Die unendliche Geschichte einer Diskriminierung:

Die ausgebliebene Anerkennung und Entschädigung für die Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und "Wehrkraft­zersetzer" unter dem NS-Regime

von Günter Saathoff

Taten, Täter und Opfer

In den letzten Jahren ist die Rolle der Wehrstrafjustiz unter dem NS-Regime und die hohe Zahl ihrer Opfer ver­stärkt in das Bewußtsein der Öffent­lichkeit getragen worden: Mehr als 20.000 Todesurteile gibt es durch diese Blutjustiz zu beklagen, weit mehr, als selbst der Volksgerichtshof fällte.

Hinzu kamen Zehntausende von Haft­strafen. Eine grausame Behandlung (u.a. Elektrofolter) erfuhren ferner die Menschen, die über einen "Ausweg der Seele" (Kriegsneurosen, Selbstver­stüm­melungen etc.) dem Wehr­machtsdienst zu entkommen suchten. Für sie war die Wehrpsychiatrie zu­ständig.

Bis heute warten die Leidtragenden die­ser Maßnahmen darauf, als NS-Op­fer anerkannt und würdig entschä­digt zu werden. Zur Aufarbeitung der Ge­schichte der De­sertion, aber auch aus Solidarität mit die­sen jahrzehnte­lang von der Bun­desrepublik verfem­ten Opfern haben sich "Deserteurs­initi­ati­ven gegründet, die seit kurzem auch bundesweit ko­o­rdi­niert werden. Schließlich beginnen auch die überle­benden Opfer aus ih­rem historischen Schattendasein hin­aus­zutreten: Für den Oktober planen ehemalige Ver­folgte der NS-Militärju­stiz aus der BRD und der DDR die Gründung ei­nes gemeinsamen Ver­folg­tenverban­des.

Das Thema ist also nicht nur von hi­storischem Interesse: Es geht um das Lebensschicksal derer, die aufgrund ihrer Entscheidung, der Mordmaschi­nerie nicht mehr dienen zu wollen, heute ohne Altersversorgung leben müssen und dabei wahrnehmen, daß es ihren ehemaligen Peinigern - etwas den umstandslos von der BRD-Justiz übernommenen Wehrstrafrichtern - in dieser Hinsicht besser erging. "Mitge­macht" zu haben, zahlte sich bislang im­mer noch aus.

 

Die Opfer aus der Sicht des "Bundesentschädigungsgesetzes"

In der ôffentlichkeit herrscht oft der Eindruck, diejenigen, denen unter dem NS-Regime Unrecht widerfahren ist, erst recht, wenn sie KZ-Haft oder gar den Tod zu erleiden hatten, seien (Bzw. deren Hinterbliebene) in jedem Fall entschädigungsberechtigt. Dieser Eindruck trügt. Für diese Berechti­gung nach dem Bundesentschädi­gungsgesetz (BEG), die Anerkennung als Verfolgter, ist die Tatsache des er­littenen Unrechts allein nicht hinrei­chend. Entscheidend ist vielmehr, aus welchen Gründen man verfolgt worden ist. Die Absicht der Mörder und Ver­folger ist also ausschlaggebend für die Entschädigungberechtigung der Opfer. Der  1 des BEG legt fest, wer offiziell Verfolgter ist: Es ist nur, wer "aus Gründen politischer Gegnerschaft ge­gen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch natio­nalsozialistische Gewaltmaßnahmen ver­folgt worden ist ..."

Die Präambel des Gesetzes nennt fer­ner die "Widerstandskämpfer" aus po­litischer Gegnerschaft gegen den Na­tionalsozialismus als Gruppe der An­spruchsberechtigten. Relevant für De­serteure ist deshalb die Frage, ob sie die genannten Bedin­gungen erfüllen. Stellt z.B. eine Wei­gerung zur Einbe­rufung durch die Wehrmacht oder die Weigerung zur Tötung den von der Präambel gefor­derten "Widerstand ge­gen die na­tio­nal­sozialistische Gewaltherr­schaft" dar? Gegenteiliger Auffassung war die ständige Rechtsprechung des Bundes­gerichts­hofes (BGH).

Streng von der Kategorie der "Wi­der­standskämpfer" zu unterschei­den sind laut BEG eigentlich die Per­son, die aus politischen Gründen ver­folgt wur­den. Denn für diese wäre eine aktive Widerstandshandlung gar nicht nötig, um als Opfer anerkannt zu wer­den. Auch hier hat man sich von der deut­schen Richterschaft Interessantes ein­fallen lassen.

über diese grundsätzlich Fragen hin­aus sind weitere - einschränkende - Kriterien zu beachten, etwa die engen Antragsfristen. Was es für Kriegsopfer und selbst ehemalige SS-Offiziere nicht gibt, für NS-Opfer wurde es ei­gens eingeführt: Enge Antragsfristen, nach deren Ablauf Anträge grundsätz­lich nicht mehr gestellt werden konn­ten.

 

Waren Deserteure und Kriegsdienst­verweigerer politisch Verfolgte?

Die Verfolgung aus politischen oder religiösen Gründen hätte prinzipiell zum Beispiel auf bestimmte Religions­gemeinschaften (etwa Zeugen Jeho­vas) zutreffen können, die ihren Mitgliedern Militärdienst untersagten. Allerdings zeigt die Rechtspraxis, daß hier ein sinnige Unterscheidung ein­geführt wurde: Zeugen Jehovas seien zwar als Kriegsdienstverweigerer, nicht jedoch aus den vom BEG geforderten Gründen inhaftiert (oder getötet) worden, was den Tatbestand des  1 BEG allein nicht erfülle, Verfolgter gewesen zu sein! Man muß sich hier­bei vergegenwärtigen, daß z.B. für die Tatsache, aus rassischen Gründen verfolgt worden zu sein, besondere Handlungen der Verfolgten, also zum Beispiel Widerstandshandlungen, nicht vom BEG gefordert werden. Andern­falls wäre wohl nicht mehr als 1.000 Juden als NS-Verfolgte anerkannt worden. éhnlich hätte man auch mit den Deserteuren, Kriegsdienstverwei­gerern etc. verfahren können, die ja aus politischen Gründen dafür bestraft und umgebracht worden sind, daß sie nicht für den Faschismus in den Krieg zie­hen wollten. Gleichgültig also, wie de­ren Motivation zur Desertion war, ist rein objektiv der Tatbestand erfüllt worden, daß sie sich dem Nationalso­zialismus und seiner Wehrmacht entzogen und dafür politisch verfolgt worden waren. Diese Realität wurde allerdings rechtlich und politisch nie anerkannt.

Von großer Relevanz ist ein weitere Umstand: Soldaten, die desertiert wa­ren, gaben im Strafgerichtsverfahren häufig nicht an, sie hätten dies aus po­litischer Gegnerschaft zum NS-Regime getan. Dies hätte das sichere Todes­urteil bedeutet. Letztlich ist schwer re­konstruierbar, welches ihre tatsächli­chen Gründe waren. Aber in den Ak­ten der Verurteilten, die später eine Entschädigung begehrten, ging natür­lich das situativ im damaligen Strafge­richtsverfahren bezeugte Motiv zur Desertion ein - nicht selten ein Grund, deswegen später die Ent­schädigung zu versagen.

 

Der Abwehrtrick mit den Wider­standskämpfern

Über die - häufig nicht nachweisbaren oder anerkannten - Verfolgungsgrün­den des  1 BEG hinaus konnten Be­troffene Leistungen nur dann erhalten, wenn sie die Bedingung eines "Widerstandskämpfers" erfüllen.

Widerstandskämpfer war man laut BGH-Rechtsprechung bis 1966 aber nur, wenn die Handlung, für die man verfolgt worden war, "Teil eines Ge­samtverhaltens war, das eine gewisse Dauer und Nachdrücklichkeit erken­nen ließ und gewisse Erfolgsaussichten hatte".

Eine schlagende Begründung

Herausragend für die damalige Rechtsprechung des BGH war der Fall Georg Bock, der, wie der Kritiker Heinz Düx später das Urteil zusam­menfaßt,

"... Entschädigung wegen Freiheitsent­zug von monatlich 150.- DM verlangte, weil er im Herbst 1939 von einem Kriegsgericht zu 3 1/2 Jahren Fe­stungshaft verurteilt worden war und später von einem Feldgericht zu 1 1/2 Jahren Freiheitsstrafe. Die erste Strafe erfolgte, weil er einem Einberufungs­befehl nicht gefolgt war, die zweite, weil er sich später in der UdSSR ge­weigert hatte, Minen zu legen. Der Bun­desgerichtshof befand, daß das Ver­halten Bocks keine relevante Wider­standshandlung gewesen sei, denn Bocks Weigerung habe für die deut­sche Wehrmacht nur einen verschwin­dend geringen Kräfteausfall bedeutet, insbesondere wenn man berücksich­tige, daß er wegen eines Magenleidens ohnedies nur be­schränkt einsatzfähig gewesen sei. Er habe sich durch sein Verhalten nur der Gefahr ausgesetzt, zum Tode verurteilt zu werden. Diese Erwägungen hätten auch für seine Weigerung zu gelten, während der Kampfhandlung im Osten dem Befehl, Minen zu legen, Folge zu leisten. Es lasse sich nicht feststellen, daß seine Weigerung einen militä­rischen Nutzen gehabt habe, ganz ab­gesehen davon, daß Bock mögli­cher­weise dadurch Wehrmachts­ange­hö­rige in Gefahr brachte bzw. bewirk­te, daß eine mögli­che Abwendung von Gefah­ren für sie unterblieb. In jedem Fall habe er durch sein Verhalten auch seine Fa­milie schweres Leid gebracht." - eine Begründung, deren Zynismus nicht mehr zu überbieten ist.

1966 änderte der BGH seine Recht­sprechung geringfügig. Zwar seien alle sonstigen Entscheidungs­gründe ("Ge­samt­ver­hal­ten" ...) auf­rechtzuerhalten. Fortan aber solle auf das Kriterium der notwendigen "Erfolgsaussichten" der Widerstands­handlung verzichtet werden. Damit blieben aber weiterhin die allermeisten Deserteure und Kriegs­dienstverweige­rer (KDV) von Leistungen ausge­schlossen. Denn de­ren Verurteilungen waren nach Auf­fassungen des BGH rechtens. So konnte noch 20 Jahre nach Verkün­dung dieser Urteile die Bundesregie­rung in einer Unterrich­tung feststellen:

"Verurteilungen wegen Kriegsdienst­ver­weigerung, Fahnenflucht oder Zer­setzung der Wehrmacht haben im all­gemeinen nicht gegen rechtsstaatliche Grund­sätze verstoßen, da solche Handlungen auch in Ländern mit rechtsstaatlicher Verfassung, zum z.B. in den westeuropäischen Staaten, wäh­rend des Krieges mit Strafe bedroht waren. Gleichwohl können im Einzel­fall Verurteilungen solcher Art auf in  1 BEG genannten Gründen oder auf einer sonstigen Verletzung rechts­staatlicher Grundsätze beruht haben. Für rechtsstaatswidrige Schädigungen, die nicht auf den im  1 BEG genann­ten Gründen beruhen, gilt das Allge­meine Kriegsfolgengesetz."

Unterschlagen wurde damit, daß Ex­zesse wie die der Wehrstrafjustiz in "an­de­ren westeuropäischen Staaten" völ­lig unbekannt waren. Hier gab es al­lenfalls wenige Dutzend Todesur­teile, die meisten davon nicht einmal vollstreckt.

 

Die "Kriegssonderstrafrechtsver­ord­nung": Kein NS-Unrecht?

Der BGH nahm 1964 grundsätzlich zu der Frage Stellung, ob eine kriegsge­richtliche Bestrafung nach der "Kriegs­son­derstrafrechtsverordnung" (KSSt­VO), der relevantesten Rechts­grund­lage für die Aburteilung von Deserteu­ren, "Wehrkraft­zersetzern" etc. als natio­nalsozialistisch Gewaltmaßnahme an­zusehen sei. Ihm lag der Fall eines Vertreters der Religionsgemeinschaft der "Zeugen Jehovas" zur Entschei­dung vor, der aus Glaubensgründen der Einberufung zum Wehrdienst nicht nachgekommen und als "Wehrkraftzersetzer" kriegsgerichtlich zum To­de verurteilt worden war. Der BGH stel­lte fest, daß die einfache Verurtei­lung nach KSStVO, selbst wenn sie mit einem Todesurteil en­dete, für sich noch keine nationalso­zialistische Ge­waltmaßnahme sei. Grundsätzlich hätte diese Verurteilung die rechts­staatlichen Normen nicht verlassen.

Andernfalls, so der Senat, würde es bedeuten,

"... daß die Richter, die seinerzeit auf­grund dieser Norm (der KSStVO) Stra­fen verhängt haben, damit in je­dem Falle nicht Recht, sondern schlecht­hin Unrecht verübt hätte." -Schlich­tweg eine denkwürdige Ein­sicht!

Die Fristenhürde und das "Allgemeine Kriegsfolgengesetz"

Auch die wenigen, die durch den klei­nen "Sinneswandel" des BGH von 1966 potentiell für eine Leistung in Frage gekommen wären, erhielten diese nicht automatisch. Sie mußten nun er­neut den Antrags - oder Klageweg be­strei­ten und grundsätzlich die An­trags­frist bis zum 30.6.1966 einhalten. Nur in Ausnahmefällen wurde die Frist bis 1969 verlängert.

Schlimmer war es noch um die (angeb­liche) Möglichkeit bestellt, nach dem "Allgemeinen Kriegsfolgengesetz" Lei­stun­gen zu erhalten. Hier bestand nur eine Antragsfrist von 1957-58! Auch die­se wird kaum jemand genutzt ha­ben: die Verfolgten nahmen ja an, un­ter das BEG zu fallen.

 

Eine neue "Härteregelung"

In den letzten Jahren haben viele Op­fer, die von den Gesetzen nicht als Ver­folgte anerkannt worden waren, ver­suchten, die ôffentlichkeit auf ihrer Mi­sere aufmerksam zu machen. Herzu zählen Zwangssterilisierte, "Euthana­sie"-Ge­schädigte, Homosexu­elle, sog. "A­so­zi­ale", aber auch die De­serteure und Kriegsdienstverweigerer. Durch den Beschluß des Bundestages vom 3.12.1987 wurde trotz jahrelangen Be­mühungen der GRöNEN und der SPD die für die bislang aufgeschlosse­nen NS-Opfer geforderte Rentenre­ge­lung bzw. eine Bundesstiftung auf recht­licher Basis verhindert. Die Bun­des­regierung und die Fraktion der CDU/CSU und FDP waren nur zu ei­ner sogenannten "abschließenden Här­te­regelung" bereit. Als Verfolgte im Sin­ne des BEG wurden die ge­nannten Op­fer­gruppen wiederum nicht aner­kannt. Die Formel für NS-Un­recht, die auf Deserteure und KDV angewendet wird, hat dabei einen be­merkens­werten Wortlaut:

"Als Unrecht gelten auch gesetzmäßig verhängte Strafen, wenn sie, auch un­ter Berücksichtigung der Zeit -, ins­besondere der Kriegsumstände, als über­mäßig bewertet werden müssen."

Nur gesetzmäßig verhängte Strafen (die vielen tausend Todesurteile der Stand­gerichte also nicht?!) sollen also darunter fallen. Und was heißt "unter Be­rück­sichtigung der Zeitumstände" und mehr noch "der Kriegsumstände"? Was heißt unter den damals vorhab­den Bedingungen der Normalität mas­sen­hafter Todesstrafen (immerhin mehr 20.000 Todeurteile), nicht ge­rech­net die Haftstrafen usw., eigent­lich "übermäßig"?

Damit allerdings nicht genug: Die Härteleistungen sind außergesetzliche Leistungen, auf sie besteht kein Rechtsanspruch. Betroffene können gegen Entscheidungen der Bundesre­gierung nicht vor ordentlichen Ent­schädigungsgericht klagen.

Eine Fülle unglaublicher Ausschluß­klauseln wurde geschaffen: Leistung bekommt nur, wer zum Zeitpunkt der Verfolgung (!) Deutscher war und zur Zeit der offiziellen Antragsfristen zwingend "gehindert war", die An­tragsfrist des AKG einzuhalten. Vor­aussetzung für Leistung ist ferner, daß die Opfer erhebliche Gesundheits­schäden erlitten haben und sich ge­genwärtig in einer Notlage befinden.

Man darf auch nach 1945 weder akti­ves Mitglied der KPD oder einer an­deren Organisation, die gegen die FDGO verstoßen hat, gewesen sein noch nach BRD-Recht zu hoher Haft­strafe verurteilt worden sein. Hat man dies alles erfüllt, erhält man laut  6 dieser Härteregelung eine einmalige Beihilfe "bis zu (!) 5.000.- DM". Weitaus strengere Bedingungen sind zu erfüllen, um eine laufende Beihilfe (Rente) zu erhalten.

Wer wundert sich da, daß es im Jahre 1988 im gesamten Bundesgebiet kei­nen einzigen Fall bei Deserteuren, KDV, "Wehrkraftzersetzern" gelungen war, eine laufende Leistung zu erhal­ten und ebenso (immerhin?) 6 "Wehr­kraft­zersetzern und Kriegs­dienst­ver­wei­gerern, eine einmalige Beihilfe "bis zu 5.000.- DM"?

Liegt ein "normales" Urteil nach der KSStVO vor, ist eine Entschädigungs­be­rech­tigung ja noch nicht gegeben. Während also, um dies als Kontrast hinzuzufügen, ein SS-Offizier, dem "in Ausübung seines Dienstes" ein Ge­sund­heitsschaden entstanden ist, Lei­stun­gen nach dem Bundesversor­gungs­gesetz erhalten kann - das nicht einmal An­tragsfristen wie das BEG kennt -, ist den Opfern dieser "Dienstleistung" weit­gehend eine sol­che Altersver­sor­gung versagt geblie­ben.

 

Ausschluß aus der Rentenversiche­rung und Lage der Hinterbliebenen

Entscheidende Bedeutung für die Be­troffenen hat die Frage, inwieweit ihre Verfolgungszeit in der Rentenversi­cherung gewertet werden. Das ein­schlägige Gesetz hierzu, das "WGS­VG", sieht eine solche Möglich­keit vor. Der Haken: es wird nur auf diejenigen angewandt, die offiziell als Verfolgte i.S. des  1 BEG anerkannt worden sind. Abermals fallen hier De­serteure und Kriegsdienstverweigerer aus ge­nannten Gründen heraus - ebenso wie z.B. Zwangssterilisierte.

Besonders ist auch auf die Lage der Hin­terbliebenen der Opfer, die von der NS-Justiz ermordet wurden oder schon verstorben sind, hinzuweisen. Sie hatte "selbstverständlich" auch Fri­sten und spezifische Bedingungen ein­zuhalten. Der BGH urteilte z.B. 1975:

"Wer als Verlobter eines Verfolgten von NS-Gewaltmaßnahmen mitbe­trof­fen worden ist und den Verfolgten erst spä­ter geheiratet hat, gilt nicht als na­her Angehöriger" - und erhält damit kei­ne Leistungen.

Innerhalb der "Härteregelung" wird diese Formel analog angewandt. Die Hin­terbliebenen müssen sich gar, um "mit­betroffen" zu sein, einen dauern­den Gesundheitsschäden geholt haben! Selbst dann werden ihnen aber lau­fen­de Leistungen, also z.B. eine Al­ters­ver­sorgung verwehrt. Auch für sie heißt die Antwort: Einmalige Leistung "bis zu 5.000.- DM".

 

Rückblickend und für die Zukunft bemerkt

Wer die Anwendung der Entschädi­gungs­gesetze studiert, kommt schnell zu der Erkenntnis, daß es sich einfach um "vergessene Opfer" handelt. Diese Op­fer sind systematisch von allen Ent­schä­digungsansprüchen ausgeschlossen wor­den - sowohl bereits durch die spe­ziel­len Anforderungen des BEG, ins­be­sondere aber durch die Rechtspre­chung der höchsten bundesdeutschen Ge­richte. Der Gesetzgeber, die Bun­des­regierung und vor allem der Bun­des­gerichtshof arbeiteten Hand in Hand, den Deserteuren streitig zu machen, daß sie aus politischen Gründen ver­folgt worden sind. Der zentrale Wi­der­spruch, daß nämlich allgemein an­er­kannt wird, Hitlers Kriege seien ver­bre­cherisch gewesen, diejenigen, die sich ihm entzogen hatten und dafür bestraft wurden, seien zu diesem Ent­zug aber nicht legitimiert gewesen, ist über Jahrzehnte vertuscht und geleug­net worden.

Man hat diesen Verfolgten - selbst un­ter den vielen Opfern ein einmaliger Fall - eine zusätzliche Beweislast auf­ge­bürdet, die ihnen selbst nach den Grund­lagen des BEG nicht hätte zu­ge­mutet werden dürfen. Es reichte nicht, daß sie sich den Verbrechen des NS-Re­gime entzogen haben und da­für be­straft oder ermordet worden sind. Sie mußten zugleich "Widerstandskäm­pfer" gewesen oder ein bestimmtes "Ge­samt­verhalten" ge­zeigt haben. Das Op­fer mußte also makellos gewesen sein, um zur Ent­schädigung berechtigt zu werden. 

Ein besonderes Problem besteht darum in der vielfach vertretenen Auf­fassung, die Deserteure seien dann als NS-Opfer anzuerkennen und eines Denk­males wert, wenn sie die Bedin­gungen als Widerstandskämpfer er­füllen. Abgesehen davon, daß man dazu genötigt wäre, achselzuckend wahrscheinlich der Mehrheit der 20.000 zum Tode verurteilten Deser­teursfälle gegenüberzustehen, fügt das Attribut "Kriegsdienstverweigerer" oder "Deserteur" dem Sachverhalt "Wi­der­standskämpfer" sachlich, recht­lich, logisch und praktisch nichts hinzu. Man könnte ebenso formulieren: Auch Rad­fahrer können als NS-Verfolgte an­erkannt werden, wenn sie nur die Be­dingungen als Widerstandskämpfer oder die sonstigen "mitursächlichen Kri­terien" laut BEG erfüllen. Kein De­ser­teur oder KDV ist ja allein wegen der Aburteilung für seine Verweige­rung anerkannt und entschädigt wor­den. Eine öberwindung dieser skan­da­lösen Situation erfordert zumindest drei Elemente auf politischer und recht­licher Ebene:

  1. Die bisher nicht zu rechtfertigende Trennung von "verbrecherischen Or­ga­ni­sationen" wie SS, NSDAP und "un­schuldiger, neutraler Wehrmacht" muß über­wunden werden. Ohne die Zu­sam­menarbeit von NS-Organisatio­nen und Wehrmacht wären z.B. die Ver­nich­tungsaktionen in den überfal­lenen Staa­ten nicht durchführbar ge­wesen. Auch die Rechtsmaschinerie der Mili­tär­justiz hatte eine explizit dem NS-Staat und seinen Vernich­tungszielen die­nende Funktion. Glei­ches gilt, so­weit bekannt, auch für die Son­der­maßnahmen der Militär­psychiatrie. Mit der öberwindung der herrschen­den Ideologie bekämen die Verurtei­lungen der Militärjustiz den ihnen ge­bührenden Stellenwert: Dann wären die Verturteilung nach der KSStVO mehrheitlich NS-Unrecht - eine Be­ur­tei­lung, die auch der be­kannte Mili­tär­hi­storiker Prof. Messer­schmidt vertritt.
  2. Damit wären auch bestimmte Straf­lager/Strafbataillone als zur Ent­schä­di­gung berechtigende Inhaftierung oder KZ-Haft einzustufen. Anerkannt wer­den müssen auch die Sondermaß­nah­men durch die Militätpsychiatrie, ein­schließlich der Vernichtung der "nicht mehr Therapierbaren" in An­stal­ten wie Hadamar
  3. Der bislang verwendete Verfol­gungs­begriff ist grundsätzlich zu über­denken: Es ist inakzeptabel, die Moti­va­tion der Verfolger zum ausschlagge­ben­den Kriterium zu erheben, hinter dem das Schicksal des Verfolgten, Op­fer gewesen zu sein, letztlich ver­schwin­det. Entschädigungsberechtigt müß­te derjenige sein, der Opfer des NS-Staates geworden ist. Es wäre des­halb auch keine ausreichende Forde­rung, die genannten Personen nach­träg­lich in das BEG aufnehmen zu wol­len. Besser wäre sicherlich eine ge­setzlich Neuregelung, etwa in Ge­stalt ei­ner von vielen Verfolgten-Ver­bän­den favorisierten Bundesstiftung. In den Wortlaut einer solchen gesetzli­chen Neuregelung könnte leicht eine For­mel aufgenommen werden, die ei­ne Verurteilung allein wegen der Tat­be­stände Desertion oder Kriegs­dienst­verweigerung als hinreichenden Ent­schä­digungsgrund qualifiziert. Diese Ver­ur­teilung wurde von einem ver­bre­cherischen Regime in Zusam­menhang mit einer verbrecherischen Kriegs­füh­rung realisiert. 

Es ist allerdings zweifelhaft, ob die Be­trof­fenen noch zu Lebzeiten in den Ge­nuß einer solchen "ideologischen Re­vo­lution" kommen werden. Zumin­dest ein kleiner historischer Fortschritt ist, daß - wie in Hamburg - auf Län­der­ebene in einer Stiftung versucht wird, die bisherigen gesetzlich fixierten Aus­schlußtatbestände "aufzuweichen".

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Günter Saathoff, wissenschaftlicher Bei­rat der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz.