Die Freiheit verliert - Bürgerrechte haben ihre Faszination für viele Politiker verloren

von Sabine Leutheuser-Schnarrenberger
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Am 23. Mai 1999 ist das Grundgesetz 50 Jahre alt geworden. Zu Recht wurden der materielle Rechtsstaat, die Bindung aller Gewalten - des Gesetzgebers, der Exekutive und der Judikative - an die Grundrechte hervorgehoben. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und der Schutz seiner Persönlichkeit wurden als die höchsten Güter gelobt.

Die reale Politik im Bereich der inneren Sicherheit sieht ganz anders aus.

Seit Jahren haben die Befürworter immer weitergehender Ermittlungsmethoden ein Bild der Bedrohung durch Kriminalität, besonders durch die sog. Organisierte Kriminalität, gezeichnet, das den Handlungsbedarf des Gesetzgebers zwingend belegen soll. Da passt es nicht besonders gut, dass es nach wie vor an einer klaren und wissenschaftlich befriedigenden Definition der sog. Organisierten Kriminalität fehlt und die der Organisierten Kriminalität zugerechnete Kriminalität im 1%-Bereich der allgemeinen Kriminalität und die mit Gewalt verbundene sogar nur im Promillebereich der allgemeinen Gewaltkriminalität liegt und sich zudem überwiegend innerhalb des kriminellen Milieus abspielt. Die jährlichen Lageberichte zur OK des Bundeskriminalamtes belegen dies.

Die besondere Gefährdung der Organisierten Kriminaltät wird mangels zuverlässiger Fakten, mangels kriminologischer Aufklärung, gerade damit begründet, dass man wenig von ihr wisse. Diese angebliche Bedrohungslage hat in den vergangenen 10 Jahren zu einer bisher nicht dagewesenen Aufrüstung der staatlichen Ermittlungsmethoden geführt. Straf- und Strafverfolgungsgesetze wurden drastisch verändert zu Lasten der Persönlichkeitsrechte eines jeden Bürgers, nicht nur der sog. "Gangster". Aber auch die so gelobten Grundrechte wurden in einer bisher nicht dagewesenen Intensität eingeschränkt und in ihrem Kern ausgehöhlt. Der sog. große Lauschangriff, also das elektronische Abhören in Wohnungen aller Menschen, die möglicherweise Hinweise zur Strafverfolgung geben könnten, ohne selbst tatverdächtig zu sein, lässt vom Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, Art. 13 Grundgesetz, wenig übrig. Anders als beim staatlichen Zugriff auf Telekommunikation, auf den Briefverkehr oder auf Gespräche in der Kneipe oder auf der Straße gibt es vor der Überwachung von Gesprächen in Wohnungen schlechterdings keine weiteren Rückzugsmöglichkeiten für den Betroffenen. Aber für die künftige Bedeutung der Grundrechte ist die Begründung des Eingriffs in dieses Grundrecht viel entscheidender. Nicht mehr Schutz vor dem Staat, sondern Schutz durch den Staat müssten die Grundrechte gewähren. Diese Umdeutung der Grundrechte wird langfristig ihre Aushöhlung und Bedeutungslosigkeit zur Folge haben und damit dem autoritären Staat den Weg bereiten. Denn der subjektive beim Bundesverfassungsgericht durchsetzbare Anspruch des Bürgers aus den Grundrechten auf Schutz seiner Grundrechte gegen den Staat wird zwangsläufig zur Einschränkung der Grundrechte aller Bürger führen müssen. Der Abwehrcharakter der Grundrechte wird zurückgedrängt. Die Schutzpflicht des Staates korrespondiert mit dem Schutzrecht der Bürger und marginalisiert damit die Grundrechte.

Auf diesem Hintergrund ist der innenpolitische Gesetzgebungsaktionismus zu sehen, der ohne den Anspruch auf Vollständigkeit sich wie folgt darstellt:

  • die Ausdehnung der Untersuchungshaft, bei der die  klassischen Voraussetzungen Verdunkelungs- und Fluchtgefahr zurückgedrängt werden,
  • die polizeirechtliche Vorbeugehaft bis zu 14 Tagen für Taten, die man nicht begangen hat, sondern von  denen die Polizei fürchtet, dass man sie begehen  könnte, Kontrollstellen, Rasterfahndung und "beobachtende" Fahndung,
  •  die Ausdehnung der sog. Kronzeugenregelung trotz  ihrer Erfolglosigkeit beim Vorgehen gegen  Terrorismus,
  • die ständige Ausdehnung der Telefonkontrolle, in der Deutschland unter den Demokratien mengenmäßig  mit Abstand an der Spitze liegt,
  •  die Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes an Telefonüberwachungen, für die ein konkreter  Verdacht nicht erforderlich ist und für die weder eine richterliche, noch eine parlamentarische  Kontrolle vorgesehen wurde,
  •  das elektronische Belauschen innerhalb und außerhalb von Wohnungen schon bei einfachem  Tatverdacht und ohne zwingende Benachrichtigung der belauschten Personen, so dass eine gerichtliche Nachprüfung der Rechtmäßigkeit nicht  gesichert ist,
  • die strafrechtliche Immunität der Beamten von Europol für Straftaten, die sie im Zusammenhang  oder auch nur bei Gelegenheit ihrer dienstlichen Aufgaben begehen. Sie dürfen praktisch nur dann strafrechtlich verfolgt werden, wenn der Direktor von Europol seine Zustimmung gibt,
  •  die sog. Schleierfahndung, also das Recht der Polizei, Personen ohne polizeilichen Anlast  anzuhalten und zu identifizieren, was zur Mitnahme und Festhaltung auf der Wache führen kann. Das gab es zuletzt im preußischen Polizeirecht von 1850, aber nur nach Verhängung des Belagerungszustandes,
  • die zunehmende Aufhebung der Trennung von Polizei und Verfassungsschutz beim Vorgehen gegen  Kriminalität.

Es beunruhigt mich, dass die notwendigen Grenzen legitimer staatlicher Machtausübung mit leichter Hand verwischt worden sind, und immer zu Lasten der freiheitlichen und humanitären Substanz unserer Verfassung. Man kann die Werte einer Gesellschaft nicht dadurch verteidigen, dass man sie immer weiter einschränkt, sondern indem sie gerade angesichts neuer Herausforderungen offensiv vertreten und verteidigt werden. Das gilt für die technischen Kommunikationsmöglichkeiten, durch die der Datenschutz und die Datensicherheit eine ganz neue Dimension erhält. Und dies gilt für die Entwicklungen der Gentechnik und Biotechnologie, die das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, seinen Persönlichkeitsschutz und sein Recht auf körperliche Unversehrtheit in ganz anderer Dimension als bisher berühren.

Wir brauchen in Deutschland endlich wieder ein geschärftes Bewusstsein für die Werte unserer Verfassung und für die Bedeutung der Demokratie, um überzeugender und engagierter dem zunehmenden Rechtsextremismus, der Fremdenfeindlichkeit und dem Antisemitismus entgegentreten zu können. Die "rechtsfreien" Zonen in einigen Städten Ostdeutschlands dokumentieren das Versagen des Staates und der Gesellschaft. Nicht mit gesetzgeberischem Aktionismus kann dem entgegnet werden - alles was die Polizei an gesetzlichen Grundlagen braucht, hat sie bereits - sondern mit aus Überzeugung getragenem bürgerrechtlichem Engagement müssen die Defizite beseitigt werden. Das Wegsehen scheint schon wieder um sich zu greifen. Dem müssen überzeugte Demokraten entgegentreten.

Auch deshalb brauchen wir wieder eine Wertschätzung der Bürgerrechte im Reden und Handeln.

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Sabine Leutheuser-Schnarrenberger, MdB, ist Bundesministerin der Justiz a.D.