Die Bundeswehrplanung für Krisenreaktionskräfte

von Otfried Nassauer
Schwerpunkt
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Vor rund anderthalb Jahren, am 15. Dezember 1992, legte Volker Rühe die Eckwerte seines ersten und vorläufig einzigen Bundeswehrplanes vor. Dabei sparte er nicht mit großen Worten: Die Bundeswehr verfüge jetzt über "ein überzeugendes und stimmiges Konzept", das der "funda­mental veränderten Sicherheitslage" Rechnung trage, "deutliche Schwerpunkte für neue Aufgaben" einschließlich der dementsprechen­den Zuordnung finanzieller Ressourcen setze und "in die übergeordne­ten Prioritäten des Einheitsprozesses" passe. Maßstab der neuen Pla­nung seien "die vitalen sicherheitspolitischen Interessen unseres Lan­des" gewesen.

Bereits wenige Wochen zuvor hatte Rü­he die neue Marschrichtung vorgege­ben. Mit den "Verteidigungspolitischen Richtlinien" vom 26.11.1992 demon­strierte er Führungsanspruch: "Erforder­lich ist eine Bundeswehrpla­nung als ganzheitlicher Ansatz und aus einem Guss. Planerischer Schwerpunkt sind da­bei die Krisenreaktionskräfte.

Volker Rühe verfolgt eine rasche Schwerpunktverlagerung gegenüber den Planungen seiner Amtsvorgänger: Hauptlegitimation der Bundeswehr bleibt zwar die Verteidigung, aber die­ser Begriff wird Schritt für Schritt wei­ter definiert. Stand in der Vergangenheit allein die Landesverteidigung im Vor­dergrund, so kam zunächst die Erfüllung erweiterter deutscher Verpflichtungen für die Verteidigung anderer NATO-Mitglieder als "erweiterte Landesvertei­digung" hinzu. Es folgten in Rühe's Worten "neue Aufgaben" aus "unseren Verpflichtungen in der Völkergemein­schaft", einschließlich "der Beteiligung an internationalen Einsätzen der Völ­ker­gemeinschaft, wenn die Vereinten Nati­onen oder die KSZE dazu aufru­fen". Die Sicherung von Stabilität und vitalen In­teressen, und die "Projektion von Stabi­lität nach Osten" (so eine in­teressante Begrifflichkeit im Weißbuch 1994) wer­den nunmehr ebenfalls als Aufgaben deutscher Sicherheitspolitik verstanden.

Krisenreaktion

Konsequenterweise wurden Ende 1992 mit der Bundeswehrplanung erstmals konkrete Verbände für den Einsatz au­ßerhalb der NATO-Zentralregion (out of region) und außerhalb des NATO-Ge­bietes (out of area) festgelegt. Benannt wurde zunächst ein Dispositionsrahmen mit ersten Zuwei­sungen konkreter Auf­gaben an ver­schiedene Verbände, auf den künftig bei "humanitären" und mi­li­tärischen Einsät­zen zurückgegriffen werden soll. Die Bundeswehr folgt da­bei der NATO-Unterscheidung der Re­aktionsstreit­kräfte in Sofortreaktions­kräfte (Immediate Reaction Forces, IRF gleich Allied Mobile Force) und Reak­tionskräfte (rapid reaction forces, RRF).

Mit Rühes Planung werden den Krisen­reaktionstreitkräften alle präsenten Bri­gaden (sowie zusätzliche, teilaktive) der Kampftruppen des Heeres in der einen oder anderen Funktion zugeordnet. Bis zu vierzig Prozent der Luftwaffe und der Marine werden für die Reaktions­kräfte eingeplant.

Als Führungsstruktur wird beim Heer das "Kommando Luftbewegliche Kräf­te"/4.Division (KLK) in Regens­burg aufgebaut, zentraler Fernmelde­verband wird das Fernmelderegiment 900 und die Transporthubschrauber der Bundes­wehr werden im Heeresflieger­regiment 3 in Mendig zusammengefasst.

Unter der Flagge des Vorranges der Kri­senreaktionskräfte segelt auch ein län­gerfristiger Vorstoß: "Dazu gehört auch eine ständige, zentrale teilstreitkraft-übergreifende Planungs- und Führungs­fähigkeit", schreibt Volker Rühe in sei­nen Verteidigunspolitischen Richtlinien über den geplanten Aufbau eines teil­streitkräfte-übergreifenden "Führungs­kommandos Streitkräfte". Fast harmlos klingt des Ministers "Ja" zur Forderung seiner Spitzenmilitärs nach dem schritt­weisen Aufbau eines neuen deutschen Generalstabs, bzw. des Vorläufers für einen solchen.

Dieser Prioritätensetzung zugunsten der Reaktionskräfte und zuungunsten der Hauptverteidigungskräfte folgt auch die Beschaffungs- und Entwicklungspolitik der Bundeswehr: Beim Heer ist "eine Verlagerung des bisherigen Schwerge­wichtes von mechanisierten Kräften zu leichten mobilen Kräften" vorgesehen, die "Schwerpunktvorhaben der Luft­waf­fe und der Marine folgen den glei­chen konzeptionellen Prioritäten", so Rühe schon bei der Vorstellung des Bun­des­wehrplanes 1994. Einschnitte er­folgten dagegen bei jenen Verbänden, die nicht zu den Krisenreaktionskräften gehören.

Krisenreaktion im Bündnis

Anläßlich der Kommandeurstagung in Leipzig 1992 warnte Generalinspekteur Klaus Naumann die Politik vor einem Bedeutungsverlust der Bundeswehr im Bündnis, wenn Deutschland nicht an NATO Operationen außerhalb des traditionellen NATO-Auftrages teilnehme: Da sich die Rolle von westlichen Streitkräften zu­nehmend hin zum Krisenmanagment verschiebe, "gewinnen die Reaktions­kräfte in der Streitkräfteplanung Vor­rang. Die Fähigkeit, dazu beitragen zu können, wird somit bestimmend für den Einfluss in der NATO wie in der WEU sein." Mit anderen Worten: Die um­strit­tene bundesdeutsche Logik gegen­über der Nuklearpolitik der westlichen Part­ner, "Mitmachen, um mitentschei­den zu können", wird nun auf die Frage der Beteiligung an Operationen außerhalb des NATO-Gebietes übertragen. Je stär­ker die Bundeswehr sich an ihnen betei­ligt, desto mehr hat sie zu sagen. Die Bundeswehrplanung trägt die Rechnung indem sie eine Bundeswehr­beteiligung an allen entstehenden Struk­turen der Krisenreaktion vorsieht - in der NATO, in WEU und Eurokorps und durch gesonderte, für UN- und KSZE-Einsätze vorgesehene Einheiten.

In der Tat: Der Golfkrieg und in seiner Folge die Diskussionen über Somalia und Jugoslawien sind auch in der NATO nicht ohne Folgen geblieben. Hatte be­reits die 1991 verabschiedete neue NATO-Strategie das Konzept der Bünd­nisverteidigung als Verteidigung an al­len Bündnisgrenzen ("out of region" und damit nicht mehr schwerpunktmäßig in Zentraleuropa) definiert und den Kri­sen­managementfunktionen der Allianz ei­nen besonders wichtigen Platz zuge­wie­sen, so gewannen in der Folge mit dem Angebot der NATO, UNO und KSZE außerhalb des Bündnisgebietes als mi­li­tärischer Arm zu dienen, auch die Dis­kussionen über Einsätze außer­halb des Bündnisgebietes (out of area) großes Gewicht.

Tabelle 2
Luftwaffenbeteiligung*

Einheiten
bereits festgelegt

Einheiten
noch unbekannt

1. Sofortreaktionskräfte (AMF/Luft)

1 Staffel aus Jagdgeschwader 71 oder 74 (Phantom), 3 Staf­feln Patriot aus Flugabwehrra­ketengeschwader 1 und/oder 3, 2 Staffeln Hawk FlaRakG 1/3, 1 Staffel Roland (FlaRakG 3)

1 Staffel Tornado, Unterstützungskräfte

2. Multinationale Reaktions­kräfte (RRF-Luft)

1 Staf­fel aus JG 71/74 Phan­tom, 3 Staffeln Patriot aus Fla­RakG 1/3

3 Staffeln Tornado, Unterstützungskräfte

3. Nicht zugeordnet

1 Halbstaffel Hö­henaufklärer (nach Aufgabe LAPAS­nicht mehr gesichert), 1 Element B 707 - Tanker

* Für den Einsatz von Reaktionskräften in Zentraleuropa sollen darüberhinaus etwa gleich starke Kräfte bereitgehalten werden.

 

Tabelle 3

Marinebeteiligung*
an NATO-Kräften

SACLANT/
Atlantik

SACEUR /
Mittelmeer-Nordsee

1. Sofortreaktionskräfte

1 Fregatte/Zerstörer
1 Minenabwehren­heit

1 Fregatte/Zerstörer
1 Minenabwehreinheit

2. Reaktionskräfte

3 Fregatten/Zerstörer
3 MPA-Flugzeuge
6 Minenabwehreinheiten
6 U-Boote

1 Fregatte/Zerstörer, 3 MPA-Flugzeuge, 7 Minenabwehrein­heiten, 2 U-Boote, 13 Schnell­boote, 1 Staffel Tornado**, 1 Tanker/Versorger

* Die Unterteilung in Sofortreaktions­kräfte (IRF) und Reaktionskräfte (RRF) scheint im Marinebe­reich aus Fexibili­tätsgründen auch offiziell nicht immer klar durchgehalten zu werden. Insbe­sondere die wechselnde Darstellung der Zuordnung der ständigen NATO-Flotten machen dies deutlich.

** Teilweise ist von 1 Staffel, teilweise von 24 Tornado-Jagdbombern die Rede.

Inzwischen hat die Diskussion ein noch wesentlich grundsätzlicheres Niveau er­reicht. Unter der Fragestellung "Out of Area oder Out of Business" hat der ame­rikanische Senator Lugar die Tragweite (nicht aber die Alternative) richtig um­rissen. Mit dem Allianzkonzept für "Friedensunterstützende Maßnahmen" (Peace Support Operations, MC 327) liegt seit nunmehr fast einem Jahr ein Entwurf für solche NATO-Einsätze vor. Doch erneut hat sich die Fragestellung unter dem Eindruck aktueller Entwick­lungen weiterentwickelt: Scharfe Kritik an der politischen und militärischen Ef­fektivität der UNO und der KSZE bei­spielsweise in Jugoslawien übend, hat sich die NATO unter Führung der USA (Präsidentendirektive 25) mittlerweile vorgebend, UN- und KSZE stärken und unterstützen zu wollen, auf neues Ter­rain vorgewagt. Nicht länger geht es al­leine um militärische Operationen unter UN- oder KSZE-Mandat. Nunmehr geht es auch um die Frage, ob die NATO au­ßerhalb des NATO-Gebietes auch ohne Mandatierung von UNO oder KSZE operieren sollte. Die Möglichkeit der Berufung auf das Recht der individuel­len und kollektiven Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta wird da­bei ins Spiel gebracht. Ein weit ausge­legter Begriff der Verteidigung (als Ver­teidigung von Interessen und Stabi­lität statt Territorium) oder ein weit ge­faßter Begriff der Kollektivität - ähnlich der sowjetischen Invasion in Afghani­stan könnte der Hilferuf einer ausländi­schen Regierung ausreichend sein - werden als legitime Möglichkeiten dis­kutiert, die Allianz oder eine adhoc-Ko­alition mi­li­tärisch auf den Plan zu rufen.

Interessanterweise sind all diese Mo­del­le auch in der Bundesrepublik fast un­bemerkt seit Jahr und Tag in der De­bat­te: Im neuen Weißbuch und in ande­ren Publikationen des Verteidigungsmi­ni­steriums mit keinem Wort erwähnt, wa­ren sie doch bereits durch den um­stritte­nen Koalitions-Entwurf einer Grundge­setzänderung schon 1992 schon abge­deckt.

Die Krise in der Planung

Die Hardthöhenpläne für künftige Kri­seneinsätze stehen jedoch auf tönernen Füßen. Die in den letzten Jahren prakti­zierte strukturkonservative Reduzie­rungsplanung treibt die Bundeswehr mit Volldampf in die Krise - als Folge eines strategischen Dilemmas: Entweder die Streitkräfte bekommen künftig erheblich mehr Geld (politisch eher unwahr­scheinlich) oder die Bundeswehr ent­schließt sich, beim Personal, beim Mate­rial oder der Infrastruktur weitere sehr tiefe Einschnitte vorzunehmen. Tut sie dies nicht und prolongiert ihre Politik der eher linearen Kürzungen, so werden die Krisenreaktionskräfte künftig kaum in der geplanten Größenordnung ein­setzbar sein und die Hauptverteidi­gungskräfte werden zum militaristischen Denkmal: Außen bombastisch - aber in­nen hohl.

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Otfried Nassauer (1956-2020) war freier Journalist und leitete das Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de)