Die Gerechtigkeitsfrage als Schlüssel zur Lösung globaler Probleme oder:

Die Friedensbewegung vor den Herausforderungen von Terror und neuen Kriegen

von Clemens Ronnefeldt
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Im Dezember 1987 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine grundlegende Resolution, die den Terrorismus verurteilte und die Nationen dazu aufrief, ihn mit aller Macht zu bekämpfen. 153 Länder votierten bei der Abstimmung mit "Ja", Honduras enthielt sich, die USA und Israel stimmten mit "Nein". Ihre Ablehnung begründeten die beiden Länder mit der Passage, dass "das aus der UN-Charta abgeleitete Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit von den Bestimmungen dieser Resolution unberührt bleibt, und Völker, denen dieses Recht gewaltsam vorenthalten wird ... insbesondere Völker unter kolonialen und rassistischen Regimes und fremder Besatzung oder anderen Formen kolonialer Herrschaft ... das Recht haben, darum (in Übereinstimmung mit der Charta und anderen internationalen Rechtsprinzipien) zu kämpfen und Unterstützung zu fordern und zu erhalten" (1).

In dieser 15 Jahre alten, aber hochaktuellen UN-Begebenheit, verdichtet sich das wohl grundlegendste Problem unserer Zeit: Eine kleine Elite der reichen westlichen Welt versucht, die durch ein beispiellos gewaltsames Wirtschaftssystem entstandenen internationalen Spannungen, Verwerfungen und Aufstände global und unterschiedslos als "Terrorismus" zu brandmarken und deren Bekämpfung in Gut-Böse-Kategorien auch mit Kriegen zur Ressourcen- und Privilegiensicherung zu rechtfertigen.

Im November 2002 wird in Prag die NATO nicht nur eine Reihe weiterer Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes als Vollmitglieder aufnehmen, sondern sich auch auf weltweite Einsätze samt vorbeugenden Schlägen gegen Terroristen festlegen. Im letztgültigen Entwurf der 19 NATO-Länder für die Schlusserklärung des Prager Gipfeltreffens heißt es, dass man terroristischen Angriffen lieber zuvorkomme, als "ihre Folgen zu bewältigen" (zit. nach FR, 7.6.02).

Laut einer Liste von US-Verteidigungsminister Rumsfeld bieten derzeit angeblich mehr als 60 Staaten Terroristen Unterschlupf. In Afrika hat diese Auflistung dazu geführt, dass eine Reihe autoritärer afrikanischer Regimes versucht, die US-Regierung unter Druck zu setzen, ihre jeweiligen afrikanischen Oppositionsgruppen auf die Liste zu setzen, um sie im Gefolge neuer Anti-Terror-Gesetze mit noch größerer Legitimation (mund-)tot machen zu können.

Sollte in wenigen Monaten die US-Regierung ihren angekündigten Irak-Feldzug beginnen, bekäme der im 4. Jahrhundert lebende Kirchenvater Augustinus mit seinem Satz "Die Staaten dieser Welt sind große Räuberbanden, deren Verbrechen nur ein Ausmaß erreichen, dass man sie nicht bestrafen kann" (2) neue Aktualität.

Susan George, Vizepräsidentin von attac Deutschland, bringt es auf den Punkt: "Die Eliten der Welt wollen so weitermachen wie bisher, so lange sie können. Alles, was ihnen einfällt, ist Bomben zu werfen" (3).

Zum Spannungsverhältnis von Frieden, Gerechtigkeit und Solidaritätsarbeit
In ihrer Grundsatzerklärung "Gerechter Friede" (4) haben die katholischen deutschen Bischöfe einige bemerkenswerte Aussagen gemacht: "Es wäre fatal, wenn die Länder des Nordens ihre vordringliche Aufgabe darin sähen, sich vor den Armen, die in besonderer Weise der Erfahrung von Not, Gewalt und Unfreiheit ausgesetzt sind, zu schützen statt ihnen beizustehen" (S. 80).

Die Bischöfe formulieren, was m.E. grundsätzlich auch für die Friedensbewegung und ihr Handeln gilt: "Die Solidarität mit den Armen ist Teil unseres kirchlichen Engagements. ... Die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Stärkung der Armen ruft ihrerseits in vielen Fällen gesellschaftliche Konflikte hervor. Denn wenn bestehende Machtverhältnisse in Frage gestellt werden, trifft dies regelmäßig auf den Widerstand der bislang Mächtigen und Privilegierten. Kirchliche Solidaritätsarbeit muss deshalb so gestaltet werden, dass sie zwar den gesellschaftlichen Konflikt als oft unvermeidliches Moment des Entwicklungsprozesses anerkennt, andererseits aber in ihrer gesamten Ausrichtung und Anlage darauf hinwirkt, einen gewaltfreien Austrag von Konflikten zu ermöglichen oder zu begünstigen" (S. 97).

Dem lateinamerikanischen Bischof Dom Helder Camara verdanken wir den inzwischen fast historisch zu nennenden Satz: Wenn ich den Armen Brot gebe, werde ich ein Heiliger genannt; wenn ich frage, warum die Armen arm sind, werde ich als Kommunist beschimpft. Spräche er den Satz heute noch einmal, würde er möglicherweise "Kommunist" durch "Terrorist" ersetzen.

Die massive Repression, die GlobalisierungsgegnerInnen z.B. in Genua erfahren haben, und die Versuche, Menschen, die bei attac oder anderen Initiativen für Gerechtigkeit und Frieden arbeiten, in die Ecke von Terroristen zu stellen, zeigen, dass mit den Kämpfen auf fremden Schlachtfeldern auch ideologische Kämpfe um Begriffsdefinitionen an den Heimatfronten einhergehen.

Neu ist das alles nicht - allerdings erheblich verschärft. Wie scharf dieser ideologische Kampf geführt wird, zeigte auch die Rede von Georg W. Bush im Berliner Reichstag, der sich nicht scheute, Dietrich Bonhoeffer für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

Nach wie vor bin ich überzeugt, dass eine Mehrheit der Menschen auch in Deutschland nicht auf Kosten anderer leben will und dem Satz Gerhard Schröders "Wir verteidigen unsere Art zu leben, und das ist unser gutes Recht" (FR, 17.10.01), mit dem dieser die deutsche Beteiligung am so genannten "Anti-Terror-Krieg" zu rechtfertigen versuchte, widersprechen würde. Mir scheint, dass eine große Aufgabe dieser "schweigenden Mehrheit" darin besteht, sich endlich auch Gehör in der breiteren Öffentlichkeit zu verschaffen.

Eine der größten Herausforderungen für Friedens- und Solidaritätsbewegungen besteht darin, dem Schlachtruf der Globalisierungsbefürworter "Es gibt keine Alternative" nicht nur keinen Glauben zu schenken, sondern schon jetzt neue Alternativen zu entwickeln und zu leben.

Eine ausgezeichnete Grundlage hierfür bietet die Broschüre "Kapital braucht Kontrolle. Die Internationalen Finanzmärkte: Funktionsweise - Hintergründe - Alternativen", hg. von Kairos Europa und WEED, Bonn 2000, http://www.kairoseuropa.org oder http://www.weedbonn.de

Auch im IWF, bei der Weltbank oder der WTO arbeiten Menschen, die ihre Entscheidungen revidieren können. Sie werden dies allerdings vermutlich nicht ohne Druck von unten tun.

Beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in New York sagte Horst Köhler, Direktor des IWF: "Wenn wir es wirklich ernst meinen, dass die Globalisierung allen nutzen soll, dann müssen die entwickelten Länder begreifen, dass sie nicht weiter machen können wie bisher" (5).

Zu dieser Einsicht Köhlers dürfte auch das mit mehr als 50.000 TeilnehmerInnen überraschend stark besuchte Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre beigetragen haben, das dieses Jahr vom 31. Januar bis 5. Februar stattfand. Dort wurde beschlossen, die Handlungsfähigkeit im Rahmen der EU zu erhöhen. Kampagnen sollen der Tobin-Steuer zur Durchsetzung verhelfen und den Privatisierungstendenzen der WTO im Bereich Gesundheit, Bildung und Wasserversorgung demokratische Alternativen entgegensetzen.

Einige konkrete Handlungsfelder für die nächsten Monate

  •  Vom 26. August bis 4. September 2002 wird im südafrikanischen Johannesburg der UN-Gipfel für nachhaltige Entwicklung stattfinden. Die deutschen Umwelt- und Entwicklungsorganisationen haben eine vierseitige Massenzeitung mit dem Titel "10 Jahre nach Rio - Johannesburg 2002 - Globale Gerechtigkeit ökologisch gestalten" herausgegeben, die zahlreiche Handlungsimpulse gibt. Inbesondere die Forderungen an Multinationale Konzerne zur Unterzeichnung einer "Konvention zur Unternehmensverantwortung" verdienen eine große Verbreitung, ebenso gelungene Beispiele aus dem Agenda-21-Prozess wie die Städtepartnerschaft zwischen Aachen und Kapstadt. Kontakt und Bestelladresse: Forum Umwelt und Entwicklung, Am Michaelshof 8-10, 53111 Bonn.
  •  Im Vorfeld der Bundestagswahl am 22.9.2002 hat die DFG-VK, unterstützt von zahlreichen anderen Friedensorganisationen, einen Fragenkatalog an alle potenziellen Bundestagsabgeordneten zusammengestellt, der die KandidatInnen für das neue Parlament dazu zwingt, Farbe in sicherheitspolitischen Grundthemen zu bekennen. Der Fragenkatalog ist sehr gut geeignet, mit Abgeordneten brieflich oder auch im Rahmen von deren Sprechstunden in Kontakt zu treten, auch über die Nichtunterstützung eines Irak-Krieges seitens der Bundesregierung. Kontakt: DFG-VK-Bundesgeschäftsstelle, Schwanenstr. 16, 42551 Velbert.
  •  Die Vorbereitungen für einen Krieg gegen Irak laufen auf Hochtouren. Die Chancen für eine Verhinderung des für Anfang 2003 anvisierten Militärschlages könnten mit dem Satz umschrieben werden: Seien wir realistisch - versuchen wir das Unmögliche.
  • Vertreterinnen und Vertreter des Bundes für Soziale Verteidigung, von Ohne Rüstung Leben, der Kampagne "Produzieren für das Leben - Rüstungsexporte stoppen, der Kampagne "Die Gewaltspirale durchbrechen!", des Komitees für Grundrechte und Demokratie sowie des Versöhnungsbundes haben gemeinsam dazu aufgerufen, schon jetzt öffentlich Protest und Widerstand im Falle eines Irak-Krieges mittels einer Selbstverpflichtung anzukündigen.
  • Die Unterschriftenliste kann bestellt werden bei der Kampagne "Gewaltspirale durchbrechen", Römerstr. 88, 53111 Bonn.
  •  Die Strategiekonferenz in Bielefeld am 29./30. Juni 2002, die am 27. Oktober 2002 in Stuttgart von der DFG-VK geplante größere Veranstaltung zu Alternativen zur Gewalt oder der jährliche Kasseler Friedensratschlag Anfang Dezember geben Orientierung und Stärkung. Das Internet ersetzt m.E. nicht die persönliche Begegnung, die wir als Menschen in der Friedensbewegung ganz einfach brauchen.
     

Wenn die Arbeit an der "strukturellen Nichtausbeutungsfähigkeit" (Peter Kafka) Dynamik gewinnt, wird irgendwann die "strukturelle Angriffsfähigkeit" überflüssig.

Bis dahin allerdings ist der Weg noch weit - ein hoffentlich immer stärker gegenseitig inspirierter gemeinsamer Weg von globalisierungskritischen und friedensbewegten Menschen weltweit.

Anmerkungen:
1 zit. nach: Noam Chomsky, The Attack. Hintergründe und Folgen, Hamburg 2002, S. 55.
 

2 zit. nach: Eugen Drewermann, Krieg ist Krankheit, keine Lösung, Freiburg 2002, S. 67.
 

3 Interview mit Susan George in: Die neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte, Mai 2002, S. 280.
 

4 Gerechter Friede, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2000.
 

5 zit. nach: Entwicklung und Zusammenarbeit, März 2002, S. 99.
 

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.