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Die Friedensdekaden - die fünfte Jahreszeit
vonGorbatschow macht nicht nur der NATO und der Bundesregierung, sondern auch der Friedensbewegung das Leben schwer. So scheint es zumindest. Immer weniger Menschen in der Bundesrepublik glauben an eine Bedrohung aus dem Osten. Entsprechend sinkt die Wehrbereitschaft der jungen Männer. Die Bevölkerung verweigert der konservativen Bundesregierung die Zustimmung für die herkömmliche "Verteidigungspolitik". Weil die Regierung taktisch angefangen hat, darauf zu reagieren, denken viele Friedensbewegte: "Wir haben unsere Arbeit getan, wir können unsere Friedensinitiative auflösen".
Die Frage stellt sich: Weshalb dann zum zehnten Mal einen Aufruf zur Friedensdekade im November?
Im vergangenen Jahrzehnt sind diese Friedenswochen bzw. Friedensdekaden eine ständige Einrichtung in tausenden von Gemeinden und Gruppen geworden. In erfreulicher Selbstständigkeit und Kreativität wurden Programme entwickelt und in den Kommunen, in den Kirchengemeinden und den Regionen eigenständig durchgeführt. Daran haben sich Menschen beteiligt, die den Kirchen nahe- und fernstehen. Es sind breite Bündnisse geschlossen worden. Die Gruppen und die einzelnen Aktiven haben sich kennengelernt und gelernt, miteinander umzugehen. Die Friedensdekaden sind ein wichtiges Mobilisierungspotential geworden. Sie vermitteln konzentriert Informationen und wirken in alle Schichten der Bevölkerung hinein.
Was können diese Friedensdekaden nun dem Gorbatschow-Effekt entgegensetzen? Es reicht sicher nicht mehr aus, nur zu einzelnen Aktionen aufzurufen. Die Vielfalt der Themen ist unübersehbar. Eine Auswahl ist auch nur dann möglich, wenn die Gruppen sich über die Kriterien der Auswahl im Klaren sind. Die diesjährigen Aufrufer zur bundesweiten ökumenischen Friedensdekade vom 12. bis 22. November haben unter dem Motto "Frieden schaffen - Gewalt abbauen" den roten Faden zu den Themen Gewalt und Gewaltfreiheit gezogen. Dieser Faden führt zu einer gemeinsamen Ursache von Unfrieden im weitesten Sinne, der hier nicht nur als kriegerische Gewalt verstanden werden soll. Sinn dieses Aufrufes ist, darüber nachzudenken, wie wir als Verursacher, Mitwirkende und Opfer in Formen von Gewalt denken, reden, handeln oder unter ihr leiden. Das soll uns dazu ermutigen, die Erscheinungsformen von Unfrieden in ihrem tieferen Zusammenhang zu sehen, uns nicht zu verzetteln und uns die Aufgaben vorzunehmen, die wir mit unseren Gruppen oder alleine tatsächlich auf Dauer bewältigen können.
Einige Beispiel seien genannt: Das von der NATO Ende Mai verabschiedete "Gesamtkonzept" bietet kein konkretes Verhandlungsmandat gegen die Kurzstreckenraketen an, es macht Verhandlungen darüber von dem Erfolg bei den konventionellen Waffenabrüstung zur Voraussetzung, es schließt eine dritte Null-Lösung aus, und - entscheidend - es verharrt bei der politisch längst überlebten Vorstellung, man könne den Frieden durch die Vorbereitung oder Androhung von Krieg sichern: Die Abschreckung bleibt. Die Gelder für die "Modernisierung" werden schon beschafft, die Waffen werden gebaut und sukzessive stationiert. Hier kommt das alte Gewaltdenken zum Ausdruck, das wir seit dem Doppelbeschluß bekämpft haben. Nötig ist es, jetzt den Frieden mit politischen Mitteln zu sichern und die Institution des Krieges zu überwinden. Dazu gehört die Forderung an die Bundesregierung, daß sie ihr ausdrückliches Veto gegen eine mögliche "Modernisierung" bei der NATO einlegt. Dazu gehört die Kürzung des Rüstungsetats aus ökonomischen und politischen Gründen.
Im engen Zusammenhang mit dem Abrüstungsthema steht die Feststellung, daß die alte Nachkriegsordnung ins Wanken geraten ist, daß aber die Strukturen einer politischen Friedensordnung für Europa gerade erst im Entstehen sind. Nachzudenken ist über Möglichkeiten, Gewaltandrohungspotentiale in Europa zu mindern, z.B. durch Sicherung einer gleichmäßigen und gleichzeitigen Entwicklung im Verhältnis von West- zu Osteuropa und der realistischen Einschätzung, daß in einer neuen politischen Friedensordnung für Europa für ein in den Grenzen von 1937 wiedervereinigtes Deutschlang keine Chance besteht. Vor 50 Jahren ist vom deutschen Boden zum zweiten Mal Krieg ausgegangen. Es steht uns in der Bundesrepublik gut an, die heute gebotenen politischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Das wird heftige Diskussionen auslösen, und das ist gut so. Das Thema "Frieden mit der Sowjetunion" hat auch im folgenden Jahr einen hohen Stellenwert.
Die Bundesrepublik hat sich zu einem der hauptsächlichen Rüstungsexporteure "gemausert". Die Folgen des Exportes von Tötungsgeräten und der Infrastruktur dafür auf die Ökonomie, die Natur und die Psyche der Völker in den Empfängerländern ist katastrophal. Im eigenen Lande tragen wir Verantwortung mit, daß wirksame Maßnahmen gegen immer neue Rüstungsskandale, schlechte Anti-Rüstungsexport-Gesetze und schlechte Durchführung dieser Gesetze ergriffen werden. Informieren, agieren und Zusammenhänge erklären können Gruppen z.B. in der Daimler-Kampagne, der Anti-Rüstungsexportkampagne von christlichen Friedensgruppen.
44 Jahre nach dem Zusammenbruch des faschistischen Deutschen Reiches und nachdem Generationen herangewachsen sind, die persönlich keinen Faschismus mehr erlebt haben, haben viele Friedensgruppen die Notwendigkeit der antifaschistischen Arbeit neu entdeckt. Was bedeutet es, wenn ich auf dem Moped eines Zwanzigjährigen lese "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!"? Der Spruch zeigt an: Ablehnung von Menschen, die keine Deutschen, also Ausländer sind, Ablehnung von Menschen, die nicht wie Deutsche denken, also anders denken. Das Bekenntnis schließt ausgeprägte Vorstellungen von "Männlichkeit" ein, von wenig sensibler Härte. Was wir an Hakenkreuz-Schmierereien, Schändung von Grabsteinen auf jüdischen Friedhöfen usw. erlebt haben, läßt auf die Verweigerung von politischem Denken, verantwortlicher Mitarbeit und Realitätssinn schließen. Das alles sind Erscheinungen, die Gewalt ankündigen oder schon offen leben.
Der Rassismus der Apartheid in der Republik Südafrika hat über die Jahre durch das Leiden der unmittelbar betroffenen Mehrheitsbevölkerung in Südafrika erwiesen, daß Menschenrechte und Demokratie nicht ohne harte politische und ökonomische Sanktionen durchgesetzt werden können. Selbst Bundesminister Norbert Blüm gibt dem kommenden Staatspräsidenten der Republik Südafrika noch eine Chance, nachdem ihn der amtierende Staatspräsident Botha wie einen Schuljungen abgekanzelt hat! Das System der Apartheid ist nicht reformierbar. Es muß abgeschafft werden, weil es ungerecht und eine Sünde ist. Dafür sollten die politischen Mittel, z.B. empfindliche Sanktionen, durchgesetzt werden.
Wenn wir wissen, weshalb wir Friedensarbeit machen, welches Menschenbild wir vertreten und welche Mittel wir dabei anwenden und welche nicht, dann erleben wir nach Frühling, Sommer, Herbst und Winter in der Friedensdekade die fünfte Jahreszeit. Sie dauert das ganze Jahr über, hat ihren Höhepunkt aber im November. Alle können dabei mitmachen, jede/jeder an ihrem/seinem Ort nach den eigenen Möglichkeiten und im Zusammenhang mit vielen anderen.