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Ein Beitrag zur Lage der Wehrpflicht
Die Bundeswehr in Berlin und in den neuen Bundesländern
von
Seit der nichtmilitärischen Vereinigung marschieren wieder deutsche Militärs in Berlin. Noch wagen sie keine öffentliche Parade durch Berlin, sondieren stattdessen das politische Klima bei öffentlichen Konzerten der Bundeswehrbigband, als Wasserreicher beim Berlinmarathon, als "tollkühne Flieger" anläßlich der Internationalen Luftschau oder als Referenten vor handverlesenem Publikum. Wie unerwünscht sie wirklich sind, erfahren nur Jugendoffiziere, die in Schulen ihr anbefohlenes Militärwissen präsentieren. Die moderaten "Bürger in Uniform" gerieten dabei so sehr in Argumentationsnöte, wenn ihnen Kriegsdienstverweigerer gegenüberstanden, daß beim Schulsenator der Ausschluss der "Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär" (Zusammenschluss von 65 antimilitaristischen Organisationen) erwirkt wurde. Zusätzlich weigern sich die drückebergerischen Militärs zusammen mit KampagnenvertreterInnen bei anderen Veranstaltungen aufzutreten und drohen den VeranstalterInnen mit ihrer Absage.
Dennoch gelang es mit zahlreichen Initiativen die Militärs effektiv zu behindern. Die Einberufung des ersten wehrpflichtbetroffenen Jahrganges konnte 18 Monate verhindert werden. Massenhafte Erfassungs-, Musterungs- und Eignungsverwendungsprüfungsverweigerungen, die Ausschöpfung sämtlicher Antragsmöglichkeiten, die Ausnutzung von Formfehlern, Kriegsdienstverweigerungen, Totalverweigerungen und Aktionen vor den Kreiswehrersatzämtern und Kasernen ermöglichten vielen Wehrpflichtigen den Beginn des Studiums bzw. einer Berufsausbildung, so daß sie nach Absolvieren des ersten Drittels der Ausbildung zunächst einmal vor dem Zugriff der Militärs geschützt sind.
Neben zahlreichen anderen Aktionen Zivilen Ungehorsams für die Abschaffung der Militärs z. B. entschlossen-friedliche Stürmung des ehemaligen Verteidigungsministeriums, phantasievolle Besetzung von Landungsbooten der Bundeswehr u.a.m. - erlangten wir Wirkung und Aufmerksamkeit mit Blockaden von Rekrutenzügen. Jedes Vierteljahr zwingt die Bundeswehr ca. 50.000 Männer in die Kasernen. Ungefähr 1.000 Berliner müssten jedes Quartal sich militarisieren lassen. Wir rufen deshalb jedesmal zu einem Aktionstag gegen Wehrpflicht, Zwangsdienst und Militär auf. Ziel der Aktionstage ist die Aufklärung der Betroffenen und der Bevölkerung, denn Rekrutierung ist kein normaler Vorgang. Jede Einberufung ist ein Skandal, ist Freiheitsberaubung. Am 1.4.93 steigerten wir die Radikalität unserer Aktionstage angesichts der zunehmenden Einsatzausweitung der Bundeswehr. Auf dem Alexanderplatz vernichteten wir öffentlich mit dem Segen eines Pfarrers Originalerfassungs- und Musterungsbögen sowie Einberufungsbescheide. Zuerst zerkleinerten wir sie mit einem Reißwolf, um sie anschließend unter den Augen der Ordnungshüter zu verbrennen. Sodann täuschten wir die Bundesgrenzschützer durch Ablenkungsaktivitäten auf verschiedenen Bahnhöfen, da der Bundesgrenzschutz das Hausrecht auf allen Bahnhöfen Berlins hatte und versuchte durch massive Kontrollen unsere Aktion zu vereiteln. Trotzdem gelang es uns wieder eine Lücke zu finden und einen Zug mit vielen Rekruten zu blockieren, obwohl alle Bahnhöfe von mehreren Hundertschaften abgesichert waren. Während die Bundesgrenzschützer etwa 100 BlockiererInnen abräumten berieten im Zug "mobile Beratungsstellen" die Einberufenen. Insgesamt stiegen sechs Leute aus und stellten sofort ihren Kriegsdienstverweigererungsantrag. Die Reisenden klärten wir mit Flugblättern und einem Lautsprecherwagen über das Ziel der Aktion auf. Überwiegend trafen wir auf Verständnis bisweilen sogar Unterstützung. Unmittelbar nach solch spektakulären Aktionen sind unsere Beratungsstellen voller. Unangenehme Begleiterscheinungen sind die nachfolgenden Prozesse wegen Nötigung und Hausfriedensbruch sowie die zum Teil rüden bis brutalen Abräummethoden.
Wir sammeln bereits wieder Originale, um ein Kunstobjekt zu modellieren... Unser Verfahren ließen wir nicht patentieren und wünschen uns die rasante Verbreitung solcher Aktionen und stehen gerne mit Rat und Tat zur Verfügung. Noch lieber wäre uns Kooperation. Die Militärs müssen spüren, daß sie zwar ein höriges Bundesverfassungsgericht besitzen, aber auch widerspenstige Wehrpflichtige. Trotz dieser Erfolge darf nicht übersehen werden, daß und wie sich der militärische Krebs in die Berliner Gesellschaft hineinfrisst. Jüngstes Beispiel: Die Neue Wache, das "Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus" wird gegenwärtig als Kranzabwurfstelle zur Ehrung aller Toten für Staatspräsidenten umgebaut. Künftig sollen somit "alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" an der zentralen Gedenkstätte gewürdigt werden, wobei eine Vermischung von Opfern und Tätern vorgenommen wird. Dies ist eine unerträgliche Verhöhnung der Opfer, da vergaste Juden, ermordete "Untermenschen", gelynchte Deserteure und ZwangsarbeiterInnen niemals gleichgesetzt werden dürfen mit den Tätern und Mitläufern des Nazisystems. Hiergegen ist nationaler und internationaler Widerstand gefordert.
In den Neuen Bundesländern hingegen kann die Bundeswehr beinahe hemmungslos wirken und die Ostdeutschen wie Wehrpflichtige zweiter Klasse behandeln, da bislang geeignete Widerstandstrukturen fehlen. In den Kreiswehrersatzämtern residiert altes NVA-Personal. Lediglich die Leiter und ihre Stellvertreter sind Westler, aber selbstverständlich kein Gewinn für die Wehrpflichtigen. Die Unkenntnis des Wehrrechtes nutzen die Rekrutierer gnadenlos aus. Nur in ganz wenigen Städten beraten kompetente Spezialisten die Betroffenen.
Leider sind die meisten Menschen mit anderen Dingen beschäftigt, da das Wehrrecht und die neuen Militärs nur ein Problem innerhalb des neuen Gesellschaftssystems sind. Arbeitslosigkeit, Zukunftsangst, Miet- und Preissteigerungen beschäftigen die Menschen augenblicklich mehr als die Kampfeinsätze der Bundeswehr. Vermutlich brauchen die Deutschen erst wieder Tote, bis sie begreifen, daß Militärs keine Sicherheit produzieren, sondern nur mit Sicherheit Tote.