Afghanistan-Krieg

Deutschland vor Gericht: Der Luftangriff bei Kundus

von Andreas Schüller
Hintergrund
Hintergrund

Der Luftangriff bei Kundus, befohlen von Bundeswehroberst Klein, hat sich in das deutsche Gedächtnis eingebrannt. Am 4. September 2009 bombardierten zwei US-Flugzeuge eine Menschenmenge sowie zwei Tanklaster in der Nähe des deutschen Feldlagers in Kundus. Der Angriff zwang die Bundesregierung öffentlich einzugestehen, dass die Bundeswehr in Afghanistan in einen Krieg verwickelt ist. Mehr als zehn Jahre sind seither vergangen und seit dem Abschluss des Untersuchungsausschusses im Bundestag sind der Angriff und seine Folgen weitestgehend aus den Nachrichten verschwunden.

Doch für die Überlebenden und die Angehörigen der mehr als 100 getöteten Zivilist*innen ist die Nacht des Angriffs präsent wie eh und je. Dies berichtete zuletzt Abdul Hanan sehr eindrücklich gegenüber dem ECCHR. (1) Abdul Hanan verlor seine 8 und 12 Jahre alten Söhne, Nesarullah und Abdul Bayan, sowie einen Neffen durch den Luftangriff. Die Familien der Opfer seines Dorfes Omar Khel haben ihn als Repräsentanten ausgewählt. Er führte und führt im Namen aller die Gerichtsverfahren, von seinen Gesprächen mit den Anwält*innen in Deutschland und anderen berichtet er zurück an die Dorfgemeinschaft.

Endlich vor einem europäischen Gericht
Das vielleicht wichtigste Gerichtsverfahren, das Abdul Hanan angestrengt hat, ist das vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Am 26. Februar 2020 verhandelte die Große Kammer des EGMR den Fall. (2) Es hat geschlagene zehn Jahre ununterbrochener Prozessführung bedurft bis zu diesem einen Tag der Anhörung vor siebzehn Richter*innen. Abdul Hanans Anwaltsteam, unterstützt von den Jurist*innen des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) aus Berlin, hatte 2010 zunächst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens des Generalbundesanwalts in Karlsruhe Strafanträge gegen Oberst Klein und Hauptfeldwebel Wilhelm gestellt.

Nachdem das Ermittlungsverfahren sehr schnell eingestellt wurde, reichten die Anwält*innen Beschwerden beim Oberlandesgericht Düsseldorf und beim Bundesverfassungsgericht ein. Dieses entschied nach vier Jahren, die Beschwerde nicht anzunehmen. Es dauerte weitere drei Jahre, bis 2019 der EGMR Abdul Hanans Beschwerde aufgrund der herausragenden Bedeutung an die Große Kammer gab. Dies geschieht selten, in etwa 20 Fällen pro Jahr (bei einer jährlichen Beschwerdezahl von 44.500, z.B. in 2019).

Deutschland verletzte Menschenrechte
Der Schwerpunkt der Verhandlung am 26. Februar 2020 lag nicht auf dem Luftangriff selbst, sondern vor allem auf der Reaktion Deutschlands hierauf. Laut Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) ist Deutschland verpflichtet, bei Verletzungen des Rechts auf Leben effektive Ermittlungen durchzuführen und wirksame Beschwerdemechanismen zur Verfügung zu stellen. Im Kundus-Fall wären das eine umfassende Untersuchung der Umstände und des Verlaufs des Angriffs sowie Klagemöglichkeiten für die Betroffenen gewesen.

Doch schon der Bundestags-Untersuchungsausschuss hielt 2011 fest: Die Bundeswehr, das Verteidigungsministerium sowie die Strafverfolgungsbehörden versagten in der juristischen Aufarbeitung des Luftangriffs. Ermittlungen wurden verschleppt, Oberst Klein blieb verantwortlich in Kundus, seine Aussagen wurden von den Strafermittler*innen nicht hinterfragt. Das Verteidigungsministerium versuchte aktiv, Ermittlungen zu verhindern und zu beeinflussen. Anstatt dass sich deutsche Behörden in dem ersten großen Massaker deutscher Soldat*innen seit dem zweiten Weltkrieg einer tatsächlichen juristischen Aufarbeitung stellten, wurde auf allen Ebenen versucht, das Gegenteil zu bewirken: Unvermeidbare Schritte wurden soweit wie möglich geheim gehalten, Verantwortlichkeiten abgewiesen und jegliche Ermittlungen im Keim erstickt. Der Gipfel des fehlenden Aufklärungswillens war 2012 die Beförderung Oberst Kleins zum General.

Ein Präzedenzfall
Die Beschwerde von Abdul Hanan ist also von weitreichender Bedeutung. Es geht zum einen um Fehler, die deutsche Behörden in einem Präzedenzfall machten und die sich so in Zukunft nicht wiederholen dürfen. Zum anderen geht es um Gerechtigkeit, nämlich Anerkennung und Unterstützung für die Überlebenden und die Familien der Getöteten. Darüber hinaus soll das Verfahren vor dem EGMR auch klären, inwieweit der Gerichthof überprüfen darf, ob Auslandseinsätze der Bundeswehr – aber auch aller anderen europäischen Streitkräfte – und etwaige Ermittlungen dazu mit der EMRK konform sind. Aus diesem Grunde traten Großbritannien, Frankreich, Schweden, Norwegen und Dänemark dem Verfahren bei. Sie alle sprachen sich dagegen aus, dass der EGMR ihre Streitkräfte bei Auslandseinsätzen künftig vermehrt einer menschenrechtskonformen Überprüfung unterziehen darf.

Ein Urteil im Fall Kundus wird nicht vor 2021 erwartet. Doch Abdul Hanan könnte Rechtsgeschichte schreiben und hoffentlich zumindest ein Stückchen Gerechtigkeit erfahren.

Anmerkungen
1 Ein Ausschnitt seines Gesprächs ist online verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=grvBBWNgipA&feature=emb_logo
2 Die Verhandlung ist online verfügbar: https://www.echr.coe.int/Pages/home.aspx?p=hearings&w=487116_26022020&la...

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Rechtsanwalt Andreas Schüller ist Programmdirektor beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Das ECCHR setzt sich mit juristischen Mitteln für die Verfolgung und Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen ein (www.ecchr.de).