Abwehr im Namen der Humanität

Die dramatischen Folgen einer europäischen Politik der Fluchtverhinderung

von Judith Kopp

„Das Paradoxe ist: je unmenschlicher die Politik wird, desto mehr ist von Humanität die Rede.“ (Navid Kermani, Kulturzeit, 12. März 2013)

Immer neue Bilder von Schiffskatastrophen, Rettungsaktionen und toten Bootsflüchtlingen erreichen uns in diesem Sommer. Kaum eine Woche vergeht ohne neue Meldungen von Vermissten nach dem Kentern eines überfrachteten Flüchtlingsschiffs auf dem Mittelmeer oder in der Ägäis. Familienangehörige halten den Atem an, AnwältInnen sind im Dauereinsatz, und Menschenrechtsorganisationen dokumentieren immer neue Brüche fundamentaler Flüchtlingsrechte an Europas Außengrenzen – 2014 starben hier bereits über 800 Menschen.

Zugang nach Europa gibt es für Flüchtlinge meist nur unter Lebensgefahr. Wer es schließlich doch auf europäisches Territorium schafft, erkennt: Schutz im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu suchen, bedeutet immer wieder Inhaftierung, Abschiebung oder ein Leben in Obdachlosigkeit. Ein Europa, das schützt, und damit eine grundlegende Neuausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik, sind dringend notwendig. Denn repressive Abwehrpolitik verhindert nicht, dass Menschen fliehen. Sie gefährdet nur noch mehr Menschenleben.

Kurze Betroffenheit
Bald jährt sich die Katastrophe vor Lampedusa, bei der am 3. Oktober letzten Jahres 366 Menschen ums Leben kamen. Die europäische Öffentlichkeit zeigte sich schockiert, als hätte man das Sterben von Flüchtlingen an den Rändern Europas erstmalig realisiert. Ein später Aufschrei: Die Zahl dokumentierter Todesfälle an Europas Außengrenzen seit dem Jahr 2000 beläuft sich mittlerweile auf 23.000. (1) Die Dunkelziffer liegt weit darüber. Lampedusa hatte PolitikerInnen europaweit zu zahlreichen Betroffenheitsbekundungen veranlasst. „So eine Katastrophe“ wie vor Lampedusa dürfe es „nicht wieder geben“, so mahnte der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Er werde „den Anblick dieser Särge niemals vergessen“. (2) Doch Erklärungen wie diese sind schnell verhallt.

Bereits jene Katastrophe, die sich keine 10 Tage nach dem Bootsunglück vor Lampedusa am 11. Oktober 2013 ereignete, wurde kaum mehr beachtet. Erst Recherchen des Monitoring-Projektes „Watch the Med“ und des italienischen Journalisten Fabrizio Gatti brachten die dramatischen Geschehnisse ans Licht: Über 200 Flüchtlinge aus Syrien ertranken, darunter zahlreiche Kinder. Sechs Stunden lang hatten sich Italien und Malta die Zuständigkeit für die Rettung der sich in Seenot Befindenden gegenseitig zugeschoben. Viel zu spät erreichten Rettungskräfte den Unglücksort.

Aber auch die politischen Entwicklungen auf europäischer Ebene in Reaktion auf Lampedusa und neue Initiativen zur Grenzaufrüstung zeigen, dass die Verhinderung von Todesfällen nicht die Maxime europäischer Flüchtlingspolitik darstellt.

Fatale Gleichung: Kontrolle rettet keine Menschenleben
In den Tagen und Wochen nach dem 3. Oktober 2013 drangen die widersprüchlichsten Aussagen und zynischsten Lösungsansätze gegen das Sterben an Europas Südgrenzen in die mediale Öffentlichkeit. Auf EU-Ebene wurde bereits wenige Tage nach der Katastrophe beim Treffen der InnenministerInnen das altbekannte Arsenal repressiver Maßnahmen als wirksames Mittel gegen weitere Todesfälle im Mittelmeer angepriesen. Mit scheinheiligen Forderungen nach mehr Entwicklungshilfe zur Bekämpfung von Fluchtursachen wurde suggeriert, dass damit in teilweise zerfallenen Staaten wie Somalia, Eritrea oder dem vom Bürgerkrieg erschütterten Syrien tatsächlich Fluchtbewegungen verhindert werden könnten. Es gelte, den Kampf gegen Schlepper zu intensivieren, so betonte unter anderem EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Die Kooperation mit Transitstaaten wie Libyen oder Tunesien im Bereich Grenzmanagement müsse intensiviert werden: Wenn Flüchtlinge bereits vor Verlassen der afrikanischen Staaten an der Weiterflucht gehindert werden, können skandalträchtige Bilder und Meldungen über ertrinkende Flüchtlinge aus der Reichweite europäischer Öffentlichkeit und scheinbar aus europäischer Verantwortung verbannt werden.

Auch die vorangetriebene Umsetzung des Grenzüberwachungssystems Eurosur trug Früchte: Am 2. Dezember 2013 nahm das System in 18 Mitgliedstaaten den Betrieb auf. Die Beteiligung der südlichen Mittelmeeranrainerstaaten Tunesien und Libyen ist vorgesehen. Modernste Satellitentechnologie und Drohnen sollen zum Einsatz kommen. Zwar wurde auch im Abstimmungsprozess über die Richtlinie zur Umsetzung von Eurosur immer wieder argumentiert, das System würde auch die Seenotrettung verbessern und sei keineswegs nur zur lückenloseren Überwachung nutzbar. Doch Rosemaria Preteroti, die von Seiten der italienischen Staatspolizei für die Implementierung von Eurosur in Italien verantwortlich ist, lässt wenig Zweifel am tatsächlichen Auftrag, den das Überwachungssystem zu erfüllen hat: „Die Aufgabe von Eurosur ist die Prävention und die Abwehr von illegalen Einwanderern und die Bekämpfung von internationaler Kriminalität. Wir retten auch Menschen in Seenot gemäß den internationalen Regeln, aber das ist eindeutig nicht die primäre Aufgabe von Eurosur“. (3)

Die Gleichung „mehr Kontrolle rettet mehr Menschenleben“ ist fatal. Denn mehr Überwachung und Abwehr führt zu riskanteren Fluchtwegen und zu mehr Toten. Es ist die europäische Politik der Flucht- und Migrationsverhinderung, die Schutzsuchende erst in die Hände oft skrupellos agierender Schlepper zwingt. Dass es Europa gerade auch im zentralen Mittelmeer nicht tatsächlich um Seenotrettung geht, zeigt die aktuelle Diskussion um eine Europäisierung der italienischen Operation „Mare Nostrum“, mit der bis Mitte des Jahres bereits über 80.000 Bootsflüchtlinge gerettet werden konnten. Die Bereitschaft, die Operation in eine europäische umzuwandeln, geht gegen Null – Italien denkt aufgrund der hohen Kosten über die Einstellung von Mare Nostrum nach. 

Push Backs, Mauern und Zäune
Auch an anderen Grenzabschnitten setzen die EU und die europäischen Mitgliedstaaten alles daran, den Zugang für Schutzsuchende weiter zu blockieren. Verantwortlich für die Brutalisierung an den Außengrenzen sind jedoch nicht nur einzelne skrupellos agierende Staaten. Exzessive Gewalt wird gerade durch das in der europäischen Dublin-Verordnung festgelegte Verursacherprinzip befördert: Derjenige Staat ist für das Asylverfahren eines Schutzsuchenden zuständig, über den zum ersten Mal europäisches Territorium betreten wurde. Dass infolgedessen die an den Rändern Europas gelegenen Länder ihre Grenzen umso rücksichtsloser kontrollieren, liegt in der Logik der europäischen Zuständigkeitsregelung.

Dabei kommt es zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen. So dokumentierten unter anderem PRO ASYL (4) und Amnesty International (5) völkerrechtswidrige Zurückweisungen – sogenannte Push Backs – an der griechisch-türkischen Land- und Seegrenze. Am 20. Januar 2014 starben vor der griechischen Insel Farmakonisi 11 Menschen, vermutlich während die griechische Küstenwache versuchte, das Boot in türkische Gewässer abzudrängen.

Infolge der seit Jahren verstärkten Grenzkontrollen an der griechisch-türkischen Grenze verlagerten sich 2013 die Fluchtrouten in Richtung Bulgarien: Über 7.300 hauptsächlich syrische Flüchtlinge stellten im vergangenen Jahr einen Asylantrag in Bulgarien (2012 waren es noch rund 1.300 gewesen). (6) Die Anzahl an Grenzübertritten von der Türkei aus stieg auf 11.000 an. Die Folge: Auch Bulgarien rüstete seine Grenzkontrollen seit November 2013 auf: 1.500 Grenzbeamte wurden zur Verstärkung an die Grenze geschickt, und man begann mit dem Bau eines 30-Kilometer-langen Zauns. Auch an diesem Grenzabschnitt kam es zu völkerrechtswidrigen, äußerst gewaltsamen Zurückweisungen. (7)

Ein weiterer Brennpunkt sind die spanischen Enklaven auf marokkanischem Boden, Ceuta und Melilla. Seit letztem Jahr überwanden zeitweise in wöchentlichem Rhythmus Schutzsuchende und MigrantInnen die Grenzzaunanlagen mit rasiermesserscharfer Stacheldrahtverkleidung. Am 6. Februar 2014 starben mindestens 15 Schutzsuchende bei dem Versuch, schwimmend nach Ceuta zu gelangen – verantwortlich dafür war ein brutaler Einsatz der Guardia Civil unter Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen. Regelmäßig kommt es auch hier zu illegalen Zurückweisungen nach Marokko.

Wege öffnen!
„Warum kamen Sie illegal mit dem Boot und nicht auf einem legalen Weg nach Europa?“

„Weil Europa zu uns sagt: Wenn ihr illegal Europa erreicht habt, müssen wir euch schützen. Wenn ihr aber den legalen Weg wählt, lassen wir euch nicht hinein. Ich verstehe das nicht und werde das niemals verstehen. (8)

Aus der Ratlosigkeit von Mohammed Jammo spricht die Verzweiflung über eine Flüchtlingspolitik, die Schutzsuchenden keine Wahl lässt, als sich in Lebensgefahr zu bringen. Der syrische Arzt Dr. Jammo verlor zwei Söhne bei der Bootskatastrophe vom 11. Oktober 2013. Solange in Europa auf Abwehr und Repression anstatt auf die Schaffung legaler und gefahrenfreier Wege gesetzt wird, bleibt nur Fassungslosigkeit. Sie wird umso quälender, je mehr Menschenleben und Leid diese Politik fordert. Auch wenn die Diskurse in Brüssel und den Mitgliedstaaten menschenrechtlich versierter flankiert und der EU-Jargon mit humanitärem Vokabular unterlegt wird, müssen die tatsächlichen operativen Praktiken in den Blick genommen werden. Sie verweisen auf ein Grenzregime, das Migration und Flucht nach wie vor in erster Linie verhindern und nur äußerst selektiv nach Nützlichkeitserwägungen zulassen will. Abwehr im Namen der Humanität wird hier zur Abwehr der Humanität selber. Was Flüchtlingsinitiativen und Menschenrechtsorganisationen lautstark fordern, muss endlich eine Kehrtwende in der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik bewirken: Öffnet gefahrenfreie Wege nach Europa!

 

Anmerkungen
1 The Migrant Files: https://www.detective.io/detective/the-migrants-files/

2 José Manuel Barroso, FAZ Online, 9.10.2013

3 In: Michael Richter, 20. Mai 2014, ZDF-Dokumentation „Riskante Reise“

4 PRO ASYL 2013: Pushed Back. Systematic human rights violations against refugees in the Aegean sea and the Greek-Turkish land border.

5 Amnesty International 2014: Greece: Frontier of hope and fear: Migrants and refugees pushed back at Europe’s border.

6 EASO 2014: EASO Operating Plan to Bulgaria. Stock taking report on the asylum situation in Bulgaria

7 Human Rights Watch 2014: Containment Plan. Bulgaria´s Pushbacks and Detention of Syrian and Other Asylum Seekers and Migrants

8 Übersetzt aus einem Interview des italienischen Journalisten Fabricio Gatti mit Dr. Mohammed Jammo im November 2013

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