Die gefährliche Debatte über die Reform des Völkerrechts

von Philipp Boos

Seit dem Beginn der Auseinandersetzung um den völkerrechtswidrigen Irakkrieg1 wird eine Debatte über die Reformbedürftigkeit des Völkerrechts geführt. Teilweise wird gefordert, die völkerrechtlichen Prinzipien der staatlichen Souveränität, territorialen Integrität und das Interventionsverbot auf den Prüfstand zu stellen, um die "neuen" Bedrohungen durch Terrorismus und Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu berücksichtigen.2 Diese Debatte ist aktuell auch in der Berliner Rede von Bundespräsident Johannes Rau vom 19. Mai 2003 aufgegriffen worden.3

Es besteht die Gefahr, dass mit dieser Diskussion - aus falsch verstandener Solidarität mit den USA - grundlegende Errungenschaften des Völkerrechts in Frage gestellt werden oder gar vom Wortlaut und Sinn der UN-Charta nicht gedecktes Völkergewohnheitsrecht geschaffen wird. Das gilt im besonderen Maße für das Verbot des Einsatzes militärischer Gewalt (Art. 2 Ziffer 4 UN-Charta), dessen Durchbrechung vom geltenden Völkerrecht nur in zwei eng begrenzten Konstellationen zeitweise erlaubt wird.

Zum einen gestattet das Recht zur Selbstverteidigung "im Falle eines bewaffneten Angriffs" militärische Verteidigungsmaßnahmen, dies aber nur bis der UN-Sicherheitsrat die notwendigen Schritte getroffen hat (Art. 51 UN-Charta). Zum anderen sind - nur für den Fall, dass die in Art. 41 UN-Charta vorgesehen friedlichen Sanktionsmaßnahmen unzulänglich sind - auf ausdrücklichen Beschluss des UN-Sicherheitsrats die erforderlichen militärischen Sanktionsmaßnahmen zulässig (Art. 42 UN-Charta).

Die in der rechtswissenschaftlichen Diskussion grundsätzlich nicht in Zweifel gezogene Bewertung des Irakkriegs als völkerrechtswidrig darf nicht dazu führen, dass derartige Kriege von einem reformierten Völkerrecht zukünftig zugelassen werden. Die Forderung, ein rechtswidriges Handeln zwinge zu einer Reform des Rechts, ist paradox. Niemand - außer vielleicht dem Täter - würde nach dem Begehen einer Brandstiftung deren Legalisierung verlangen.

Eine Reform, die künftig "Präventivkriege" aufgrund von einzelnen Staaten behaupteter Gefahren zulässt, hätte verheerende Konsequenzen und insbesondere eine Senkung der Hemmschwelle zum Einsatz von Gewalt in künftigen Konflikten zur Folge. Als Beispiele sei nur auf den Konflikt zwischen Indien und Pakistan sowie auf in den USA wohl diskutierte Kriegspläne gegen den Iran und Syrien verwiesen.

Wenn mit Reform gemeint ist, dass künftig die Beweisschwelle für die Voraussetzungen zum Gewalteinsatz gesenkt werden soll (Umkehr der Beweislast), dann ist das erst recht abzulehnen. Angesichts der modernen Manipulationsmöglichkeiten - auch über die Massenmedien - müssen diese Anforderungen verschärft und nicht etwa gesenkt werden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass für die zur Rechtfertigung des Irak-Krieges beschworene Gefahr, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, trotz bald zweimonatiger Besetzung des Landes noch immer keine Belege geliefert wurden.4 Vielmehr wird von der US-Administration inzwischen eingeräumt, die Gefahr der Massenvernichtungswaffen sei nur aus "politischen" bzw. aus "bürokratischen" Gründen als Rechtfertigung für den Krieg genannt worden.5 Der Irak-Krieg belegt damit gerade die Notwendigkeit, die Beweisanforderungen zu erhöhen. Nicht nur, dass dort die behauptete Gefahr wohl nicht bestand, es besteht mittlerweile der begründete Verdacht einer bewussten Irreführung der Weltöffentlichkeit.

Bundespräsident Rau führt in seiner Berliner Rede vom 19. Mai 2003 aus, der Irak-Krieg habe die Debatte neu belebt, ob und wie das Völkerrecht weiterentwickelt werden muss. Das Völkerrecht müsse dort weiterentwickelt werden, wo es diktatorische Regierungen schützt und wo es keine hinreichenden Antworten auf die denkbare Verbindung zwischen internationalem Terrorismus und Massenvernichtungswaffen gibt. Diese Argumente halten wir für nicht durchgreifend. Ihrem teilweise berechtigten Hintergrund kann auch schon mit dem geltenden Völkerrecht durch Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta Rechnung getragen werden. Über die geltende UN-Charta hinausgehende militärische Maßnahmen lassen sich mit dem Beispiel des Irak-Krieges jedenfalls nicht rechtfertigen.

Eine Reform des Völkerrechts zur Bekämpfung von Terroristen ist nicht erforderlich. Der Irakkrieg wurde nicht zur Bekämpfung des Terrorismus geführt. Eine Verbindung zwischen Saddam Hussein und Terroristen wurde nicht nachgewiesen. Zudem zeigen die schrecklichen Terroranschläge aus der jüngeren Vergangenheit wie auch der langjährige Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, dass der Gefahr des Terrorismus durch Kriege nicht wirksam begegnet werden kann.

Die Weiterentwicklung und Stärkung des Völkerrechts zur Bekämpfung von Diktatoren und Menschenrechtsverletzungen ist in der Tat erforderlich. Ein wirksames Mittel dafür ist die Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Dieser wird jedoch von den USA mit allen Mitteln bekämpft. Zudem wurde die fehlende demokratische Legitimation und die Verletzung von Menschenrechten nicht als Hindernis angesehen, die Diktatur von Saddam Hussein und andere Diktaturen lange Zeit u. a. durch Lieferung von militärischer Ausrüstung zu stärken.

Unter diesen Umständen ist die Forderung nach einem Recht zum Krieg gegen alle Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen nicht überzeugend und birgt die Gefahr eines massiven Missbrauchs aus nationalstaatlichen und wirtschaftlichen Interessen. Zudem steht sie im Widerspruch zum völkerrechtlich anerkannten Prinzip der staatlichen Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts der Völker (Art. 1 Ziffer 2, Art. 2 Ziffer 1 UN-Charta).

Zur Stärkung des Völkerrechts ist also vielmehr zunächst seine Beachtung einzufordern. Zu Recht hat Bundespräsident Rau betont, dass kein Staat für sich das Recht auf Intervention beanspruchen kann. Daher wäre es angebracht, die Rechtmäßigkeit des Irakkrieges und generell die Rechtmäßigkeit von Präventivkriegen auf Beschluss der UN-Generalversammlung durch ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs überprüfen zu lassen (nach Art. 96 UN-Charta). Damit würde eine rechtliche Bewertung durch das hierfür zuständige Gericht der Vereinten Nationen eingeholt, die eine hervorragende Grundlage für die Diskussion über die Erforderlichkeit einer Reform des Völkerrechts bieten könnte.

Statt die Diskussion auf eine Ausweitung militärischer Interventionsbefugnisse zu richten, sollten sich die Staaten der Europäische Union vielmehr auf eine Stärkung des völkerrechtlichen Friedensgebotes konzentrieren.6 Dazu könnten sie einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie in die zurzeit im Entwurf vorliegende künftige Verfassung der Europäischen Union7 einen Vorrang der zivilen Konfliktschlichtung aufnehmen. Das würde dem in den letzten Monaten zum Ausdruck gekommenen Willen der überwältigenden Mehrheit in allen Staaten der Union entsprechen.
 

 
    1 Zur völkerrechtlichen Bewertung des Irak-Krieges siehe den Beitrag "Coalition of the Outlaws?" in FriedensForum 1/2003.
 
 
    2 So etwa der frühere CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble im Interview mit SPIEGEL ONLINE am 28. Mai 2003. Unter anderem schlägt Schäuble dort vor, "die grundlegenden Verstöße gegen Menschenrechte festzulegen und sie außerhalb des Interventionsverbots [zu] stellen."
 
 
    3 Der vollständige Text der Rede kann im Internet unter www.bundespraesident.de eingesehen werden.
 
 
    4 Aufschlussreich ist insofern das Eingeständnis des amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, der Irak habe seine biologischen und chemischen Waffen möglicherweise bereits vor dem Kriegsbeginn vernichtet (FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 30. Mai 2003, S. 1). Diese Feststellung zu treffen, wäre Aufgabe der auf der Grundlage der UN-Sicherheitsratsresolution 1441 (2002) entsandten zivilen Inspekteure unter der Leitung von Hans Blix gewesen.
 
 
    5 So jedenfalls die Aussagen des Vize-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz, vgl. FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 31. Mai 2003, S. 6.
 
 
    6 Für die Erarbeitung einer europäischen Friedensstrategie auch Heinrich August Winkler, DER TAGESSPIEGEL vom 22. Mai 2003, S. 2: "Eine europäische Sicherheitsstrategie darf aber nicht nur ein militärisches Konzept zur Bekämpfung des Terrorismus sein."
 
 
    7 Siehe dazu die Internetseite des Konvents: http://european-convention.eu.int, auf welcher der aktuelle Entwurf des Textes der Verfassung abgerufen werden kann.

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund

Themen

Dr. Philipp Boos ist Rechtsanwalt und Geschäftsführer der IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms) in Marburg.