Die EKD und die sogenannten "humanitären Interventionen"

von Eberhard Martin Pausch
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Am 23. März 1999 begann die NATO einen Luftangriff auf Serbien, um den dort regierenden Slobodan Milosevic zu zwingen, Mord und Vertreibung im Kosovo zu beenden. 78 Tage lang wurde von da an Jugoslawien bombardiert. Zurück blieb ein zerstörtes Land. Niedergebrannte Dörfer im Kosovo, zerstörte Schulen, Krankenhäuser, Fabriken, kaputte Straßen und Brücken, vor allem aber Tod und Vertreibung sind die Folgen dieses Krieges. Nicht nur serbische Soldaten, sondern auch viele Zivilisten, alte Männer, Frauen und Kinder wurden unschuldige Opfer militärischer Gewalt. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg nahmen Soldaten der Bundeswehr an einem Angriffskrieg teil. Gerechtfertigt wurde dieses Vorgehen in der Öffentlichkeit mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit von "humanitären Interventionen".

Wir müssen daher im Raum der EKD über die Frage der sogenannten "humanitären Interventionen" neu nachdenken. Dies geschieht bereits auf verschiedenen institutionellen Ebenen und in unterschiedlichen Gremien. Die Synode von Leipzig gab im November 1999 für dieses Nachdenken einen wichtigen Impuls, indem sie die Erarbeitung einer neuen Friedens-Denkschrift forderte. Der Rat der EKD nahm den Wunsch der Synode insofern auf, als er die Kammer für Öffentliche Verantwortung, also das traditionellerweise im Raume der EKD für die Fragen der Friedensethik zuständige Beratungsgremium, mit einer schriftlichen Ausarbeitung zu verschiedenen friedensethischen und friedenspolitischen Fragen beauftragte. Die Kammer nahm im Oktober 2000 ihre Arbeit am Thema auf. Die Frage der humanitären Interventionen nahm dabei im internen Gespräch, aber auch in der Auseinandersetzung mit externen Referenten, eine zentrale Rolle ein. Die Kammer wird dem Rat voraussichtlich im Sommer, spätestens aber im Herbst 2001 einen Text zur Beratung vorlegen. Sollte der Rat den Text der Kammer im Grundsatz annehmen, kann er einer breiteren binnenkirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt werden. So ist das traditionell geregelte Verfahren, das ich nur deshalb so ausführlich erläutere, um deutlich zu machen, dass die Meinungsbildung zum Thema der Interventionen noch nicht abgeschlossen ist.
Wenn ich mich als Geschäftsführer der Kammer für Öffentliche Verantwortung daher hier zum Thema der sogenannten "humanitären Interventionen" zu Wort melde, kann und darf daraus weder auf die Position der Kammer noch auf die letztlich verbindliche Position des Rates der EKD geschlossen werden. Was ich hier in einigen knappen Thesen vorstellen möchte, ist meine eigene, vorläufige und unabgeschlossene Urteilsbildung zu diesen Fragen. Ich vertrete dabei eine innerhalb des breiten Spektrums der EKD mögliche Auffassung, aber ich äußere sie nicht als die gültige Meinung "der" EKD.

1. Im Raum der EKD wird zurzeit ein kontroverser friedensethischer Diskurs geführt. Dabei werden drei friedensethische Grundmuster vertreten: der Pazifismus sowie die Lehren vom gerechten Krieg und vom gerechten Frieden. Letztere stellt eine Art von Kompromiss zwischen den beiden anderen Konzepten dar. Gegenüber der Auffassung vom gerechten Krieg hat die Lehre vom gerechten Frieden den Vorzug, bereits in ihrer Überschrift das eigentliche Ziel christlicher Friedensethik beim Namen zu nennen, nämlich die Wahrung, Förderung und Erneuerung des Friedens. Gegenüber dem Pazifismus hat die Lehre vom gerechten Frieden den Vorteil einer realitätsnahen, die Natur der Menschen in Rechnung stellenden Flexibilität. Die Anwendung militärischer Gewalt kommt nur als "ultima ratio", also als ein äußerstes, sachlich letztmögliches Mittel in Betracht. Nur in diesem Sinne sind die sogenannten "humanitären Interventionen", wenn überhaupt, friedensethisch zu rechtfertigen.

2. Der Begriff "humanitäre Intervention" stammt aus den politischen Debatten der kolonialistischen Staatenwelt des 19. Jahrhunderts. Er meinte schon damals die Rechtfertigung kriegerischer Gewalttaten mit dem Hinweis auf die guten Absichten der Aggressoren. Der Begriff selbst hat daher ideologischen Charakter. Den Unterschied zwischen guten Absichten und guten Taten sollte jede und jeder kennen: Was gut gemeint ist, ist noch lange nicht gut. Auch ist die Praxis der sogenannten "humanitären Interventionen" alles andere als humanitär. Sie besteht schließlich aus dem gängigen Material aller Kriege: aus Drohungen, Mord und Totschlag. Der Begriff sollte daher meiner Meinung nach aus dem Sprachgebrauch der Christenheit verabschiedet werden. Im römisch-katholischen Bischofswort "Gerechter Friede" ist sehr zu Recht meist von bewaffneten oder militärischen Interventionen die Rede. Das trifft genau den Punkt.

3. Ob eine bewaffnete Intervention im Sinne einer "ultima ratio" notwendig oder unvermeidlich ist, muss nach klaren Kriterien streng geprüft werden. Zu diesen Kriterien gehören die folgenden Fragehinsichten:
 

Wer ist der Auftraggeber bzw. Initiator der Aktion, die UNO, die NATO, regionale Sicherheitssysteme, eine Gruppe von Staaten?

Welche Gründe für die geplante Aktion liegen vor - sind diese klar, zwingend und triftig, d.h. liegen schwerste Menschenrechtsverletzungen vor oder sind diese absehbar?

Welche Motive und Absichten stehen hinter der geplanten Aktion?

Stehen die anzuwendenden oder angewandten Mittel in einem ausgewogenen Verhältnis zu den zu erreichenden Zielen?

Ist die bewaffnete Intervention unvermeidlich, d.h. sind alle Möglichkeiten der Prävention, der Diplomatie und der zivilen Konfliktbearbeitung ausgeschöpft worden?

Sind die Umstände so geartet, dass sich Erfolgsaussichten nüchtern abschätzen lassen?

Wird von Anfang an deutlich genug bedacht, wie eine solche Intervention beendet werden kann?

Diese Fragen dürfen aber nicht als eine mechanisch abarbeitbare Checkliste verstanden werden. Es handelt sich vielmehr bei ihnen um ein methodisches Instrumentarium, eine Art offener "Prüfaufträge".

4. Ich füge persönlich noch ein Kriterium hinzu, das der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal aufgestellt hat: Überall dort, wo im letzten Weltkrieg Menschen unter deutscher Besatzung ermordet worden sind, sollte auf absehbare Zeit ein Einsatz deutscher Soldaten im Sinne einer bewaffneten Intervention nicht in Betracht kommen.

5. "Der Ausgangspunkt für alles, was die Kirche tun kann, um für den Frieden zu bilden, ist das Gebet für den Frieden und die lebendige Verkündigung des Evangeliums ... Jeder Gottesdienst kann und soll zum Frieden bilden." (Frieden wahren, fördern und erneuern, Gütersloh 1981, S. 66) Zu dieser gemeinsamen Grundlage sollten die verschiedenen Lager, Gruppen und Parteiungen im Raum der EKD in ihrer kontroversen Debatte immer wieder zurückfinden. Denn Bildungsarbeit tut Not, und zwar in dem umfassenden Sinne, von dem Martin Luther (1483 - 1546) sagt: "Darum soll das billig aller Christen einziges Werk und einzige Übung sei, dass sie das Wort und Christus wohl in sich bilden, um solchen Glauben stetig zu üben und zu stärken. Denn kein anderes Werk kann einen Christen machen."

Der Reformator selbst hätte übrigens den Kosovo-Krieg abgelehnt. Er hielt nämlich grundsätzlich nur Verteidigungskriege für legitim. Zumindest von seiner Theologie her lässt sich daher kein Argument zugunsten bewaffneter Interventionen entwickeln.

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Dr. theol. Eberhard Martin Pausch ist Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Geschäftsführer ihrer Kammer für Öffentliche Verantwortung.