Die Friedensbewegung muß ihre VETO-Kampagne gegen die "Modernisierung" fortsetzen!

von Martin Singe

Selbst in Kreisen der Friedensbewegung werden inzwischen Stimmen laut, die das Eintreten für Verhandlungen bzgl. der Kurzstreckenraketen für wichtiger erachten als die Fortsetzung der VETO-Kampagne der Friedensbewegung, ja diese sogar als schädlich erachten. Dazu einige Thesen aus meiner Sicht, warum die Friedensbewegung ihre Kampagne auch nach dem Gipfel fortsetzen sollte:

  1. Die Bundesregierung, die USA und die übrigen NATO-Länder sind emsig dabei, eine möglichst perfekt klingende Lügenformel zu ersinnen, um der Bevölkerung erneut Sand in die Augen zu streuen. Bei Abfassung dieser Thesen liegt noch kein Wortlaut diese Formel vor. Sie wird in jedem Fall einen wie auch immer gearteten Verweis auf Verhandlungen bzgl. Kurzstreckenraketen enthalten - gekoppelt an Gummiformeln wie z.B. an niemals eindeutig erkennbare Voraussetzungen, etwa ein "deutlicher Fortschritt der Wiener Verhandlungen" oder "ein klarer Fortschritt bei der konventionellen Abrüstung" usw. Zugleich wird diese Formel aus Sicht der USA voraussetzen, daß die NATO sich in früheren Dokumenten auf "gleiche Obergrenzen" für die Kurzstreckensysteme geeinigt habe. Das ganze wird zusätzlich gekoppelt an eine grundsätzliches "Bekenntnis" (Bekenntnisse in diesem Bereich scheinen überhaupt immer wichtiger zu werden) zur flexible response, man will also ein langfristige Festlegung auf die Kombination von nuklearer und konventioneller Abschreckung bzw. Kriegsführungsstrategien erreichen. Eine Nullösung wird so ausgeschlossen, de facto bleibt die "Modernisierung'' beschlossene Sache.
  2. Wenn jetzt auch die Friedensbewegung von der Bundesregierung Verhandlungen fordert statt auf einem klaren VETO zu bestehen, dann würde sie selbst wenn ihre Verhandlungsforderung die Nullösung als Ziel benennt - der Verschleierungstaktik der Regierung Vorschub leisten. Der große Schein-Konsens wäre hergestellt von Friedensbewegung bis CSU wollen alle nur das Beste, Verhandlungen - wobei das Ziel und. Ergebnis dann natürlich den Verhandelnden überlassen bleibt.
  3. Stattdessen ist es aber an der Zeit, daß diese oder zumindest eine nächste Bundesregierung ein eindeutiges VETO gegen alle "Modernisierungen" einlegt, also auch nicht nur gegen die landgestützten neuen Kurzstreckenraketen, sondern insbesondere auch gegen die neuen luftgestützten Abstandswaffen, die klaren INF-Kompensationscharakter haben und in der bisherigen Debatte noch gar keine Rolle spielen, auch in ein Verhandlungsmandat nicht einbezogen werden. Nur durch ein VETO kann die NATO gezwungen werden, sich erste Gedanken zur Überwindung der nuklearen Abschreckung und zum Ausstieg aus der flexible response zu machen. Denn was NATO-Militärs, US- Regierung und die jetzige Bundesregierung befürchten, genau das will die Friedensbewegung: die Denuklearisierung Europas und möglichst bald auch der ganzen Welt! Je klarer die Position der Friedensbewegung in diesem Punkt bleibt, um so eher wird sie über Aktionen und die öffentliche Meinung Druck auf die Parteien entfalten können.
  4. Die VETO-Forderung zum jetzigen Zeitpunkt ist aber auch deshalb notwendig, um die Oppositionsparteien auf eine bestimmte Position eindeutig festzulegen - für die Zeit ihrer künftigen Regierungsverantwortung. Die SPD ist bisher nicht bereit, eine VETO-Abstimmung durchzuführen, offensichtlich aus Angst vor einer zu eindeutigen Politikfestlegung für '90/91, falls es dann rot-grün kommt. Zwar fordert die SPD heute klar einen Verzicht auf die "Modernisierung" (Bundestagsdrucksache 11/2438), allerdings ist im Antrag nur davon die Rede, daß die Bundesregierung solchen Streitkräftezielen in der NATO "nicht zustimmen'' solle. Das aber bedeutet eine klare Konfliktvermeidungsstrategie in der NATO, da Nichtzustimmung nicht reicht, um eine Entscheidung zu verhindern. Die SPD ist herausgefordert, deutlich zu machen, daß sie bei Übernahme von Regierungsverantwortung bei der nächsten Gelegenheit in den entsprechenden NATO-Gremien ein VETO gegen die Weiterverfolgung sämtlicher „Modernisierungspläne" einlegen würde, bzw. auf die Rücknahme sämtlicher bereits eingeleiteter Stationierungsvoraussetzungen bestehen würde. Dabei muß die SPD deutlich machen, daß sie bereit ist, mutig und entschlossen einen ernsthaften Grundsatzstreit um die Nuklearrüstung überhaupt in der NATO entfachen zu wollen.
  5. Ein letztes Argument derer, die von der Friedensbewegung ein Eintreten für Verhandlungen statt eines VETOs fordern, sei hier begegnet. Es heißt, über Verhandlungen könne ja mehr erreicht werden, nämlich auch die Null auf der östlichen Seite, während das VETO die NATO auf eine einseitige Abrüstung festlegen würde. Dies ist barer Unsinn, da die Sowjetunion mehrfach deutlich gemacht hat, daß sie sowieso eine Nullösung anzielt. Wenn die NATO also das weitestgehenste Verhandlungsziel schon einseitig beschließen würde, wäre es Unsinn zu glauben, daß die Sowjetunion dann ihre Kurzstreckensysteme behalten würde. So würde sich die Sowjetunion ja in ein absolutes politisches Abseits begeben, es würde allen ihren eigenen Erklärungen und praktischen Konsequenzen der letzten Zeit widersprechen. Wer so denkt, hält an alten Feindbildern einer Sowjetunion fest, die nur darauf aus ist, den Westen hinters Licht zu führen.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".