Die neuen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ 2011

Deutsche Interessen und nationaler Selbstbehauptungswille:

von Martin Singe
Im Blickpunkt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Am 18. Mai 2011 stellte Verteidigungsminister de Maizière neue „Verteidigungspolitische Richtlinien“ mit dem Titel „Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten“ der Öffentlichkeit vor. Verbunden war dies mit der Bekanntmachung der überarbeiteten Bundeswehrreform, mit der die Bundeswehr endgültig zur „Armee im Einsatz“ wird: Verkleinerung zwecks Effizienzsteigerung. Eigentlich enthalten die neuen Richtlinien nicht viel Neues. Aber es wird noch dreister als früher von der Durchsetzung nationaler, vor allem wirtschaftlicher Interessen mit militärischen Mitteln gesprochen. Das Originaldokument ist auf der BMVg-Seite veröffentlicht. Wir stellen das Papier hier vor, indem wir es selbst ausführlich zu Wort kommen lassen.

Das Papier hebt an mit einem breiten Spektrum von Bedrohungsszenarien: „Risiken und Bedrohungen entstehen heute vor allem aus zerfallenden und zerfallenen Staaten, aus dem Wirken des internationalen Terrorismus, terroristischen und diktatorischen Regimen, Umbrüchen bei deren Zerfall, kriminellen Netzwerken, aus Klima- und Umweltkatastrophen, Migrationsentwicklungen, aus der Verknappung oder den Engpässen bei der Versorgung mit natürlichen Ressourcen und Rohstoffen, durch Seuchen und Epidemien ebenso wie durch mögliche Gefährdungen kritischer Infrastrukturen wie der Informationstechnik.“ Migrationsbewegungen werden auf den ersten drei Seiten des Dokumentes gleich drei Mal als Gefahr für Deutschland heraufbeschworen. Das passt zur gerade vollzogenen Kompetenzenerweiterung von FRONTEX. Während die NATO ununterbrochen Libyen „zum Schutz der Zivilbevölkerung“ bombardiert, ertrinken die Flüchtenden zu Hunderten im Mittelmeer – zwischen den humanitären Kriegsschiffen.

Der Schlussabsatz aus dem Kapitel „Das strategische Umfeld“ ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten: „Freie Handelswege und eine gesicherte Rohstoffversorgung sind für die Zukunft Deutschlands und Europas von vitaler Bedeutung. Die Erschließung, Sicherung von und der Zugang zu Bodenschätzen, Vertriebswegen und Märkten werden weltweit neu geordnet. Verknappungen von Energieträgern und anderer für Hochtechnologie benötigter Rohstoffe bleiben nicht ohne Auswirkungen auf die Staatenwelt. Zugangsbeschränkungen können konfliktauslösend wirken. Störungen der Transportwege und der Rohstoff- und Warenströme, z.B. durch Piraterie und Sabotage des Luftverkehrs, stellen eine Gefährdung für Sicherheit und Wohlstand dar. Deshalb werden Transport- und Energiesicherheit und damit verbundene Fragen künftig auch für unsere Sicherheit eine wachsende Rolle spielen.“

Das folgende Kapitel „Werte, Ziele und Interessen“ betont, dass „Deutschlands Platz in der Welt ... wesentlich ... von unseren Interessen als starker Nation in der Mitte Europas“ bestimmt werde. „Deutsche Sicherheitsinteressen ergeben sich aus unserer Geschichte, der geographischen Lage in der Mitte Europas, den internationalen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen des Landes und der Ressourcenabhängigkeit als Hochtechnologiestandort und rohstoffarme Exportnation.“ Deshalb müsse Sicherheitspolitik im deutschen Interesse „einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen (zu) ermöglichen“. Fernab von völkerrechtlichen Bestimmungen ist zu diesen Zwecken gegebenenfalls auch das Militär einzusetzen: „Deutschland ist bereit, als Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher Souveränität zur Wahrung seiner Sicherheit das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente einzusetzen. Dies beinhaltet auch den Einsatz von Streitkräften.“

Da „die traditionelle Unterscheidung von äußerer Sicherheit und öffentlicher Sicherheit im Inneren ... angesichts der aktuellen Risiken und Bedrohungen mehr und mehr ihre Bedeutung“ verliere, müsse ressortübergreifend gearbeitet werden. Die stärkere Vermischung von Polizei und Militär im Inneren wird angedeutet: Der Wandel der Bedrohungen ziehe voraussichtlich einen „rechtlichen Anpassungsbedarf“ nach sich; gemeint ist wohl eine Grundgesetzänderung für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren.

Während UNO und OSZE im Papier nur kurz gestreift werden, widmen sich die Richtlinien ausführlich der NATO und der EU. Auf das neue Strategische Konzept der NATO von Lissabon 2010 wird verwiesen, und die out-of-area-Fähigkeiten des Bündnisses werden betont. Ausdrücklich wird gesagt, dass die NATO ein „nukleares Bündnis“ bleiben werde. Die Abrüstungsperspektive des Atomwaffensperrvertrages findet keinerlei Erwähnung.

Im Kapitel „Die Europäische Union und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)“ wird herausgehoben, dass die EU-Militär- und Rüstungspolitik vorangetrieben werden sollen: „Die gestärkte Zusammenarbeit zwischen NATO und EU und der gegenseitige Rückgriff auf Fähigkeiten und Strukturen bleiben Prinzip der gemeinsamen Sicherheit und werden dazu führen, dass die Europäische Union ihr politisches Gewicht künftig wirksamer entfalten kann. Die konsequente Fortentwicklung von Europas zivilen und militärischen Fähigkeiten genauso wie die technologische und industriepolitische Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union dienen der politischen Stärkung Europas und damit zugleich den nationalen Sicherheitsinteressen.“ Weiterhin wird „der Ausbau einer wettbewerbsfähigen europäischen Rüstungsindustrie“ gefordert.  

Die letzten Kapitel schließlich sind der Bundeswehr gewidmet. Der Zusammenhang zwischen Umrüstung und weltweiter Durchsetzung eigener Interessen wird erneut deutlich; Streitkräfte werden inzwischen als normales Instrument der Außenpolitik apostrophiert: „Streitkräfte sind unentbehrliches Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes. ... Streitkräfte sind Grundlage des Selbstbehauptungswillens und der Verteidigungsbereitschaft der Nation. ... Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist auch und insbesondere auf verschiedene und verschiedenartige Einsätze auszurichten. Durch die Befähigung zum Einsatz von Streitkräften im gesamten Intensitätsspektrum wird Deutschland in der Lage sein, einen seiner Größe entsprechenden, politisch und militärisch angemessenen Beitrag zu leisten und dadurch seinen Einfluss, insbesondere seine Mitsprache bei Planungen und Entscheidungen sicherzustellen.“ Unter der Überschrift „Nationale Zielvorgabe für die Bundeswehr“ heißt es dann weiter: „Die Bundeswehr leistet im Rahmen ihrer Auftragserfüllung einen Deutschlands Gewicht und Wirtschaftskraft in der Staatengemeinschaft angemessenen Beitrag zur Wahrung unserer sicherheitspolitischen Interessen.“ Dabei bilden die NATO Response Force und die EU-Battlegroups den „Nukleus des deutschen Beitrags für die schnelle Reaktion“ in NATO und EU. Die Zahl der weltweit einsetzbaren Truppen wird deutlich erhöht. „Zur internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung müssen streitkräftegemeinsam, eskalations- und durchsetzungsfähige Kräfte gleichzeitig für Einsätze in unterschiedlichen Einsatzgebieten, gegebenenfalls unter Abstützung auf externe Unterstützung, gestellt werden können. Dafür sind zeitgleich rund 10.000 Soldatinnen und Soldaten durchhaltefähig vorzuhalten.“

Das letzte Kapitel lautet „Selbstverständnis der Bundeswehr“. Hier wird u.a. dargestellt, dass die Bundeswehr verstärkt im öffentlichen Raum Präsenz zeigen wird, damit sich das „ganze“ deutsche „Volk“ hinter die neue Bundeswehr stelle: „Die Bundeswehr kann ihren Auftrag dann am besten erfüllen, wenn sich ihre Angehörigen auf die Anerkennung ihres Dienstes durch das ganze Volk stützen können. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund der Einsatzrealität von Streitkräften und ihren äußersten Folgen: Tod und Verwundung. Die Bundeswehr wird den kontinuierlichen Austausch mit der Gesellschaft pflegen, ein breites sicherheitspolitisches Verständnis fördern und Präsenz im öffentlichen Raum sicherstellen.“

Wir haben die neuen Verteidigungspolitischen ausführlich zitiert, um einen Eindruck des Selbstverständnisses der neuen Bundeswehr zu vermitteln. Die Zeit der Scham, in der man noch hinter vorgehaltener Hand von deutscher und wirtschaftlicher Interessendurchsetzung sprach, ist vorbei. Deutschland maßt sich eine Mittelmacht-Rolle an, die mit weltweitem Anspruch auftritt. Dass die Streitkräfte inzwischen als normales und unentbehrliches Instrument der Außenpolitik genannt werden, ist zumindest sprachlich neu. Für die Friedensbewegung gibt es viel zu tun, dieser Bundeswehr und ihrem neuen Selbstverständnis, für deutsche Interessen weltweit Kriege führen zu dürfen, offensiv entgegenzutreten.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".