"Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik"

von Volker Böge
Schwerpunkt
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Dieser Satz von schlichter Größe und Schönheit steht am Beginn jenes Kapitels des rot-grünen Koalitionsvertrags, in dem es um Außen- und Militärpolitik geht. Am 16. Oktober - also nach den Wahlen, die die Grundlage für die neue rot-grüne Regierung legten - beschloss der Deutsche Bundestag mit überwältigender Mehrheit, die Bundeswehr gegebenenfalls bei einem NATO-Militäreinsatz gegen Serbien wegen des Kosovo-Konflikts mitkämpfen zu lassen. Dieser NATO-Einsatz sollte ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates oder irgendeine andere völkerrechtliche Legitimation erfolgen. Die Regierungsfraktionen in spe stimmten mit großer Mehrheit zu. Der Beschluss verstößt gegen Völkerrecht und Verfassungsrecht (Artikel 26 Grundgesetz: "Verbot eines Angriffskrieges"). Die Drohung mit einem NATO-Militärschlag mit deutscher Beteiligung wurde auch noch nach 100 Tagen rot-grüner Bundesregierung aufrecht erhalten. Man lasse sich den Satz auf der Zunge zergehen: "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik."

Kontinuität über alles
Mit der Bereitschaft, deutsche Soldaten erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in einen Kriegseinsatz zu schicken, vollendet die rot-grüne Regierung jene Politik, die ihre Vorgängerin - und da insbesondere der CDU-Verteidigungsminister Rühe - vor Jahren auf den Weg gebracht hat, nämlich den Einsatz deutscher Militärmacht von allen (zum Teil selbstauferlegten) Beschränkungen zu befreien. Man erinnere sich: Es ging so scheinbar harmlos los. Ein paar Sanitätssoldaten in Kambodscha, ein "humanitärer Einsatz" in Somalia. Die Friedensbewegung (ebenso wie die Grünen und - zumindest zeitweise - die Mehrheit der SPD) hatten dieses Vorgehen als "Salamitaktik" entlarvt und davor gewarnt, dass scheibchenweise der unbeschränkte Einsatz deutschen Militärs vorbereitet werde. Der rot-grünen Regierung blieb es vorbehalten, noch in ihren ersten 100 Tagen die Salami ganz zu fressen (oder wie müsste man sagen, um im Bild zu bleiben?). Das ist zum K....n - und passt zum Schlüsselwort rotgrünen Regierens auf dem Feld der Außen- und Militärpolitik: Kontinuität. Auch der zweite Satz des einschlägigen Koalitionsvertragskapitels ist von schlichter Größe (oder großer Schlichtheit): "Die neue Bundesregierung wird die Grundlinien bisheriger deutscher Außenpolitik weiterentwickeln". Nach 16 Jahren Kohl als erstes zu sagen: "Weiter so!" ist schon toll. Zugestanden: Es ist für eine neue deutsche Regierung durchaus angebracht, dem skeptisch bis misstrauisch blickenden Ausland zu signalisieren, dass man nicht vorhabe, von heute auf morgen die gesamte deutsche Außenpolitik umzukrempeln. Doch um ein solches Signal auszusenden braucht man nicht unbedingt das Schwergewicht auf "Kontinuität" zu legen, man könnte - wenn man denn wollte - den Akzent auch auf "Innovation", "frischen Wind" oder so setzen und zusätzlich mitsprechen, dass man selbstverständlich die Kontinuität bestimmter Grundlinien _ usw.usf. So aber hat der grüne Außenminister ein Gutteil der ersten 100 Tage damit zugebracht, von Hauptstadt zu Hauptstadt zu düsen und jedermann zu erklären, dass er nur das Double von Kinkel ist. So wird man - zumindest in der Diplomatenwelt - "everybody`s darling" (Schröder über Fischer). Da verwundert es dann auch nicht, wenn Rotgrün die militärische Aggression der USA und Großbritanniens gegen den Irak zustimmend abnickt. Andere NATO-"Partner" haben sich dazu durchaus sehr kritisch geäußert. Und da verwundert es auch nicht, dass der mit deutschen Waffen und deutschem Gerät geführte Krieg des NATO- "Partners" Türkei gegen die eigene kurdische Bevölkerung die rotgrüne Regierung offensichtlich kalt lässt.

Wie verträgt sich nun mit dieser Kontinuitätspolitik der Vorstoß Fischers, die NATO-Doktrin vom nuklearen Ersteinsatz zur Diskussion zu stellen? Es scheint, dass hiermit vor allem demonstriert werden sollte, dass "wir nun einmal keine Handlungsspielräume" haben, dass "es" - auch beim besten Willen - nicht geht, wenn sich die US-Amerikaner (und die anderen NATO-Nuklearmächte) querstellen. Mit Verweis auf die angeblich nicht vorhandenen Handlungsspielräume kann dann das Mitschwimmen im mainstream gerechtfertigt werden bzw. es kann nach der Logik des "kleineren Übels" immer behauptet werden, "Schlimmeres" verhindert zu haben. Das Argument der fehlenden Handlungsspielräume ist natürlich Unsinn. Erinnert sei daran, dass selbst kleine NATO-Staaten wie Dänemark, Norwegen oder Griechenland sogar in Zeiten härtester Ost-West-Blockkonfrontation, als der Zusammenhalt des eigenen Lagers als überlebensnotwendig dargestellt wurde, eine in Teilbereichen von der offiziellen NATO-Linie abweichende Politik gemacht haben (man einnere sich an die "Fußnotenpolitik" dieser Länder: Sie gaben in NATO-Kommuniques ihre abweichende Position in Fußnoten zur Kenntnis. Wie wäre es mit einer rotgrünen Fußnotenpolitik, der sich wahrscheinlich weitere Staaten anschließen würden?).
 

Und auch die rotgrüne Regierung könnte durch eigene Initiativen die Nuklearpolitik der NATO durchaus beeinflussen; man könnte etwa erklären, dass man die US-Atomwaffen auf deutschem Boden nicht länger haben möchte und deren Abzug verlangen (auch das dürfte bei anderen nicht-nuklearen NATO-Staaten auf Zustimmung stoßen), damit verbunden wäre ein Verzicht auf "nukleare Teilhabe" und Mittun in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO. Die im grünen Wahlprogramm unter der Überschrift "die OSZE stärken, die NATO zurückdrängen" skizzierte Strategie eines schrittweisen "Herunterfahrens" der NATO bei gleichzeitigem "Herauffahren" der OSZE ist friedenspolitisch gar nicht blöde; man müsste es nur versuchen. Statt dessen macht die rotgrüne Regierung die Politik des "NATO first" ungebrochen weiter.

Die neue NATO-Strategie
Das Argumentieren mit den fehlenden Handlungsspielräumen und dem "kleineren Übel" ist in Hinblick auf die Debatten um das neue strategische Konzept der NATO voraussehbar. Es ist bekannt: Bei der NATO-Jubelfeier zum 50jährigen Bestehen des Militärpakts soll eine neue NATO-Strategie abgesegnet werden. Die US-Amerikaner wollen für die NATO die Aufgabenbestimmung: "Verteidigung" der "Interessen" der NATO-Staaten weltweit (also nicht mehr: Verteidigung der Territorien, mit geographischer Beschränkung auf das Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses), dazu Herstellung umfassender Interventionsfähigkeit, Aufrechterhaltung des Nuklearpotentials inklusive Vorbehalt des nuklearen Ersteinsatzes (vor allem als Mittel gegen die Proliferation von Massenvernichtungsmitteln); das ganze völlig losgelöst von Völkerrecht, UNO und OSZE auf dem Wege der "Selbstmandatierung", was nichts anderes heißt als: Wir behalten uns das Recht zur Kriegführung vor - wann immer und wo immer wir es für nötig halten (weil unsere "Interessen" es gebieten).

Eine rotgrüne Version des "kleineren Übels" könnte demgegenüber etwa folgendermaßen aussehen: keine "globale" Interventionspolitik (die im Ernst auch die USA für die NATO nicht wollen), sondern nur geographisch begrenzt auf europa-nahe Einflusszonen, keine expliziten Aussagen zum nuklearen Ersteinsatz und - am wichtigsten - "Selbstmandatierung" nur im aller-, aller- aber auch wirklich alleräußersten Ausnahmefall, wenn es denn gar nicht anders geht. Und das würde dann als "friedenspolitischer Erfolg" verkauft, den man gegen die stiernackigen Amis im zähen Ringen erreicht habe. Denn mehr sei wegen der fehlenden Handlungsspielräume nicht "drin" gewesen.
 

Militarisierung der EU
Friedenspolitisch noch gefährlicher wird es da, wo mit Verweis auf die harte Linie der USA einer Militarisierung der europäischen Integration das Wort geredet wird. Um sich von "den Amerikanern" außen-, militär-, ja friedenspolitisch unabhängiger zu machen, müssten "die Europäer" sich auf diesem Felde enger zusammenschließen, mit einer Stimme sprechen und auch mehr tun, sprich: sich verstärkt "europäische" militärische Kapazitäten zulegen. Im Koalitionsvertrag stehen die verhängnisvollen Sätze: "Die neue Bundesregierung wird sich ... für ... die Verstärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität einsetzen. Die neue Bundesregierung wird sich bemühen, die WEU auf der Basis des Amsterdamer Vertrages weiterzuentwickeln". In diese Richtung sind in den ersten 100 Tagen bereits die Weichen gestellt worden. Bei der SPD ist das nicht weiter verwunderlich, propagiert sie mit dem Schlagwort "Selbstbehauptung Europas" und mit gewissem antiamerikanischen Zungenschlag doch bereits seit Jahrzehnten eine sozialdemokratische Spielart des Gaullismus.

Für die Grünen ist das relativ neu. Sie haben stets vor der Gefahr einer "Militärgroßmacht Europa" gewarnt, und auch in ihrem jüngsten Wahlprogramm war noch zu lesen: "... eine Militärmacht EU ... lehnen wir strikt ab. Die EU benötigt keinen militärischen Arm. Die WEU soll im Zuge der Fortentwicklung der zivilen europäischen Integration aufgelöst werden".

Der grüne Außenminister Fischer hingegen erklärte auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar: "Die EU muss die Fähigkeit auch für ein eigenes Krisenmanagement entwickeln, wann immer aus europäischer Sicht ein Handlungsbedarf besteht. Das muss letztlich auch eine militärische Komponente beinhalten". Dabei stehen die Europäisierungsbestrebungen - wie auch stets in der Vergangenheit schon - in dem Zwiespalt zwischen "Stärkung des europäischen Pfeilers der atlantischen Allianz" (was auch von den USA befürwortet wird - von wegen "gerechterer Arbeits- und Lastenteilung im Bündnis") und Herausbildung einer eigenständigen, also von den USA unabhängig (er)en Sicherheitspolitik. Friedenspolitisch ist das selbstverständlich die falsche Alternative. Die europäische Integration zu militarisieren, um ein "Gegengewicht" zur US-dominierten NATO zu schaffen, hieße, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Und letztlich steht beides gar nicht alternativ, wir kriegen vielmehr beides.

Die Friedensbewegung ist gut beraten, die Tendenzen herrschender Politik, die unter den Stichworten "Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität" und "europäische Verteidigung(spolitik)" laufen, genau zu beobachten.
 

Das Glas: halbvoll oder halbleer?
War sonst noch was? In der Domäne des Verteidigungsministers Scharping geht alles seinen alten Rühe`schen Gang. Die laufenden Beschaffungsvorhaben werden durchgezogen; das ist besonders misslich, weil darunter zentrale Systeme für die Krisenreaktionskräfte, d.h. die Interventionstruppen der Bundeswehr, sind: Der Kampfhubschrauber Tiger, das gepanzerte Transportfahrzeug GTK usw. usf. Die Krisenreaktionskräfte und ihre Speerspitze, das Kommando Spezialkräfte, werden zur vollen Einsatzfähigkeit gebracht. So wird die im Koalitionsvertrag vereinbarte, aber bisher noch nicht berufene, "Wehrstrukturkommission" vor vollendete Tatsachen gestellt. Diese Kommission soll "Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte überprüfen und Optionen einer zukünftigen Bundeswehrstruktur ... vorlegen" (Koalitionsvertrag). Und so knüpfen sich denn manche Hoffnungen auf Abrüstung und Entmilitarisierung an deren Arbeit. Begrüßenswert ist, dass die Kommission "bis zur Mitte der Legislaturperiode" Ergebnisse vorlegen soll; eine Verschiebung von Entscheidungen auf den St. Nimmerleinstag oder auch nur in die nächste Legislaturperiode ist somit eigentlich nicht möglich. Schaun wir mal.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auf dem Felde der vermeintlich "weichen" Themen, in denen es kaum Vorgaben und Festlegungen der alten Regierung gab, in den ersten 100 Tagen einige positive Akzente gesetzt worden sind und guter Wille gezeigt worden ist. Hier geht es um Bereiche wie Zivile Konfliktbearbeitung, Zivile Friedensdienste, Friedensforschung u.ä. Besonders aus dem Auswärtigen Amt und dem BMZ gibt es Ansätze, hier tatsächlich etwas auf den Weg zu bringen. Die Gefahr, dass lediglich friedenspolitische "Spielwiesen" eröffnet werden, um die friedensbewegte Klientel zu beruhigen, ist offensichtlich. Gleichwohl bestehen dabei auch reale Chancen, die politischen Gewichte zu verschieben. Dazu muss allerdings eine gesellschaftliche Auseinandersetzung angeschoben werden, in der die Befürworter militärisch gestützter Sicherheitspolitik von den Protagonisten ziviler Konfliktbearbeitung tatsächlich in die Defensive gedrängt werden können. Es muss auf allen Ebenen die Auseinandersetzung zwischen den Leitkonzepten "militärische Sicherheitspolitik" einerseits, "zivile Konfliktbearbeitung" andererseits organisiert werden. Das Kampffeld ist bereitet, nun muss versucht werden, die Kräfteverhältnisse zugunsten von Friedenspolitik zu verschieben. Nichts wäre verkehrter, als aus friedensbewegter Perspektive das regierungsamtliche rotgrüne Lamento über die angeblich fehlenden Handlungsspielräume zu bestätigen ("da sieht man es ja: Die können auch nichts machen!"), sich auf nörgelnde Besserwisserei zu beschränken und somit die rotgrüne Regierung aus der friedenspolitischen Verantwortung zu entlassen. Vielmehr muss gesellschaftlicher Druck entfaltet werden, um die rotgrüne Regierung zur Nutzung von Handlungsspielräumen zu zwingen und - in einer gewissen reibungs- und spannungsvollen arbeitsteiligen Kooperation - Handlungsspielräume auch auszuweiten. Die Rahmenbedingungen für Friedenspolitik sind unter einer rotgrünen Regierung zwar immer noch schlecht, aber besser als zuvor.

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