Deutschland auf dem Weg in den Unrechtsstaat?

von Wolfgang Sternstein

Eine uralte Regel des Vertragsrechts lautet: pacta sunt servanda (Verträge müssen eingehalten werden). Dieses Gebot bildet das Fundament einer Rechtsgemeinschaft, in der Rechtssicherheit Vertrauen zwischen den Vertragsparteien schafft. Im Nichtverbreitungsvertrag (NVV) aus dem Jahre 1968, der 1975 in Kraft trat, verpflichtet sich die Bundesrepublik als Vertragspartei in Artikel II, "Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen". Soweit der Vertragstext. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

In Büchel, nicht weit von Cochem im Moseltal entfernt, üben deutsche Tornadopiloten den Einsatz mit zehn US-amerikanischen Atombomben vom Typ B 61 mit einer Sprengkraft von insgesamt 150 Hiroshima-Bomben, die von ihnen im Kriegsfall ins Ziel geflogen werden sollen, sobald der US-Präsident ihren Einsatz freigegeben hat. In Verbindung mit dem Mitspracherecht in der nuklearen Planungsgruppe der Nato läuft das unter dem Etikett: "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik". Damit verstößt die Bundesrepublik eklatant gegen Art. II des Nichtverbreitungsvertrags. Daran ändert auch die Einbindung in das "kollektive Sicherheitsbündnis" Nato nichts.

Und weiter. In Art. VI des NVV verpflichten sich die Vertragsparteien, "in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle". Diese Selbstverpflichtung gilt in erster Linie für die Atomwaffenstaaten. Sie gilt aber auch für die Bundesrepublik als Vertragspartei des NVV und Nato-Mitglied. Was hat sie in den knapp dreißig Jahren seit Inkrafttreten des Vertrages getan, um dieser Selbstverpflichtung nachzukommen und auf die Aufnahme derartiger Verhandlungen zu drängen? Nichts! Und das, obwohl der Internationale Gerichtshof (IGH) in seinem Gutachten zur Völkerrechtswidrigkeit von Atomwaffen vom Juli 1996 durch einstimmiges Richtervotum die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung noch einmal eindringlich angemahnt hat.

Die Vertragsstaaten des NVV und insbesondere die Bundesrepublik verhalten sich folglich permanent vertragswidrig. Statt ihre seit 29 Jahren bestehende Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung einzulösen, haben sie sich auf ein schädliches und gefährliches nukleares Wettrüsten im Kalten Krieg eingelassen mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden und die Zukunft der Menschheit. Eine dieser Folgen ist die Entstehung weiterer inoffizieller Atomwaffenstaaten, wie Israel, Indien und Pakistan, die nicht Mitglieder des NVV und zudem in Konflikte verwickelt sind, die zu den derzeit virulentesten gehören. Selbstverständlich werden andere Staaten folgen, was zur Folge hat, dass es immer schwieriger wird, die wachsende Zahl der Atomwaffenstaaten an einen Verhandlungstisch zu bringen. Das Ziel des NVV, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern und einen Weg zu ihrer Abschaffung zu eröffnen, rückt damit in unerreichbare Ferne.

Was ist ein Vertrag wert, der nur die schwachen, nicht aber die starken Vertragsparteien bindet? Sind die Nichtatomwaffenstaaten überhaupt noch an einen Vertrag gebunden, dem sie nur unter der Bedingung zugestimmt haben, dass die Atomwaffenstaaten ihre Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung erfüllen? Sage bloß keiner, er sei nichts wert! Er ist viel wert, denn er dient als Instrument, um die schwachen Vertragsparteien, wie z.B. den Iran, zur Einhaltung eben jenes Vertrages zu zwingen, den die starken permanent verletzen. Nicht genug also, dass das Recht im Konflikt mit der Macht gewöhnlich den Kürzeren zieht, es tritt jetzt in den Dienst der Macht. Es wird zum Instrument zynischen Machtmissbrauchs.

Überflüssig zu sagen, dass ich nicht für die Annullierung des NVV plädiere, sondern für seine Einhaltung. Wir haben es wahrlich nicht an Mühe fehlen lassen, diese rechtswidrigen Zustände vor dem Bundesverfassungsgericht anzuklagen. Eine Richtervorlage und insgesamt vier Verfassungsbeschwerden wurden vom Gericht ohne inhaltliche Begründung abgelehnt. Selbst der Wunsch des großen alten Mannes der deutschen Verfassungsrechtsprechung, Helmut Simon, stieß in Karlsruhe auf taube Ohren: "Als früherer Verfassungsrichter wünsche und hoffe ich nicht zuletzt, dass die Beurteilung des internationalen Gerichtshofes auch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet. All zu lange hat sich der militärische Bereich als merkwürdig resistent gegenüber verfassungsrechtlichen Anforderungen erwiesen".

Eine Änderung der Verfassungsrechtsprechung ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Meines Erachtens gibt es nur noch eine einzige Instanz, die fähig wäre, dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen: Die Macht des Volkes, die Macht der öffentlichen Meinung. Das hat schon der große Humanist, Arzt und Theologe Albert Schweitzer klar erkannt, als er 1961 schrieb: "Kein Land, in welcher Gegend der Erde es auch gelegen sein mag, kann sich der Hoffnung hingeben, dass das Vorhandensein von Atomwaffen es nichts angeht und es nichts davon zu befürchten hat. Darum muss die Erkenntnis dieser Gefahr bei allen Völkern der Erde verbreitet sein. Und alle müssen wissen, dass die Abschaffung dieser Waffen aufgrund der Tatsache, dass sie gegen das Völkerrecht sind, gefordert werden muss, wenn sie die beste Aussicht auf Erfolg haben soll. In dieser Weise ist sie am einfachsten und stärksten juristisch begründet. Wenn die öffentliche Meinung bei allen Völkern sich dieses Arguments bewusst wird und es geltend macht, dann kommt es unaufhaltsam dazu, dass diese grausamen Waffen abgeschafft werden."

Wir müssen uns fragen lassen, was wir in den 43 Jahren, die seitdem vergangen sind, getan haben, um das von Schweitzer so klar formulierte Ziel zu erreichen. Wohl stimmten bei einer repräsentativen Umfrage des forsa-Instituts im Jahre 1998, die heute wohl kaum anders ausfallen dürfte, 93 Prozent der Befragten der Auffassung zu: "Atomwaffen sind grundsätzlich völkerrechtswidrige Waffen und sollten weder produziert noch gehortet werden dürfen." Und 87 Prozent der Befragten bejahten die Forderung: "Die Bundesregierung sollte dafür sorgen, dass die auf deutschem Boden gelagerten Atomwaffen umgehend beseitigt werden."

Nun gilt es, aus dieser Meinungsmehrheit eine Willensmehrheit und schließlich eine Entscheidungsmehrheit im Bundestag zu machen. Deutschland hat in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht unerheblich zur Erfindung und dem Einsatz dieser "grausamen Waffen" beigetragen. Daraus erwächst uns die Verpflichtung, uns mehr als andere Völker für ihre Abschaffung einzusetzen.

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund

Themen

Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Er kam als Wissenschaftler nach Wyhl, schloss sich aber schon bald der Widerstandsbewegung gegen das Atomkraftwerk an. In seiner Autobiografie „Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit“ berichtet er ausführlich über den „Kampf um Wyhl“.