Ein Beitrag zur Lage der Wehrpflicht

Die Bundeswehr in Berlin und in den neuen Bundesländern

von Christian Herz
Hintergrund
Hintergrund

Seit der nichtmilitärischen Vereinigung marschieren wieder deutsche Militärs in Berlin. Noch wagen sie keine öffentliche Parade durch Berlin, sondieren stattdessen das politische Klima bei öffentlichen Konzerten der Bundeswehrbigband, als Wasserreicher beim Berlinmarathon, als "tollkühne Flieger" anläßlich der Internationalen Luftschau oder als Refer­enten vor handverlesenem Publikum. Wie unerwünscht sie wirk­lich sind, erfahren nur Jugendoffiziere, die in Schulen ihr anbefohlenes Militär­wissen präsentieren. Die moderaten "Bürger in Uniform" gerieten dabei so sehr in Argumentationsnöte, wenn ihnen Kriegsdienstverwei­gerer gegenüberstanden, daß beim Schulsenator der Ausschluss der "Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär" (Zusammenschluss von 65 antimilitaristischen Organisationen) erwirkt wurde. Zusätzlich weigern sich die drückebergerischen Militärs zusam­men mit KampagnenvertreterInnen bei anderen Veranstaltungen aufzu­treten und drohen den VeranstalterInnen mit ihrer Absage.

Dennoch gelang es mit zahlreichen Ini­tiativen die Militärs effektiv zu behin­dern. Die Einberufung des ersten wehr­pflichtbetroffenen Jahrganges konnte 18 Monate verhindert werden. Massenhafte Erfassungs-, Musterungs- und Eig­nungsverwendungsprüfungsverweige­rungen, die Ausschöpfung sämtlicher Antragsmöglichkeiten, die Ausnutzung von Formfehlern, Kriegsdienstverweige­rungen, Totalverweigerungen und Ak­tionen vor den Kreiswehrersatzämtern und Kasernen ermöglichten vielen Wehrpflichtigen den Beginn des Studi­ums bzw. einer Berufsausbildung, so daß sie nach Absolvieren des ersten Drittels der Ausbildung zunächst einmal vor dem Zugriff der Militärs geschützt sind.

Neben zahlreichen anderen Aktionen Zivilen Ungehorsams für die Abschaf­fung der Militärs z. B. entschlossen-friedliche Stürmung des ehemaligen Verteidigungsministeriums, phantasie­volle Besetzung von Landungsbooten der Bundeswehr u.a.m. - erlangten wir Wir­kung und Aufmerksamkeit mit Blocka­den von Rekrutenzügen. Jedes Viertel­jahr zwingt die Bundeswehr ca. 50.000 Männer in die Kasernen. Unge­fähr 1.000 Berliner müssten jedes Quar­tal sich militarisieren lassen. Wir rufen deshalb jedesmal zu einem Aktionstag gegen Wehrpflicht, Zwangsdienst und Militär auf. Ziel der Aktionstage ist die Aufklärung der Betroffenen und der Be­völkerung, denn Rekrutierung ist kein normaler Vorgang. Jede Einberufung ist ein Skandal, ist Freiheitsberaubung. Am 1.4.93 steigerten wir die Radikalität un­serer Aktionstage angesichts der zu­nehmenden Einsatzausweitung der Bun­deswehr. Auf dem Alexanderplatz ver­nichteten wir öffentlich mit dem Segen eines Pfarrers Originalerfassungs- und Musterungsbögen sowie Einberufungs­bescheide. Zuerst zerkleinerten wir sie mit einem Reißwolf, um sie anschlie­ßend unter den Augen der Ordnungshü­ter zu verbrennen. Sodann täuschten wir die Bundesgrenzschützer durch Ablen­kungsaktivitäten auf verschiedenen Bahnhöfen, da der Bundesgrenzschutz das Hausrecht auf allen Bahnhöfen Ber­lins hatte und versuchte durch massive Kontrollen unsere Aktion zu vereiteln. Trotzdem gelang es uns wieder eine Lücke zu finden und einen Zug mit vielen Rekruten zu blockieren, obwohl alle Bahnhöfe von mehreren Hundert­schaften abgesichert waren. Während die Bundesgrenzschützer etwa 100 BlockiererInnen abräumten berieten im Zug "mobile Beratungsstellen" die Ein­berufenen. Insgesamt stiegen sechs Leute aus und stellten sofort ihren Kriegsdienstverweigererungsantrag. Die Reisenden klärten wir mit Flugblättern und einem Lautsprecherwagen über das Ziel der Aktion auf. Überwiegend trafen wir auf Verständnis bisweilen sogar Unterstützung. Unmittelbar nach solch spektakulären Aktionen sind unsere Be­ratungsstellen voller. Unangenehme Be­gleiterscheinungen sind die nachfolgen­den Prozesse wegen Nötigung und Hausfriedensbruch sowie die zum Teil rüden bis brutalen Abräummethoden.

Wir sammeln bereits wieder Originale, um ein Kunstobjekt zu modellieren... Unser Verfahren ließen wir nicht paten­tieren und wünschen uns die rasante Verbreitung solcher Aktionen und ste­hen gerne mit Rat und Tat zur Verfü­gung. Noch lieber wäre uns Koopera­tion. Die Militärs müssen spüren, daß sie zwar ein höriges Bundesverfas­sungsgericht besitzen, aber auch wider­spenstige Wehrpflichtige. Trotz dieser Erfolge darf nicht übersehen werden, daß und wie sich der militärische Krebs in die Berliner Gesellschaft hineinfrisst. Jüngstes Beispiel: Die Neue Wache, das "Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus" wird gegenwärtig als Kranzabwurfstelle zur Ehrung aller To­ten für Staatspräsidenten umgebaut. Künftig sollen somit "alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" an der zentralen Gedenkstätte gewürdigt wer­den, wobei eine Vermischung von Op­fern und Tätern vorgenommen wird. Dies ist eine unerträgliche Verhöhnung der Opfer, da vergaste Juden, ermordete "Untermenschen", gelynchte Deserteure und ZwangsarbeiterInnen niemals gleichgesetzt werden dürfen mit den Tätern und Mitläufern des Nazisystems. Hiergegen ist nationaler und internatio­naler Widerstand gefordert.

In den Neuen Bundesländern hingegen kann die Bundeswehr beinahe hem­mungslos wirken und die Ostdeutschen wie Wehrpflichtige zweiter Klasse be­handeln, da bislang geeignete Wider­standstrukturen fehlen. In den Kreis­wehrersatzämtern residiert altes NVA-Personal. Lediglich die Leiter und ihre Stellvertreter sind Westler, aber selbst­verständlich kein Gewinn für die Wehr­pflichtigen. Die Unkenntnis des Wehr­rechtes nutzen die Rekrutierer gnaden­los aus. Nur in ganz wenigen Städten beraten kompetente Spezialisten die Betroffenen.

Leider sind die meisten Menschen mit anderen Dingen beschäftigt, da das Wehrrecht und die neuen Militärs nur ein Problem innerhalb des neuen Gesell­schaftssystems sind. Arbeitslosigkeit, Zukunftsangst, Miet- und Preissteige­rungen beschäftigen die Menschen au­genblicklich mehr als die Kampfein­sätze der Bundeswehr. Vermutlich brau­chen die Deutschen erst wieder Tote, bis sie begreifen, daß Militärs keine Sicher­heit produzieren, sondern nur mit Si­cherheit Tote.

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Christian Herz ist Mitarbeiter der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär und Autor des Buches: Kein Frieden mit der Wehrpflicht.