Die globalen Möglichkeiten des Fernsehens- eine Graswurzelaufgabe

von Irmgard Geiger
Schwerpunkt
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Die Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts schuf die Grundlage für eine geistige Entwicklung, die heute noch nicht abge­schlossen ist. Die Menschen, vorher im Bann der Kirche, wurden unab­hängig von den Vermittlern dessen, was als Heil, als Gotteswort galt. Eigenes Urteilen konnte sich auf Geschriebenes stützen. Die Verände­rung des Denkens nahm Jahrhunderte in Anspruch. Es dauerte noch 150 Jahre bis zum Beginn der Aufklärung und nocheinmal 100 Jahre bis zur Erklärung der Menschenrechte in der französischen Revolution. Die Entwicklung der Naturwissenschaften wurde möglich.

Heute sind wir an einem Punkt ange­langt, der uns die Schattenseiten dieser Entwicklung zum Bewußtsein bringt. Wir glauben nicht mehr, daß menschli­cher Vernunft allein das letzte Urteil zu­steht. Wir wissen auch, daß die von den Bannerträgern der Französischen Revo­lution geforderte Gleichheit nur Gleich­heit vor dem Recht und Chancengleich­heit meinen kann. Weiter müssen wir einschränken, daß die bedeutsame Er­rungenschaft der Meinungsfreiheit all­zuleicht mißbraucht werden kann.

Das Fernsehen ermöglicht ähnlich wie einstmals die Entwicklung der Buch­druckerkunst einen gewaltigen Zuwachs an Information. Wird es eine ähnliche geistige Revolution einleiten wie der Buchdruck? Um sich einer Beurteilung anzunähern, muß man sich die Unter­schiede zwischen den Printmedien und den audiovisuellen Medien vergegen­wärtigen.

Das geschriebene oder gedruckte Wort wirkt völlig anders als der Film. Ge­drucktes bedarf der Erlernung und An­strengung des Lesens, der Verarbeitung durch Vorstellungsgabe und Nachden­ken. Die audiovisuellen Medien verlan­gen viel weniger subjektive Bemühung um ein Urteil. Sie gehen dem Konsu­menten unter die Haut, direkt ins Unbe­wußte. Der suggestive Einfluß vertieft sich durch die Begleitmusik. Die quali­tative Wirkung wird quantitativ ver­stärkt, weil sie eine viel größere Anzahl von Menschen erreicht. Das Fernsehen kann auch für Analphabeten, theoretisch für die gesamte Menschheit, verständ­lich gemacht werden. Die Bilder werden übermächtig. Aber sie können nicht al­les zeigen und das wenige nur in der Auswahl der Medienzaren. Jede Art von Täuschung ist möglich. Die Klagen der Berichterstatter nach dem Golfkrieg zeigten überdeutlich die breiten Mög­lichkeiten der Irreführung. Man glaubte mitten im Kriegsgeschehen zu sein und mußte sich später als Opfer geschickter Irreführung sehen.

Das Fernsehen wird zu einer geheimen Waffe, die mit ihrer Wirkung auf die unbewußten Seelenschichten blind und unberechenbar ist wie Naturgewalten. Wenn das richtige Quantum an gefährli­cher Lockspeise: Gewalt, Sex und Crime beigemixt sind, kann es auf lange Sicht die Mentalitätsentwicklung stärker beeinflussen als jede auf die Einsicht zielende Aufklärung. Im allgemeinen Denken gibt es bis heute wenig Ver­ständnis dafür, daß diese sanfte Gewalt auf die Dauer wirkungsvoller sein kann als Waffen. Sie wird, wie alles nicht­physische, unterschätzt. Es ist die Macht über die Seelen, wie sie schon die mit­telalterliche Kirche mit ihrer Gnaden­gewalt ausübte. Auch heute wird unter Macht wie in der Steinzeit vor allem physiche Macht verstanden.

Welche psychische Gegenmacht gibt es gegen die audiovisuellen Medien? Wie bewußt sind die Medienmächtigen be­reit, dafür Verantwortung zu überneh­men? In der Öffentlichkeit wird "Verantwortung übernehmen" gleichge­setzt mit militärischem Eingreifen, wäh­rend politische gewaltfreie Lösungsver­suche als verantwortungslose Passivität oder als Ohnmacht gegeißelt werden.

Militärische Macht ist immer in Gefahr, die Schranken, die die Verfassungen der Demokratien ihr setzen, zu durchbre­chen, so wie heute in Jugoslawien. Die Wirkung militärischer Macht ist allen sofort erkennbar. Die Spätfolgen unge­bändigter Medien in den Seelen bleiben unterschätzt. In den Demokratien wurde mit wechselndem Erfolg versucht, un­abhängiges Agieren militärischer Macht zu unterbinden. Dagegen verbirgt sich das unabhängige Wüten der Medien­macht hinter einer Wolke der Ah­nungslosigkeit. Zudem tabuisiert die zweifellos wertvolle Errungenschaft der Presse- und Meinungsfreiheit jede Ein­schränkung. Dahinter steht ein bisher unlösbarer Konflikt. Gesetze, die die Gesellschaft vor Missbrauch schützen könnten, ohne daß die Pressefreiheit gefährdet wäre, sind schwer begrifflich einzugrenzen. Ursache für die Unklar­heit ist u.a. das geringe Wissen über die Natur des Unbewußten, das Addressat von Suggestionen ist. Mit anderen Worten: die Suggestivkraft der audiovi­suellen Medien wird unterschätzt, weil es keine deutlichen Vorstellungen über suggestiven Einfluß gibt.

Das Wissen um die Kräfte des Unbe­wußten schließt die ungeliebte Er­kenntnis ein, daß die Bereitschaft zu unkritischem Glauben die Menschen heute nicht weniger beherrscht als im finsteren Mittelalter und daß die men­schliche Vernunft weit überschätzt wird. Dem Seelenarzt drängt sich dieser Ein­druck auf. Das live gesendete Bild, das den Anspruch erhebt, weitaus realisti­scher zu sein als das gedruckte Wort, erweist sich als Vermittler von Desin­formation und schönem Schein, von Suggestion. Wer hat schon die Zeit, sich gegen die Vielzahl von Bildern zu wehren, indem er/sie breit gefächerte gedruckte Information zur Grundlage kühlen Urteils macht? So wird Televi­sion der heimliche Verführer par ex­cellence, mit der Qualität einer Droge, die den Erfahrungshunger befriedigt, ohne Persönlichkeitswerte zu fördern. Die Informationszufuhr sollte begleitet sein von kritischem Nachdenken, das schließlich Anpassung und Kreativitität herausfordert.

Schon die praktische Situation behindert den bloßen Wissenserwerb durch schnelleren Informationsfluß. Die schiere Masse der Nachrichten erzwingt Auswahl aus der Bilderflut. Diejenigen, die zu entscheiden haben, beeinflussen gewollt oder ungewollt die Konsumen­ten. Alles was sensationell, katastrophal, destruktiv ist, hat Vorrang, weil es den Bedürfnissen des Publikums entgegen­kommt und wegen der höheren Ein­schaltquoten den Gewinninteressen dient. Es werden vorzugsweise Inhalte übermittelt, die schnelle brutale Pro­blemlösungen darstellen. Will man Entwicklungen, wie etwa die genannte wegbereitende Wirkung des Buchdrucks für Aufklärung und exakte Wissen­schaften oder die Langzeitwirkung ge­waltfreier Konfliktlösungen in einem fesselnden Film darstellen, ist eine sel­ten zu findende Kombination von Fachwissen, didaktischen und künstleri­schen Fähigkeiten nötig.

Mehr Macht sollte stets von einem ent­sprechend erhöhten Maß an Verant­wortung begleitet sein. Die Verantwort­lichen sehen nur die unmittelbare Wir­kung ihres Tuns in den Kassen. Sie scheinen sich nicht im Klaren zu sein, mit welch gefährlichem Sprengstoff sie angesichts der großen Verbreitungs­möglichkeit, der Einbeziehung der An­alphabeten und der Suggestivwirkung umgehen. Da diese Erfahrungen der Tiefenpsychologie heute noch im All­gemeindenken wenig begründet sind, ist es schwer, die Notwendigkeit des Han­delns verständlich zu machen. Die um­fassende Wirkung wird nicht gesehen. Kein zureichendes Gesetz verhindert verantwortungslose Programmentschei­dung. Es wird eine Machtausübung möglich, die durch keinerlei Verant­wortung balanciert ist. Angesichts der weltweiten Macht des Fernsehens sollte genau so wie für Gen-manipulation und Atom-spaltung vermehrte Kontrolle eingefordert werden. Solange nicht ge­steigerte Sensibilität für die Verant­wortung durch Politik von unten ange­mahnt wird, werden die mächtigen Ge­schäftemacher keinen Grund zu verant­wortungs-bestimmten Änderungen se­hen.

Es ist denkbar, daß der Wildwuchs der rein merkantil orientierten Fernsehpro­duktion die Armutswanderung aus dem Süden mit beeinflußt. Der Alltag des Fernsehsüchtigen ist von einer verhäng­nisvollen Irreführung geprägt: verlogene Hollywoodmärchen, fabulöse Ge­schichten von unerhörter Geldmacht oder pubertäre Träume von Superwaffen gelangen in die verlassensten Eingebo­renendörfer, in die ärmsten Favelas, und werden nicht nur geglaubt, sondern be­stimmen Willensbildung und Entschei­dungsfindung. Wird darüber nachge­dacht, ob an Stelle von Seifenopern nicht Erwachsenenbildung gesendet werden sollte, die den Zuschauern langweilige Inhalte wie Verbesserungs-möglichkeiten der Lebensqualität, der Nahrungsgrundlagen, des sozialen Zu­sammenlebens, der Hygiene und Ge­sundheit didaktisch geschickt und inter­essant nahebringt?

Den Skeptikern möchte ich zwei zufäl­lige Funde in einer einzigen Zeitungs­nummer (SZ vom 17.2.93) entgegen­halten. Ganz nebenbei wird die Global­wirkung des Fernsehens dargestellt: Dem brasilianischen Television wird das Hauptverdient am erstmaligen Rückgang der Geburtenrate zugemes­sen, obwohl die katholische Kirche en­ergisch gegen Verhütungsmittel und Abtreibung agitiert. In China ermutigte die Präsenz der Fernsehteams bei dem Massaker auf Pekings Tianamenplatz l989 nicht nur die Demonstranten, son­dern hatte auch die Langzeitwirkung, daß sich heute viele Chinesen entgegen dem Verbot Satelittenschüsseln (weiße Ohren) anschaffen. Es könnte also bei geschickter, ja künstlerischer Handha­bung aufklärender Sendungen, verbun­den mit Weltverantwortung eine noch nicht erkannte breite Wirkung zur Be­wältigung der drohenden Probleme er­zielt werden.

Was in den Medien dargestellt wird, findet viel schneller Verbreitung und Nachahmung als es früher bestimmte Geistesrichtungen waren. Neue Ideen, getragen von gewaltfreien Aktionen, Menschenketten, Lichterdemonstratio­nen breiten sich ebenso schnell aus, wie die dumpfe Gewaltstimmung gegen Ausländer.

Die Errungenschaft der Aufklärung, eine Pressefreiheit, die theoretisch mög­lichst alle Seiten zu Wort kommen las­sen will, scheitert insbesondere bei den audiovisuellen Medien am Zwang zur Auswahl und zur vereinfachten, raffen­den Darstellung. Durch die Macht, nach Gutdünken das eine zu sagen und das andere zu unterschlagen kann sich der Sinn der freien Meinungsäusserung ohne direkt faßbare Lügen ins Gegen­teil verkehren. Wer nicht Zugang hat zu dem mächtigen Meinungsmacher, muß stumm bleiben. Was nicht im Fernsehen ist, ist nicht. Meinungsterror der feinen Art wird möglich mittels Selektion der Nachrichten. Will man den Mißbrauch des geheiligten Wertes der freien Mei­nungsäusserung verhindern, dürfen die Produzenten nicht eine Personalunion mit den Kontrollierenden eingehen. Das entspricht der Idee der Gewaltenteilung. Medienmacht muß von möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen ge­bändigt werden, nicht aber von denen, die daran verdienen. Die Kontrolle muß vor allem auch von unten angemahnt werden. Seit dem Protest gegen die Wieder­auf­rü­stung hat Graswurzelpolitik immer wie­der stille, von der Öffentlich­keit, ja selbst von den Teilnehmern un­terschätzte Triumphe gefeiert. Sie sollte sich heute noch mehr als früher an glo­balen Aufgaben orientieren. Die Zu­kunftsaufgabe der Medienkontrolle scheitert vorläufig am Fehlen grenz­überschreitender Organisationen. Agita­tion kann ein Mittel sein, das wenig er­kannte Problem aus der theoretischen Diskussion heraus und dem Bewußtsein der Öffentlichkeit nahezubringen.

Bei dem Versuch, einer Lösung des Problems Einchränkung der Fernseh­macht versus Meinungsfreiheit näherzu­kommen, ist es zweckmäßig, sich an ge­schichtliche Versuche der Beschrän­kung von Gewalt zu erinnern. Die bei­den Denkmodelle sind erstens das de­mokratische Grundprinzip der Gewal­tenteilung und zweitens die Unterstel­lung des Heeres unter die Regierungs­gewalt. Medienmacht wurde neuerdings als 4. Gewalt bezeichnet, die sich den drei geteilten Gewalten, der Legislative (Parlament), der Exekutive (Regierung und Verwaltung) und der Juridikative (Gerichte) beigesellt. Die Bezeichnung 4. Gewalt für die Medien ist deshalb un­richtig, weil sie - Gott sei Dank! - nicht völlig staatsabhängig ist. Heutzutage folgt sie, nur teilweise durchschaut, den brutalen Bedingungen eines Manche­ster-Kapitalismus. Ihre Abhängigkeit vom blanken Gewinnstreben verlangt eine Kontrolle durch andere Gewalten und eine Beschränkung zum Schutze des Bürgers.

Medienmacht ähnelt derjenigen militäri­schen Gewalt, die sich nicht dem Staat unterordnet und dadurch Waffengewalt der gefährlichsten Art ist. Das ungezü­gelte Vorgehen militärischer Einheiten ohne Kontrolle kann als Modell für die Vorstellung der Ausbreitung von Me­dienmacht dienen: die wuchernden Kämpfe um das zerfallene Jugoslawien drohen in ihrer Blindheit für das Ganze in allgemeiner gegenseitiger Zerstörung zu enden.

 

Wir wollen eine freie Presse, freie Me­dien. Aber wir wollen nicht Medien, die alles anrichten, was jedem, der genug Geld und Rücksichtslosigkeit besitzt, möglich ist. Die Einschränkung muss vom Volk ausgehen, was nicht heißt, vom bequemen Geschmack. Es gibt Vergleichsmöglichkeiten in der Macht der Boulevardblätter im deutschen und englischen Sprachraum. Der Kampf der 68-er-Rebellen gegen die Springer-Presse entsprang der Erkenntis der sug­gestiven Medienmacht, die den Leser mit dem fütterte, was er so gerne schluckt: Sensationen, Gewalt, Sex, Verbrechen, und, als harmlosestes, Sport. Wie Eltern, die die Zähne ihrer Kinder zerstören, indem sie gedanken­los-liebevoll-bequem Lutscher kaufen, werden die Konsumenten verdorben mit dem, was sie gierig und halbbewußt ab­sorbieren. Da die nachteilige Wirkung erst verzögert sichtbar wird, scheint kein Grund zu bestehen, sie tragisch zu neh­men. Wissen wir, zu welchen Konse­quenzen die ständige Darstellung von Gewalt einst führen wird? Die großen Presseimperien streben jetzt allesamt auf den Fernsehmarkt. Sie übertragen ihre wirtschaftlichen Erfahrungen, ihren rüden Stil und ihre verantwortungslosen Praktiken auf das viel größere Ver­breitungsfeld der Television. Vermut­lich entspricht die Rücksichtslosigkeit, die die Mächtigen mächtig gemacht hat, genau dem üblen Inhalt des Dargebote­nen. Deshalb kann man von den Produ­zenten auch kein Gespür für die Abwe­gigkeit erwarten. Sie sind halt so. Wenn es zu spät ist, die Wirkungen destrukti­ver Medienmacht zu neutralisieren, scheint es nur den Ausweg militärischer Lösungen zu geben.

Der demokratische Lernprozeß, der in allen, auch den sogenannten entwickel­ten Ländern, nötig ist, um Gewaltlösun­gen überflüssig zu machen, beansprucht sehr viel Zeit. Das Fähnlein der Auf­rechten, die sich um die Einübung akti­ver gewaltfreier Lösungen, von Media­tion, von Streitkultur bemühen, ist unter dem Shirokko des törichten Triumphge­schreies über den Zusammenbruch des Sowjetimperiums zusammengeschmol­zen. Das Bewußtsein der Menschen­rechte, der demokratischen Grundprin­zipien sollte weltweit mit Hilfe verant­wortungsvoll eingesetzter audiovisueller Medien vertieft werden. Dabei ist der törichte Glaube zu vermeiden, daß un­sere Welt die beste aller möglichen Welten ist und daß Formen demokrati­scher Mitbestimmung nur im Westen entwickelt wurden. Der ständige Dialog mit anderen Kulturen verhindert die Überschätzung des westlichen Weges. Auch dazu dient die multikulturelle Ge­sellschaft. Es sieht leider nicht so aus, als ob die Politiker sich mit Fragen be­schäftigen wollten, die zu ihren Lebzei­ten nicht mehr in ihre Verantwortung fallen, geschweige denn ihrer Karriere dienen. Es wäre eine friedensstiftende Zukunftsaufgabe, durch Agitation die­sen Prozess anzustoßen.

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Irmgard Geiger ist Psychoanalytikerin und lebt in München.