Die Europäische Union macht dicht

von Karl Kopp

Im Windschatten des so genannten Krieges gegen den Terror findet ein dramatischer Umbau des internationalen Flüchtlings- und Menschenrechtssystems statt. Errungenschaften, die nichts anderes als die Antworten auf die Barbarei waren und sind, drohen entsorgt zu werden. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen das Asylrecht und das absolute Verbot, jemanden der Folter oder unmenschlicher Behandlung auszusetzen. Diese Entwicklung spiegelt sich in den aktuellen Verhandlungen zu einem europäischen Asylsystem und in der Asylpraxis der Mitgliedstaaten zunehmend wider. Statt ein europäisches Asylrecht zu kreieren, findet zunehmend eine kollektive Verantwortungsverlagerung für die Flüchtlingsaufnahme in Nicht-EU-Staaten und Herkunftsregionen statt.

Prinzipien des Flüchtlingsrechts vor dem Aus
UN-Flüchtlingshochkommissar Ruud Lubbers warnte in einer Rede vor den Innenministern der EU am 22. Januar 2004 vor einem Zusammenbruch des Asylsystems in den zehn Beitrittsstaaten. Wenn Tausende zusätzlicher Asylsuchender von den alten EU-Staaten auf Grund technokratischer EU-Zuständigkeitsregelungen in die neuen zurückgeschickt würden, überfordere dies die kaum vorhandenen Asylsysteme in den Beitrittsstaaten.

Lubbers kritisierte außerdem den damaligen Entwurf der EU-Asylverfahrensrichtlinie. Er enthalte weitgehende Möglichkeiten, Asylsuchende vom Verfahren ohne rechtliche Überprüfung auszuschließen - konkret in über 20 Kategorien von Fällen. Einen Abwärtstrend zu einem immer restriktiveren Asylrecht stellt Lubbers ebenso fest wie die Tatsache, dass Flüchtlinge es immer schwerer haben, überhaupt Schutz in Europa zu finden. Bereits im November 2003 qualifizierte UNHCR den EU-Asylverfahrensentwurf als einen Ansatz, der "sich in wesentlichen Punkten von anerkanntem internationalen Flüchtlings- und Menschenrecht verabschiedet und von Prinzipien, die seit über 50 Jahren etabliert sind."

Drohender flüchtlingspolitischer Gau
Ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen forderte Mitte Februar 2004 die rot-grüne Bundesregierung auf, ihren Versuch aufzugeben, die deutsche Drittstaatenregelung auf die EU-Ebene zu exportieren. Die Verbände sehen die Gefahr, dass elf Jahre nach der Grundgesetzänderung die Übernahme des deutschen Modells einer Drittstaatenregelung durch ein Europa der 25 den flüchtlingspolitischen GAU produzieren würde. Asylsuchende könnten demnach europaweit von Grenzbeamten ohne Einzelfallprüfung in neue "sicheren Drittstaaten" zurückgewiesen werden. Die potenziellen künftigen "sicheren Drittstaaten" hießen dann Russland, Weißrussland, Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Mazedonien und Türkei -Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen noch immer an der Tagesordnung und internationale Flüchtlingsrechtsstandards nicht vorhanden sind. Das wäre das Ende des individuellen Asylrechts in Europa.

Zugang versperrt
Offiziell kamen allein seit Anfang 2002 über 1.000 Menschen an den europäischen Außengrenzen ums Leben. Die tatsächliche Opferzahl liegt wesentlich höher. Flüchtlinge und Migranten sterben in den Minenfelder zwischen Griechenland und der Türkei, ertrinken in der Ägäis, vor den Küsten Italiens, in der Meeresenge von Gibraltar und auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln. Unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands wird nun eine gemeinsame Grenzschutzagentur aufgebaut. Gleichzeitig findet die Flüchtlingsabwehr bereits weit vor den Grenzen der EU statt. Auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 bewilligten die Staats- und Regierungschefs knapp 400 Millionen Euro, um den europäischen Grenzschutz auszubauen und vor allem die Transit- und Herkunftsländer noch stärker in die Flucht- und Migrationskontrolle einzubeziehen. Die rigorose Abriegelung des Kontinents zeigt Wirkung: Die Zahl der Asylgesuche in der EU hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als halbiert. 2003 wurden nur noch 288.000 Asylanträge gestellt - ein Rückgang von über 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Deutschland sanken die Asylzugangszahlen im Jahr 2003 auf 50.000. Das ist der niedrigste Stand seit 1984.

Gemeinsames Asylrecht? - Erwartungen von Menschenrechtsorganisationen
Seit Mai 1999 ringen die Innenminister der EU um gemeinsame Mindeststandards im Asyl- und Einwanderungsrecht. Die EU-Mitgliedstaaten verpflichten sich, bis Mai 2004 in zentralen Feldern des Asylrechts Mindeststandards zu beschließen. Menschenrechtsorganisationen begleiten diesen Prozess intensiv, weil sie in verbindlichen europäischen Regelungen die einzige Chance sehen, dass das Asylrecht künftig nicht mehr zwischen den Einzelinteressen der Mitgliedstaaten zerrieben wird.

Die von der EU-Kommission vorgelegten Baupläne für ein gemeinsames Asylsystem sorgten in Europa zum Teil für Furore, weil Brüssel einen höheren Mindeststandard anstrebte als den kleinsten gemeinsamen Nenner der existierenden Asylpraktiken. Die Umsetzung der Kommissionsvorschläge in der EU hätte zumindest einen partiellen Bruch mit der restriktiven Asylpolitik der 90er Jahre bedeutet. Jedoch unter den gegebenen institutionellen und politischen Bedingungen lässt sich ein asylpolitischer Kurswechsel in der EU nicht bewerkstelligen lassen.

Das Demokratiedefizit - das Asylrecht in der Zange der Nationalstaaten
Mögliche Liberalisierungen scheiterten bereits an den realen Machtverhältnissen. Trotz Überführung der Asyl- und Migrationspolitik in die EU-Kompetenz sind die Entscheidungsprozesse in dem fünfjährigen Übergangszeitraum - also bis Mai 2004 - weiterhin von den Schwächen und dem Demokratiedefizit der bisherigen zwischenstaatlichen Ebene geprägt. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl setzte bei den Verhandlungen über den Amsterdamer Vertrag das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der Innen- und Justizminister und das bloße Anhörungsrecht des Europäischen Parlamentes maßgeblich durch.

Häufig bleiben die Beschlüsse des Parlaments völlig unberücksichtigt. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg spielt bis jetzt noch gar keine Rolle im Asylrecht. Er besitzt erst dann Befugnisse, wenn EU-Richtlinien und -Verordnungen beschlossen sind. Somit bleibt in der ersten Etappe der Harmonisierung die Asylpraxis der EU weiterhin von nationalstaatlichen Partikularinteressen geprägt.

Im Vertrag von Nizza, der am 1. Februar 2003 in Kraft trat, verhinderte die rot-grüne Bundesregierung erneut den automatischen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen und zu realen Mitentscheidungsrechten des Europaparlaments im Politikfeld Justiz und Inneres. Alle asylrechtlichen Maßnahmen werden nach diesen Verfahren erst gefasst, wenn vorher gemeinsame Regeln einstimmig angenommen werden. Im Klartext heißt das: Das Europäische Parlament kommt erst in der nächsten Etappe der Asylrechtsharmonisierung als Mit-Gesetzgeber zum Zuge.

Wettlauf der Schäbigkeiten geht weiter
Während über gemeinsame Standards gestritten wird, schaffen die Nationalstaaten bereits neue Fakten. In nahezu allen Mitgliedstaaten fanden und finden grundlegende Veränderungen des Asylrechts statt. Der Grundtenor: schnellere Asylverfahren, mehr Lager, längere Abschiebungshaft, effizientere Abschiebungspraktiken, teilweiser oder völliger Ausschluss von Sozialleistungen. Mit den neuen Gesetzen unterm Arm kehren die Innenminister an den Brüsseler Verhandlungstisch zurück und verwässern den jeweils aktuellen Richtlinienentwurf weiter. Man inspiriert sich wechselseitig bei den Gesetzesverschärfungen und einigt sich auf EU-Ebene schnell und verbindlich auf Maßnahmen, die den Fluchtweg nach Europa versperren.

Deutsche Exportartikel
Die Bundesregierung blockierte monatelang - gegen alle anderen EU-Mitgliedstaaten - die Verabschiedung der Richtlinie zum Flüchtlingsbegriff mit dem Hinweis: Erst das deutsche Zuwanderungsgesetz - Europa muss warten. Damit am 30. März 2004 doch noch eine politische Einigung erzielt werden konnte, erfuhr die Richtlinie weitere Verwässerungen, um die zahlreichen deutschen Vorbehalte auszuräumen.

An einem zentralen Punkt musste sogar Deutschland Zugeständnisse machen: Opfer nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung fallen in den Schutzbereich der Genfer Flüchtlingskonvention. So sieht es die Richtlinie vor. Durch eine korrekte Umsetzung in nationales Recht könnte künftig eine zentrale Schutzlücke in Deutschland endlich geschlossen werden. Deutschland sorgte dafür, dass die Rechte von Flüchtlingen, denen menschenrechtlicher bzw. ergänzender Schutz gewährt wird, massiv herabgestuft wurden. Aus verbindlichen Mindeststandards wurden Kann-Bestimmungen. Es ist möglich, dieser Flüchtlingsgruppe nur soziale und medizinische "Kernleistungen" zu gewähren und den Zugang zum Arbeitsmarkt einzuschränken. Integrationsleistungen werden nur noch angeboten, wenn es die Nationalstaaten als "sinnvoll" erachten. Darüber hinaus können den Familienmitgliedern von diesen Flüchtlingen ein geringerer Status und weniger soziale Rechte zugestanden werden.

Die anvisierten hohen europäischen Schutzstandards für Flüchtlingskinder erfuhren in der Aufnahmerichtlinie einschneidende Einschränkungen. Unbegleitete Minderjährige können bereits ab 16 Jahren in Lagern mit erwachsenen Asylsuchenden untergebracht werden. Im Entwurf der Asylverfahrensrichtlinie schraubte Deutschland den europäischen Standard bei der so genannten Verfahrensmündigkeit von 18 auf 16 Jahren herunter. Die kinderfeindliche deutsche Praxis entwickelt sich vermutlich via EU-Richtlinien zum Exportschlager in die anderen 24 EU-Staaten. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Rettungsanker EU-Verfassung?
Die EU-skeptische Haltung in der Asyl- und Einwanderungspolitik prägt auch den bundesdeutschen Beitrag zu der künftigen Verfassung Europas. "Fragen der Einwanderungspolitik gehören zu den besonders sensiblen Bereichen der Innenpolitik", schrieb Außenminister Fischer im Sommer 2003 in seinen Erläuterungen zu seinem Änderungsvorschlag bezüglich der künftigen Einwanderungspolitik der EU. Er forderte im Chor mit Stoiber, Schröder und Schily, das Prinzip der Einstimmigkeit in der Einwanderungspolitik auch in der Europäischen Verfassung fortzuschreiben. Der Zugang zum Arbeitsmarkt bleibt nach dieser Intervention in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Damit hat die deutsche Verhandlungsführung erreicht, dass sich über Jahre hinweg keine gemeinsame Einwanderungspolitik der EU entwickeln wird.

Charta der Grundrecht wird rechtsverbindlich
Mit der Einbeziehung in die Verfassung würde die Charta der Grundrechte rechtverbindlich. In Artikel 18 der Charta bekennt sich die EU zum Asylrecht: "Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie gemäß der Verfassung gewährleistet."

Das klingt vielsprechend - gerade in Zeiten, in denen maßgebliche Politiker in der EU immer wieder die Genfer Flüchtlingskonvention als überholt titulieren und völlig zur Disposition stellen.

Das Kleingedruckte
Jedoch die Beschlüsse des Europäischen Rates und vor allem ihr ideologischer und repressiver Zungenschlag spiegeln sich in Verfassungspassagen wider, die das Asylversprechen des Artikel 18 relativieren bzw. zurücknehmen:

Als Teil der gemeinsamen europäischen "Asylregelung" gilt in Teil 3 (Kapitel IV Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Artikel III- 167) auch die "Partnerschaft und Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Steuerung der Zuwanderungsströme von Personen, die Asyl oder subsidiären bzw. vorübergehenden Schutz beantragen". Dieser "Verfassungsartikel" könnte die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in Transit- und Herkunftsländer zum Programm machen.

Neue Begrifflichkeiten - neue Politikfelder
In der künftigen Verfassung soll der Begriff "Verordnung" durch "Europäisches Gesetz" und der Begriff "Richtlinie" durch "Europäisches Rahmengesetz" ersetzt werden. Wichtigstes neues Politikfeld ist die Schaffung eines europäischen Grenzschutzes. Es sollen auf europäischer Ebene alle Maßnahmen getroffen werden, "die für die schrittweise Einführung eines integrierten Grenzschutzsystems erforderlich sind".

Gemeinsame Standards statt Mindeststandards
Im Verfassungsentwurf ist nunmehr von einem einheitlichen Schutzstatus für Flüchtlinge und für gemeinsame Asylverfahren die Rede. Das klingt auf den ersten Blick besser als so genannte Mindeststandards. Aber ohne einen Bestandsschutz für bessere asylrechtliche Standards droht damit eine erzwungene Absenkung des Schutzniveaus in liberalen Mitgliedstaaten.

Einwanderungs- und Integrationspolitik in der Kompetenz der Nationalstaaten
Die Einreise zum Zwecke der selbstständigen und unselbstständigen Arbeitsaufnahme in die EU bleibt nach einer Intervention der Bundesrepublik in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Damit hat die deutsche Verhandlungsführung erreicht, dass sich über Jahre hinweg keine gemeinsame Einwanderungspolitik der EU entwickeln wird. Darüber hinaus bleibt auch die Integrationspolitik weiterhin in der Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten.

Mehr Demokratie im asylrechtlichen Bereich
Im asylrechtlichen Bereich beseitigt der Verfassungsentwurf zentrale Aspekte des Demokratiedefizits: Der Übergang zur qualifizierten Mehrheit im Rat soll vollzogen, das uneingeschränkte Mitentscheidungsrecht des Europaparlaments gewährleistet werden. Im Politikfeld Justiz und Inneres unterliegen künftig zentrale Aspekte der vollen richterlichen Kontrolle des Europäischen Gerichtshofes. Der Rat könnte künftig nicht mehr hinter verschlossenen Türen tagen. Seit den Verhandlungen zum Amsterdamer Vertrag wird dieses demokratischere und transparentere Gesetzgebungsverfahren im Asylrecht auf europäischer Ebene gefordert - nach vielen "verlorenen Jahren" kämen nunmehr demokratische Mindeststandards zur Anwendung. Diese Standards bedeuten keine Garantie für ein liberaleres europäisches Asylrecht. Sie stellen nicht mehr und nicht weniger die Grundvoraussetzung dar, dass Positionen für einen effektiven Flüchtlingsschutz überhaupt noch Gehör in Europa finden.
 

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