Die Bitten um militärische Nothilfe dürfen von der Friedensbewegung nicht zurückgewiesen werden!

von Roland Reich

Leserbrief zu einer Antwort des Komitees für Grundrechte und Demo­kratie auf den Offenen Brief von Friedensgruppenmitgliedern aus Ex-Jugoslawien an die Friedensbewegung in Europa ("FriedensForum" 5/94)

Wenn die Bitte um militärische Nothilfe in Ex-Jugoslawien von Mitgliedern dortiger Friedensgruppen vorgebracht wird, müssen wir als Außenstehende diese Bitte der unmittelbar Betroffenen besonders ernst nehmen. Diese Men­schen wissen vermutlich, weshalb sie sich im Kampf für die Prinzipien der Toleranz und Gewaltfreiheit engagieren. Schwer erträglich muß für diese Betrof­fenen der vom Komitee erhobene Vor­wurf sein, sie würden "den Krieg in Bosnien zu einem ganz besonderen Konflikt erheben, bei dem alle Argu­mente der Friedensbewegung und des Pazifismus nicht gelten sollen". Wenn dieser Vorwurf von besonders aufopfe­rungsvollen humanitären Helfern vorge­bracht wird, denen die Betroffenen zu Dank und Anerkennung verpflichtet sind, werden sie sich anstandshalber kaum dagegen wehren können. Desto wichtiger erscheint es, die historischen Belehrungen des Komitees von uns aus kritisch zu überprüfen:

1.    Die Behauptung, daß "die Militärin­terventionen der Großmächte ... nie­mals humanitären Zwecken gegol­ten" hätten, ist in dieser uneinge­schränkten Formulierung nicht be­weisbar. Spricht nicht im Gegenteil vieles dafür, daß z.B. Präsident Clinton mit seinem Engagement in Bosnien tatsächlich in erster Linie humanitäre Ziele verfolgt (im Gegen­satz zu Bush im Golfkrieg)?

2.    Die Behauptung, eine militärische In­tervention würde "nur die Kette mili­tärischer Gewalt fortsetzen", also "zu einer Ausweitung des Krieges und Vergrößerung des Leidens füh­ren", ist ebenfalls nicht ohne Ge­genbei­spiel: So hat bei dem UNO-Ultima­tum im Februar 1994 bereits die blo­ße Drohung mit militärischer Gewalt zu einer Beendigung des jahrelangen Artilleriebeschusses von Sa­rajewo geführt! Würden die Politiker jetzt dem Drängen der Friedensbe­wegung nachgeben und sich bedin­gungslos verpflichten, in Zukunft keine Kano­nen in Bosnien mehr bombardieren zu lassen, dann würde doch der Ar­tilleriebeschuß auf Sarajewo nach den bisherigen Erfahrungen wahr­scheinlich wieder aufgenommen wer­den. Wen wundert es, daß die Betrof­fenen eine solche Forderung "empö­rend" finden?

3.    Zwar kann die Friedensbewegung über die Politik der westlichen Staa­ten gegenüber Bosnien nicht direkt entscheiden, aber daß das Votum die­ser potentiellen Wählerschaft über­haupt keinen Einfluss hätte, ist sicher auch nicht richtig. So könnte dieses Votum indirekt leider mit dazu bei­ge­tragen haben, daß das Ultimatum von Sarajewo nicht schon 2 Jahre früher erfolgt ist, wodurch die ethni­schen Säuberungen in Ex-Jugosla­wien wahrscheinlich hätten vermie­den werden können!

4.    Daß durch eine Befürwortung be­grenzter militärischer Gewalt alle Ar­gumente der Friedensbewegung für ungültig erklärt würden, ist eben­falls unrichtig: Die Erfinder und Ver­fech­ter des Konzeptes der "Defensiven Verteidigung" gehören nämlich hi­storisch zu den prominen­testen Ver­tretern der Friedensbewe­gung! Die­ses Konzept aus der Zeit des "Kalten Krieges" ging von der Er­kenntnis aus, daß nicht nur die Spi­rale von Ge­walt und Gegengewalt, sondern ande­rerseits auch ein Zu­rückweichen vor Gewalttätern zu ei­ner Eskalation der Gewalt beitragen kann. Darum darf man auf militäri­sche Verteidigungs­fähigkeit bei Vor­handensein bewaff­neter Gegner nicht verzichten, son­dern man muß die Verteidigungsfä­higkeit so strukturie­ren, daß sie nicht unberechenbar-bedrohlich, sondern deeskalierend wirkt, indem die Ziele eines Angreifers nur berechenbar ver­eitelt werden, ohne ihn in seinem ei­genen Gebiet zu be­drohen.

      Mir scheint, daß Clinton in seiner neuen Militärdoktrin zur "Friedenser­zwingung" in Bosnien wesentliche Elemente dieses Defen­sivkonzepts verinnerlicht hat. Hier hat nämlich das Militär nicht mehr, wie im Golf­krieg, die Aufgabe, einen strahlenden Sieg zu erringen und eine neue Welt­ordnung nach dem Plan der Groß­mächte zu errichten, sondern nur, den Vollzug des Faustrechts zu ver­hin­dern. Das bedeutet keine Par­tei­nahme und keine Strafaktion. Die militä­risch schwächere Partei soll le­diglich die Chance fairer Friedens­verhand­lungen erhalten. Die dahin­terstehende Philosophie entspricht dem Konzept der defensiven Vertei­digung, vor Ge­walt nicht zurückzu­weichen, aber die Gewalt auch nicht zu eskalieren. De­fensive Verteidigung ist durch na­tur­gesetzliche Berechen­barkeit gekenn­zeichnet und wirkt da­her weder be­drohlich noch demüti­gend. Diese Art von Gewalt erzeugt keinen Hass und schafft keine Fakten, die einer späteren Versöhnung und Friedens­arbeit im Wege stehen, wie das bei offensiver Militärgewalt zu Recht be­fürchtet wird. (Die Ähnlich­keit der neuen Friedensstrategie mit dem De­fensivkonzept betrifft natür­lich nur die hier skizzierte Philoso­phie und die demokratisch kontrol­lierte Ziel­setzung für die Befehlsha­ber, nicht aber die Waffentechnik: Die UNO benötigt nämlich eine Luftwaffe größter Beweglichkeit und Reich­weite, während z.B. Minen für die Befriedung Bosniens völlig un­brau­chbar sind.)

      Es wäre eine Begriffsverwirrung, wenn man die Bereitschaft zur de­fen­siven Verteidigung des eigenen Vol­kes (Notwehr) oder auch eines ande­ren Volkes im Auftrag der UNO (Nothilfe) als "Option für den Krieg" bezeichnen würde, der auf diese Weise wieder "salonfähig" ge­macht werden solle, denn durch de­fensive Verteidigung wird ja nie­mals ein Krieg verursacht und auch nicht eskaliert, und sie verfolgt nicht das Ziel einer Veränderung oder Neu­ordnung im Interesse irgend einer Partei. Insofern ist das Wort "Kriegs­option" hier unzutreffend. Es ist nur anwendbar auf offensive Militärein­sätze. Defensive Militäreinsätze sind insofern kein "Mittel" oder "Werk­zeug" der Politik, als sie nicht direkt eine Veränderung bewirken wollen. Friedensfähige Veränderun­gen kön­nen nämlich durch Waffen­gewalt nicht bewirkt werden, wohl aber kön­nen (als Voraussetzung für die ei­gentliche Friedensarbeit) die Waffen manchmal durch Waffenge­walt zum Schweigen gebracht wer­den.

5.    Um das Übel an der Wurzel zu packen, muß allerdings zu der militäri­schen Defensive der UNO noch eine geistige Offensive hinzutreten, indem die UNO in Ex-Jugoslawien das Fernsehen zur Aufklärung der belo­genen und verhetzten Völker einsetzt (vgl. Marlene Nadle, ZEIT vom 30.07.93, und Peter Glotz, ZEIT vom 10.09.93). Das Redaktionsteam der multikulturellen Zeitung Oslobodenje in Sarajewo sollte mit Hilfe eines Sa­tellitenfernsehens der UNO in die La­ge versetzt werden, seine Versöh­nungsbotschaften auf das gesamte ehemalige Jugoslawien auszudehnen, um den von den serbischen und kroa­tischen Machthabern gesäten Hass zu entschärfen und ein Beispiel von To­leranz und Meinungsfreiheit zu set­zen und die Pläne der Nationa­listen zur ethnischen Entmischung zu kon­terkarieren. (Vgl. den Artikel von Claus Leggewie über den serbischen Journalisten Zlatko Dizdarevic von der Zeitung Oslobodenje in Sarajewo in der Zeit vom 12.08.1994 S. 35) Daß von den Friedensgruppen der an Bosnien-Herzegowina angrenzenden Länder die Verteidigung des souverä­nen Staates Bosnien-Herzegowina noch jetzt als friedensfähige Lösung des bosnischen Konflikts einge­schätzt wird, ist in der deutschen Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt.

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Roland Reich ist Professor an der FU Berlin