Die Bedeutung der Stalinismusdiskussion in der Sowjetunion für uns

von Elisabeth Weber

Seit einigen Monaten kommen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Begegnungseisen in die Sowjetunion zunehmend aufgewühlter zurück. Neben die gemeinsamen Diskussionen über die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion und die Kranzniederlegungen an den Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus treten plötzlich Diskussionen über die Verbrechen Stalins, werden von den Gesprächspartnern in der Sowjetunion plötzlich Vergleiche zwischen Hitler und Stalin gezogen, werden die deutschen Gäste nach ihrer Ansicht über die Mitschuld Stalins am Ausbruch des 2. Weltkriegs gefragt. Was ist los in der Sowjetunion? Sind sie plötzlich alle zu Anhängern von Nolte geworden?

 

In der Sowjetunion hat zum ersten Mal seit den späten 50er Jahren, seit dem 20. Parteitag der KPdSU und dem frühen Tauwetter wieder eine große Debatte über die eigene Vergangenheit begonnen. Die Frage nach der Bewertung des Stalinismus ist zu einem der großen Themen geworden, an dem Reformer und Konservative in der Sowjetunion sich unterscheiden. Die Reformer sagen: ohne die Wahrheit über die Vergangenheit gibt es keine demokratische Zukunft für unser Land; mir wenn wir uns Klarheit dar¬über verschaffen, warum so viele Menschen an den Stalinschen Verbrechen mitschuldig wurden, davon profitierten oder dazu schwiegen, wird eine Wiederholung unmöglich werden; ohne eine Rehabilitierung und öffentliche Wiedergutmachung der Opfer des Stalinismus wird unsere Gesellschaft moralisch krank und unsere Regierung ohne moralische Legitimität bleiben.
Die Konservativen dagegen sagen: natürlich, nicht alles, was Stalin getan hat, war richtig. Aber die Industrialisierung des Landes und der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg sind sein Verdienst, Opfer müssen nun mal gebracht werden. Das Land wird nicht zur Ruhe kommen, wenn immer nur über die Verbrechen der Vergangenheit geredet wird. Macht doch nicht das Ansehen unseres Landes kaputt. Wir sind doch nicht alle Verbrecher gewesen (vgl. z. B. die Debatten in der deutschsprachigen Ausgabe der Mos¬kau News).
Weit über die Reihen der KPdSU hinaus hat diese Diskussion die Menschen in der Sowjetunion ergriffen. Viele haben sich jetzt in der antistalinistischen Bewegung "Memorial" organisiert, die, in vielem den Geschichtswerkstätten bei uns vergleichbar, Interviews mit Zeitzeugen machen, Dokumente über die Stalin-Zeit sammeln und veröffentlichen.
Viele von uns werden spontan die autoritären und antiaufklärerischen Argumentationsstrukturen der Konservativen ablehnen und sich dem demokratischen Impetus der Leute von "Memorial" verbunden fühlen. Zugleich aber erlebe ich gerade bei jungen Deutschen immer wieder die Angst, sich plötzlich auf der „falschen" Seite wiederzufinden, die Angst, in eine Diskussion hineingezogen zu werden, der man sich nicht gewachsen fühlt.
Woher kommt diese Angst? Meiner Ansicht nach rührt sie daher, daß viele in der Friedensbewegung sich zu lange mit einfachen Schemata zufrieden gaben und jetzt Angst vorm Verlust des einfachen Weltbildes haben. Das einfache Schema bestand darin, daß gegen den Nationalsozialismus als dem absolut Bösen in einem simplen Umkehrschluß jeder, der gegen ihn kämpft, als gut bezeichnet wurde. Dies ersparte nicht nur genaueres Hinsehen, sondern verschaffte auch das an¬genehme Gefühl, selbst als "Antifaschist" immer a priori im Recht zu sein. Wie fühllos und selbstgerecht diese Haltung ist, habe ich selbst am schroffsten in Polen gelernt, als Krakauer Freundinnen und Freunde mit Bitterkeit über die Deutschen sprachen, die in vollklimatisierten Reisebussen nach Auschwitz fahren, dort in einem schönen Haus mit gutem Essen wohnen. „Ihr Deutschen“, sagten sie zu uns, „sollt immer die Besten sein. Und wenn schon nicht die Besten, dann eben die besten Schlechten, Was mit uns passiert, interessiert euch heute genausowenig wie damals. Daß mein einer Großvater von Hitler und der andere von Stalin umgebracht wurden, wollt ihr nicht hören. Hauptsache, man stört euch nicht in eurer Luxustrauer.“
Die Stalinismus-Diskussion verlangt von uns keine Rechtfertigung Hitlers. Anders als Nolte wollen die Menschen in der Sowjetunion nicht über Stalin reden, um Hitler zu entschuldigen. Zu sehr haben sie unter Hitler gelitten. Ihr Motiv, mit Stalin und dem Stalinismus abzurechnen, ist der Wunsch nach Demokratie und Gerechtigkeit in der Sowjetunion selbst.
Die Stalinismus-Diskussion in der Sowjetunion verlangt von uns aber den Bruch mit unserem selbstgerechten Antifaschismus. Sie verlangt Zuhören. Sie verlangt Mitleid mit den Opfern andere Verbrechen als denen Hitlers. Sie verlangt das Eingeständnis, daß wir nur wenig darüber wissen, was wir für die Ausbreitung von Demokratie, Toleranz und Mitmenschlichkeit in unserem Land tun können. Sie ermöglicht uns die Erkenntnis, daß erst hinter den einfachen Weltbildern das gemeinsame Bemühen um ein nach innen und außen friedensfähiges Europa beginnt.
Die Stalinismus-Diskussion in der Sowjetunion ist eine große Chance auch für uns.

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Elisabeth Weber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Bundesfraktion der Grünen.