich, sondern die Regel. Hieraus ergibt sich die Anforderung, zwischen mitunter widersprüchlichen und nicht miteinander zu vereinbarenden Ansprüchen der verschiedenen Gruppen zu vermitteln.

Wenn heute Deutsche und Israelis zusammenkommen, scheinen auch hier Gruppenzugehörigkeiten und mit ihnen verbundene Erwartungs-, Handlungs- und Interpretationsspektren wirksam zu werden. Diese gehen über die im Kontakt zwischen allen verschiedenen Völkern offensichtlichen Zuordnungen zu unterschiedlichen nationalen Gruppen hinaus.

Eine vielfach implizite, zum Teil jedoch auch explizit thematisierte Gruppenzugehörigkeit stellt in diesem Kontext die im Holocaust gründende Zuordnung zur Gruppe der Opfer einerseits und zu der der Täter ( aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir zumeist anstatt der aufwendigeren und differenzierteren Formulierung " Gruppe der Täter, Mit-Täter und Mitläufer" die Bezeichnung "Gruppe der Täter") andererseits dar: Deutsche als Angehörige und Kinder des Volkes, welches Menschen und Familien des jüdischen Volkes unermeßliches Leid zugefügt hat, treffen diese Menschen in ihrem heutigen Leben, welches vielfach in massiver Weise von den gegenwärtigen Auswirkungen dieses Leids beeinflußt ist. Das bedeutet, neben einer persönlichen Verstrickung mit der deutschen Geschichte, die jede/r in einer expliziten Weise nur für sich selbst formulieren kann, existiert auf einer Makro-ebene eine gruppenspezifische Zuordnung - eine Zuordnung von Einzelpersonen in die aufgrund deutscher Geschichte entstandenen Gruppen der (Mit-) Täter und der Opfer. Die Israelis gehören demnach der Gruppe der Opfer an, wir Deutsche zählen zu der der Täter, Mit-Täter und Mitläufer.

Diese implizit oder explizit wahrnehmbare Zugehörigkeit zu den Gruppen der Täter oder Opfer wird auf verschiedenen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Ebenen immer wieder deutlich. Auf der politischen wie auch auf der persönlichen Ebene wecken gegenwärtige ausländerfeindliche, rassistische oder spezifisch antisemitische Ausschreitungen in Deutschland bei Israelis Erinnerungen an und Assoziationen bezogen auf die Ausgrenzung und Verfolgung unschuldiger Menschen durch die Nationalsozialisten. Eine explizite Wahrnehmung von Deutschen als Volk der Täter ist in diesem Zusammenhang aus israelischer Perspektive naheliegend. Auch wirtschaftspolitische Handlungen, wie die Giftgas-Lieferungen deutscher Firmen an den Irak, die zur Zeit des Golfkrieges von 1991 zu einer Bedrohung Israels durch deutsches Gas führten, rufen diese Bilder wach und bekräftigen eine Wahrnehmung in Täter- und Opfer-Kategorien.

Daraus ergeben sich verschiedene Überlegungen und Fragen:

- Welche Konsequenzen hat eine solche Rollenverteilung für den Umgang beider Gruppen
  miteinander? In welcher Weise beeinflußt sie die Form der Kommunikation oder die Wahl und
  Vermeidung von Gesprächsthemen?

- Welche Konsequenzen hat die Zuordnung zur Gruppe der Täter oder Opfer für Individuum und
  Gesellschaft, und welche Handlungen sollten aus ihr entstehen?

- Welche moralischen Forderungen werden an Täter und Opfer gerichtet?

- Inwieweit ist bei den Kindern - bzw. Enkelgenerationen von Überlebenden und damals
  lebenden Deutschen eine solche Zuordnung zu den Gruppen der Täter oder Opfer weiterhin
  beziehungscharakteristisch und damit beziehungsbestimmend? Ist auch für die jüngeren
  Generationen ein Denken in Täter- und Opferkategorien nach wie vor gültig und wie lange
  wird dieses Denken fortbestehen?

- Wo, wann und auf welche Weise wird ein Denken in Täter-Opfer-Kategorien durchbrochen?

Mögliche Antworten auf diese Fragen sind vielfältig und vielschichtig.

Zum einen werden immer wieder Unsicherheiten im Umgang miteinander offensichtlich: Vorsichtige Fragen mit Bezug auf die Täter-Opfer-Thematik an Mitglieder der jeweils anderen Gruppe werden zum Teil wieder zurückgenommen und bleiben unbeantwortet. Möglichkeiten, das Thema wieder zu wechseln, werden dankbar aufgegriffen. Solche Unsicherheiten sind jedoch unserer Meinung nach nicht nur als negativ zu bewerten. Wird hier doch auch ein Gespür für die Schwierigkeiten und Sensibilitäten eines solchen Gesprächs deutlich, an dessen Inhalte möglicherweise eine langsamere und schrittweisere Annäherung notwendig ist als bei Diskussionen sonstiger Themen. Wichtig erscheint uns allerdings, daß diese Unsicherheiten nicht zu einer gänzlichen Vermeidung der Thematik und gegenseitiger persönlicher Fragen führen: Wenn die Annäherung aneinander auch häufig schwer und möglicherweise schmerzhaft ist, so gibt es doch Angebote zum Gespräch: Ein Beispiel hierfür ist die Bereitschaft von Überlebenden der Konzentrationlager, jungen Deutschen von ihren schmerzlichen Erfahrungen zu erzählen und Fragen zu beantworten. Diese Chance des Kontakts kann trotz aller Unsicherheiten und Grenzen Schritte aufeinander zu, bewußtes Lernen und persönliche Entwicklung wie auch Aufweichungen festgeschriebener Gruppenzuordnungen initiieren.

Des weiteren wirft die Zuordnung von Deutschen zur Gruppe der Täter im Nationalsozialismus Fragen nach aus der Vergangenheit resultierender gegenwärtiger Schuld und Verantwortung auf.

Sicherlich ist es nicht sinnvoll, von nachgeborenen Generationen ein Gefühl persönlicher Schuldigkeit zu erwarten - eine persönliche (Mit-) Schuld können Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus gelebt haben für sich formulieren. Dennoch können sich auch junge Deutsche der Hinterlassenschaft der Vergangenheit nicht entziehen, müsen sich den Auswirkungen aus dieser Zeit und der Tatsache, Nachkommen des Volkes der Täter zu sein, stellen. Hieraus ergeben sich Anforderungen und Verpflichtungen für die Gegenwart: Wir halten es für unerläßlich, sich mit der deutschen Geschichte des Nationasozialismus und dem Holocaust auseinanderzusetzen und hierüber und hieraus zu lernen, was es darüber und daraus zu lernen gibt. Dieses Lernen sollte nicht allein auf abstrakter Ebene geschehen und der Anhäufung historischen Faktenwissens dienen. Ebenso wichtig erscheint es uns, einen persönlichen Bezug zu den Geschehnissen der Vergangenheit herzustellen:

Was haben Mitglieder der eigenen Familie zu jener Zeit getan? Was hat ihr Leben, ihren Alltag, ihr Denken und Handeln bestimmt? Welche Anteile hiervon sind in der Familie präsent, werden diskutiert oder verschwiegen? Welche Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit finden sich im eigenen unmittelbaren räumlichen Umfeld, in der nächsten Stadt?

Fragen, die nicht neu sind, doch nach wie vor zu wenig angeregt und gestellt werden.

Wichtig für den bewußten Umgang mit der deutschen Geschichte ist auch, eigenes Tun und Lassen heute, vor ihrem Hintergrund zu reflektieren. Ausgehend davon, daß in jedem Menschen potentiell Gutes und Böses, Anteile von Täter- und Opferverhalten stecken, kann es nicht ausreichen, sich auf kognitiver oder emotionaler Ebene mit dem Holocaust zu befassen. Die Auseinanderersetzung muß sich in künftigem Denken und Handeln ausdrücken, um nicht Selbstzweck zu sein. So betrachtet Young (1992), die Form der Erinnerung als untrennbar von in ihrem Namen verantworteten Handlungen: ".. wenn der Akt des Erinnerns uns nicht verändert, dann haben wir uns nicht erinnert" (ebd., S.236).

Dieser Gedanke verweist auf die Frage nach der Verantwortung, die sich für Deutsche aus der nationalsozialistischen Geschichte ergibt. Auch wenn wir die damalige Zeit nicht miterlebt haben, können wir heute nicht behaupten, wir wüßten nicht um die Gefahren, die rassistisches Denken birgt, wir wüßten nicht, wozu Menschen fähig sind und es gäbe einen neutralen Standpunkt sowie die Möglichkeit, sich nicht einzumischen, wenn Unrecht geschieht und Menschen leiden. Wir kommen nicht umhin, uns unserer Verantwortung für das, was gegenwärtig in unserem Umfeld geschieht, zu stellen und zu sehen, daß Zuschauen mitschuldig machen und tödliche Konsequenzen haben kann. Dies kann uns jedoch nicht davon entbinden, die eigene Motivation zum Üben von Kritik, die über das eigene Umfeld und die eigene Gesellschaft hinausgeht, kritisch zu hinterfragen.

Außerdem ergibt sich aus einer Zuordnung zur Gruppe der Täter und ihrer Nachkommen die Notwendigkeit, mit Überlebenden und ihren Nachkommen sensibel umzugehen. In der Vergangenheit zugefügtes Leid ist nach wie vor in vielen Familien gegenwärtig und beeinflußt heutiges Leben. Allein das Hören der deutschen Sprache erweckt in einigen Überlebenden der Konzentrationslager unangenehme Gefühle - es ist durchaus möglich und wünschenswert, das Wissen um solche Sensibilitäten in eigenes Verhalten einzubeziehen.

Sicher können viele Schwierigkeiten für einen Umgang miteinander nicht ausgeräumt werden und in Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis muß auch in Zukunft immer wieder mit der Besonderheit der gegenseitigen Beziehung umgegangen werden. Dennoch scheinen inzwischen auch zahlreiche und intensive Kontakte zwischen beiden Gruppen zu bestehen, in denen eine Zuordnung zu den Gruppen der Täter und Opfer nicht das einzige und häufig auch nicht das wesentliche Charakteristikum der Beziehung ist. Die deutsch-israelische (Jugend-) Begegnung ist in diesem Zusammenhang von fundamentaler Bedeutung. Vor dem Hintergrund einer bewußten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und einem Wachhalten der Erinnerung leistet sie Beiträge für ein Entstehen persönlicher Kontakte, die Reflexion von Beziehungen und einen Wandel von abstrakt gruppen-spezifischen Zuordnungen zu persönlich gewachsenen Interpretations- und Handlungsräumen.

aus: Informationen Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen 2/98

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