Interview

"Die europäische Zivilisation ist kriegsuntauglich geworden"

von Otmar Steinbicker

Mit Prof. Dr. Wilfried Schreiber,  Oberst a. D., ehemaliger Dozent an der Militärpolitischen Hochschule (MPHS) "Wilhelm Pieck" Berlin, sprach Friedensforum-Redakteur Otmar Steinbicker.

O.S.: Im Sommer 1988, also vor 27 Jahren, begegneten wir uns bei einer Tagung in der Ev. Akademie in Loccum, bei der erstmals auch Militärs aus Ost und West gemeinsam und sehr ernsthaft über Auswege aus dem Kalten Krieg berieten. Als Journalist war ich bass erstaunt über die Offenheit, mit der gesprochen wurde und ebenso über die gegenseitige Bereitschaft, einander zuzuhören. Sie waren damals Professor an der Militärpolitischen Hochschule der NVA in Berlin.

W.S.: Ja, auch ich war überrascht, dass wir als bis dahin militärische Gegner uns bei einer Reihe von Einschätzungen sehr nahe kamen. Für uns alle war klar, dass ein Krieg der beiden Militärblöcke in Europa nicht führbar ist – ob mit oder ohne Kernwaffen – und dass vor allem die realen Offensivfähigkeiten der Streitkräfte auf beiden Seiten als Bedrohung wahrgenommen wurden. Wir stimmten auch in der Sorge überein, dass laufende Modernisierungen der Streitkräfte durchaus die Gefahr einer Destabilisierung der Situation beinhalten. Für mich war diese Erfahrung so stark, dass ich auch heute noch freundschaftliche Kontakte zu meinen auffälligsten Kontrahenten dieser Diskussion in Loccum pflege.

O.S.: Ich habe aus den Gesprächen noch in Erinnerung, dass es hieß, heute (1988!) sei nach einem Szenario wie dem Feuersturm nach dem Bombardement Dresdens im Februar 1945 die Stadt nicht mehr wiederaufbaubar, schon allein wegen der Plastikgegenstände in den Haushalten, die es 1945 nicht gab.

W.S.: Ich habe als Kind diesen Feuersturm in Dresden selbst erlebt und begriffen, dass sich so etwas nicht mehr wiederholen darf. Inzwischen hat aber die Verwundbarkeit unserer Gesellschaften weiter zugenommen. Das betrifft vor allem auch die enorme Abhängigkeit von Elektroenergie, die es in diesem Ausmaß 1945 noch nicht gegeben hatte. Bereits 1988 ließ sich die Stromversorgung mit den verfügbaren militärischen Mitteln gegenseitig relativ einfach ausschalten. Ein Krieg in Zentraleuropa zwischen den beiden Blöcken war nicht mehr führbar, weil es keine Sieger mehr gegeben hätte – und zwar sowohl mit als auch ohne Kernwaffen. Diese Aussage war die sicherheitspolitische Grunderkenntnis in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in Ost und West.

O.S.: Halten Sie diese Aussage heute noch aufrecht angesichts der zunehmenden Kriegsgefahr im Zuge des Ukraine-Konflikts?

W.S.: Die Kriegsuntauglichkeit der europäischen Zivilisation für einen großen, raumgreifenden Krieg hat sich seit 1988 noch zugespitzt. Nehmen Sie die seitdem deutlich gestiegene Abhängigkeit von Computertechnologie und dem Internet. Die Risiken sind insgesamt vielfältiger und unberechenbarer geworden. Das betrifft insbesondere die sensible Stabilität unserer Stromnetze: Ohne Elektroenergie kein Licht, kein Wasser, keine digitale Kommunikation, keine stabile gesundheitliche Versorgung, keinen Bahntransport - letztlich der völlige Zusammenbruch der gesamten Zivilisation in allen von einem solchen Krieg betroffenen Ländern. Kriege werden gerade für die reichen Länder zu teuer. Kriegskosten und Kriegsfolgekosten nehmen heute Dimensionen an, die das Verhältnis zu den Kriegsgewinnen der traditionellen Kriege des 19. Jahrhunderts weit übertreffen.

O.S.: Dennoch wird die militärische Konfrontation zwischen der NATO und Russland gesteigert. Widerlegt das nicht Ihre These?

W.S.: Im Gegenteil, die Krise in der und um die Ukraine mit der Sezession der Krim im Frühjahr 2014 belegt meine These. Weder die NATO noch die EU waren bereit, auf die völkerrechtlich zumindest fragwürdige Angliederung der Krim durch Russland mit dem realen Einsatz von militärischer Gewalt und ernsthaften wirtschaftlichen Sanktionen zu reagieren. Und auch Russland war bestrebt, die Situation militärisch nicht eskalieren zu lassen. Auch die Bemühungen durch die Abkommen von Minsk, den Konflikt einzudämmen und zu lösen, liegen auf dieser Linie.

O.S.: Schließen Sie einen Krieg zwischen Russland und der NATO um die Ukraine definitiv aus?

W.S.: Ich verfüge über keine Glaskugel, aber ich sehe auf beiden Seiten trotz allem Säbelrasseln nicht die Bereitschaft, es zu einem großen Krieg kommen zu lassen. Militärische Macht beinhaltet aber immer auch ein gefährliches Eskalationspotenzial.

O.S.: Es häufen sich Berichte über gegenseitige militärische Provokationen. Die NATO beschwert sich, dass russische Bomber auf die britischen Inseln zufliegen und das mit ausgeschaltetem Transponder, der der Flugsicherung bei der Identifizierung helfen würde. Zugleich wird von den USA zugegeben, dass sie das gleiche Spiel treiben. Wie gefährlich sind solche Provokationen? Kann eine Fehlinterpretation der jeweils anderen Seite womöglich einen Krieg auslösen?

W.S.: Diese Gefahr besteht durchaus. Auch Ende der 80er Jahre waren beide Seiten besorgt, dass es zu einer ungewollten Kriegsauslösung bzw. einer nicht mehr beherrschbaren Eskalation kommen könne. Wir hatten damals aber einen funktionsfähigen Mechanismus, der die Folgen eines Irrtums minimieren konnte, wie z.B. Rote Telefone, Manöverbeobachter, Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM). Inzwischen haben sich die militärischen Fähigkeiten in eine Richtung entwickelt, die weitgehend ein automatisiertes Handeln in Echtzeit ermöglicht und die Spielräume für bewusste politische Entscheidungen verringert. Präventives Handeln muss also viel früher einsetzen und eine militärische Eskalationsgefahr von vornherein ausschließen. Das heißt, das beidseitige Säbelrasseln von Russland und der NATO muss sofort beendet werden.

O.S.: Zwischen dem Agieren der USA und der europäischen NATO-Staaten gibt es erkennbare Unterschiede.

W.S.: Die USA befinden sich im globalen Maßstab in einer Konkurrenzsituation gegenüber Russland, in gewissem Maß aber auch gegenüber der EU. Aus dieser Perspektive wäre eine gegenseitige Schwächung Russlands und der EU durchaus im US-Interesse. Aus EU-Sicht kommt man da zu anderen Schlüssen. Als Schlüsselproblem der deutschen Außenpolitik dürfte sich das Verhältnis der Bundesregierung zu den USA und zur NATO erweisen. Die Krise in der und um die Ukraine macht deutlich, dass sich die deutsche Interessenlage in Bezug auf Osteuropa gravierend von der US-amerikanischen unterscheidet. Das geopolitische Interesse der USA besteht in der Schwächung Russlands – insbesondere unter dem Aspekt seiner Rolle als Hinterland für den neuen Rivalen China. Deutschland und die EU aber brauchen Russland als Partner für Frieden und Stabilität auf dem Kontinent. Offen ist dabei die Frage, ob Deutschland weiter in Nibelungentreue dem amerikanischen Hegemon verbunden bleibt oder seine eigenen Interessen durchsetzen kann. Das aber würde bedeuten, dass die NATO als Instrument der USA an Bedeutung verlieren und die Eigenständigkeit der Europäischen Union wachsen müsste.

O.S.: In den 1980er Jahren nannten die USA ihre Mittelstreckenraketen „Theater Nuclear Forces“ (TNF), also Waffen für den Kriegsschauplatz, der dann in Europa gelegen hätte. Die Friedensbewegung schaltete damals eine ganzseitige Anzeige in der „New York Times“ unter dem Motto: „Besuchen Sie Europa, solange es noch steht“. Gibt es Anzeichen, dass in den USA wieder die Vorstellung von einem Kriegsschauplatz Europa an Boden gewinnt?

W.S.: Unterhalb der Schwelle eines großen Krieges werden vor allem von den USA militärische Optionen stets offen gehalten. Aber da beteiligen sich auch die europäischen NATO-Staaten. Ich nenne da den NATO-Raketenschild und das Festhalten an der nuklearen Teilhabe an der Kernwaffendoktrin der NATO, die nach wie vor einen Ersteinsatz von Kernwaffen nicht ausschließt. Und auch Deutschland macht mit. Nukleare Abrüstung der noch in Deutschland verbliebenen taktischen Systeme wird nur unter dem Vorbehalt einer Einigung der USA mit Russland unterstützt. Das heißt, der Kernwaffenstandort Büchel in der Eifel bleibt erhalten; die dort lagernden Bomben werden modernisiert, die Ausbildung des deutschen Tornadopersonals läuft weiter. Eigentlich ist es gar nicht verwunderlich, dass auch die Russen ihre Atomwaffen modernisieren.

O.S.: Das schließt ein Interesse der USA an einem großen Krieg aus?

W.S.: Leider nein. Für die USA ist ein auf Europa begrenzter (großer) Krieg nach wie vor durchaus akzeptabel – vor allem wenn er ohne Massenvernichtungswaffen geführt werden würde. Ob sich aber ein solcher Krieg tatsächlich militärtechnisch und geografisch begrenzen ließe, steht auf einem anderen Blatt. Für uns in Europa wäre jeder (große) Krieg – also eine militärische Konfrontation mit Russland – tödlich, zivilisationsgefährdend. Da brauchen wir uns über die Folgen für die USA gar keine Gedanken machen. Daran hat natürlich keine Seite ein reales Interesse, weil sich alle der damit verbundenen Gefahren bewusst sind.

O.S.: Manöver, Truppenverlegungen und Aufstocken militärischer Arsenale sind an der Tagesordnung.

W.S.: Ja, ein bisschen zündeln will man schon. Das bringt zumindest für die Rüstungsindustrie einen erhöhten Rüstungsprofit. Und der Gedanke, die Russen totzurüsten, bleibt für die Amerikaner immer noch sehr verlockend. Dabei wäre ein neuer Rüstungswettlauf für alle Beteiligten volkswirtschaftlich ein Desaster. Allerdings denken in einigen Ländern tatsächlich Militärs und auch Politiker noch immer über die Möglichkeit einer Enthauptung („Decapitation“) des potenziellen Gegners nach – so irrsinnig dieser Gedanke auch sein mag. SDI, Hyperschallwaffen und die Raketenabwehr nährten und nähren solche Hirngespinste.

O.S.: Das klingt jetzt nach einer Neuauflage der in den 1980er Jahre diskutierten Kriegsszenarien.

W.S.: Allerdings hat sich das klassische Kriegsbild in den letzten 25 Jahren deutlich geändert. Ich denke, die Dimensionen und Folgen von militärischer Automatisierung, Cyberwar und hybrider bzw. asymmetrischer Kriegführung sind vor allem in der Friedensbewegung keineswegs bewusst. Kriege werden nicht mehr nur zwischen Staaten geführt. Die Kombattanten sind zunehmend nichtstaatliche Akteure und als Kombattanten nicht immer erkennbar. Die mit all den neuen Erscheinungen verbundenen Unwägbarkeiten enthalten ein großes Gefahrenpotenzial. Denken Sie in diesem Zusammenhang nur mal an die Entscheidung der NATO, Cyberwar-Attacken nach Artikel 5 des NATO-Vertrages als bewaffneten Angriff bewerten zu wollen. Die Schlüsselfrage für die europäische Sicherheit ist und bleibt ein partnerschaftliches Verhältnis mit Russland! Die Russen dürfen nicht als Europäer exkommuniziert werden!

O.S.: Trotz der von Ihnen benannten „Kriegsuntauglichkeit der europäischen Zivilisation“ führte die NATO 1999 auch in Europa Krieg, damals gegen die Bundesrepublik Jugoslawien.

W.S.: Ich bezog die Kriegsuntauglichkeit der europäischen Zivilisation auf einen großen, raumgreifenden Krieg. Jugoslawien war ein ungleicher, schwacher Gegner, der nicht in der Lage war, sich des völkerrechtswidrigen Angriffs der NATO unter deutscher Beteiligung zu erwehren. Die NATO-Staaten waren keiner Gefahr einer Verwundung des eigenen Territoriums ausgesetzt.

O.S.: Das erklärt dann auch, dass in den letzten Jahren die Kriege vornehmlich außerhalb Europas und gegen ungleiche, schwache Gegner geführt wurden?

W.S.: Bei diesen neuen Interventionskriegen, an denen die NATO oder einzelne Mitgliedsstaaten beteiligt waren, handelte es sich stets um asymmetrische und völkerrechtlich äußerst fragwürdige Kriege. Auf der einen Seite kämpften Armeen, ausgerüstet mit der modernsten Militärtechnik aller Zeiten. Auf der anderen Seite kämpften Menschen, die vom westlichen Wohlstand ausgeschlossen sind und bereit sind, für ihre Überzeugung zu sterben. Die Praxis derartiger Kriege zeigt allerdings: Auch technologische Überlegenheit führt nicht zwangsläufig zu einem militärischen Sieg. Mit ihren erfolgsarmen militärischen Interventionen der letzten Jahre sind auch Länder wie die USA und Großbritannien an ihre finanziellen und politisch-moralischen Grenzen gestoßen.

O.S.: Bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2014 signalisierten Außenminister Steinmeier, Verteidigungsministerin von der Leyen und Bundespräsident Gauck in ihren Reden eine deutsche Bereitschaft zu einer stärkeren militärischen Ausrichtung der deutschen Außenpolitik.

W.S.: Das mag man so sehen und das ist oftmals von Befürwortern wie Gegnern von Militäreinsätzen so interpretiert worden, aber der Wortlaut der Reden gibt das nicht her. Alle drei Reden bewegten sich strikt im Rahmen der Koalitionsvereinbarung von Ende 2013, die darauf zielt, dass die Bundesregierung insgesamt außenpolitisch aktiver und deutlicher positioniert auftreten will. Deutschland will außenpolitisch insgesamt aktiver werden und [WS1] dabei eine Führungsrolle in Europa übernehmen. Mehr Verantwortung zu übernehmen, bedeutet aber nicht zwangsläufig mehr Truppen in die Welt zu senden. Es gibt auch andere Wege, Einfluss zu nehmen.

 

O.S.: Auch im Sinne einer zivilen Expansionspolitik?

W.S.: Die USA haben in der Ukraine eine solche Politik seit über 10 Jahren mehr oder weniger offen praktiziert und dafür nach eigenen Angaben rund 5 Milliarden (!) Dollar eingesetzt. Dabei hat sich gezeigt, wie schmal die Grenze zwischen gewaltfreier und militanter Demokratiebewegung ist. Wobei hier kein Zweifel daran gelassen werden soll, dass die Ursachen für die Krise in der und um die Ukraine in erster Linie in den inneren Widersprüchen der Ukraine selbst zu suchen sind.

Dennoch ist aber auch die deutsche Bundesregierung an der Destabilisierung der Situation im Osten nicht ganz schuldlos. Aktive Förderung eines Regime-Change in den Ländern der östlichen Partnerschaft – wie zum Beispiel in der Ukraine – und aktives Konfliktmanagement zur Vermeidung einer militärischen Eskalation sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Die neue deutsche Außenpolitik ist in sich widersprüchlich. Einerseits will sie zweifellos innerhalb Europas einen militärischen Konflikt vermeiden. Andererseits hat sie durch die Unterstützung der von den USA und der EU betriebenen Politik eines Regime-Change an der sensiblen Nahtstelle zwischen der NATO und Russland objektiv eine destabilisierende Wirkung auf das geostrategische Kräfteverhältnis und die bestehende Friedensordnung in Europa.

O.S.: Fähigkeit zur Führung von Kriegen heißt noch nicht, dass diese Kriege auch geführt werden.

W.S.: Ob sie geführt werden, hängt von einer Reihe Faktoren ab, die sowohl innen- als auch außenpolitischer Natur sind und eine bremsende Wirkung auf die militärische Interventionsfreudigkeit mancher Politiker und Journalisten haben mögen. Ich sehe da vor allem die ausgeprägte Antikriegsstimmung in der deutschen Bevölkerung, die zunehmend auch von vielen Bürgern anderer europäischer Länder geteilt wird. Seit Jahren sprechen sich stabil zwischen 60 und 70 Prozent aller Befragten in Deutschland gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr aus. In dieser Dimension ist das eine neue Qualität der Ablehnung einer militärisch orientierten Außenpolitik. Auch in den politischen Eliten der Gesellschaft gibt es erhebliche Differenzen in der Frage eines verstärkten militärischen Engagements, auch wenn sich das in den Medien relativ wenig widerspiegelt und dort eher militante Kräfte den Ton angeben.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de