Die grundgesetz- und völkerrechtswidrige nukleare Teilhabe der BRD

von Wolfgang Sternstein

Nach dem Abzug der Atomraketen aus der Bundesrepublik in den Jahren 1990/91 und dem Ende des Kalten Krieges war das Thema Atomwaffen in der Medienöffentlichkeit erledigt. Das Interesse wandte sich anderen, nicht minder wichtigen Themen zu. So ist es nicht verwunderlich, dass die Feststellung, auf deutschem Boden lagerten immer noch mindestens 65 amerikanische Atombomben, ungläubiges Staunen hervorruft. Und doch ist es so.

In Ramstein liegen 55 Atombomben des Typs B 61 einsatzbereit, in Büchel sind es 10 Bomben mit der jeweils achtfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Die Bomben in Ramstein werden im Kriegsfall von amerikanischen, die in Büchel von deutschen Tornadopiloten ins Ziel geflogen, nachdem der amerikanische Präsident ihren Einsatz freigegeben hat. Es handelt sich dabei um einen Bestandteil der offiziell so genannten "nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik Deutschland", zu der auch die Mitarbeit in der "Nuklearen Planungsgruppe" der Nato gehört.

Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" sieht darin ein Überbleibsel des Kalten Krieges, von dem die deutsche Regierung und die Bundeswehr sich nicht trennen wollen: "... noch immer üben deutsche Piloten wirklichkeitsfremde Einsätze wie den Abwurf von Atombomben. Als säße der Gegner noch in Moskau, hält das Geschwader 33 im rheinland-pfälzischen Büchel dazu eigens Jagdbomber bereit. Wie eh und je liegen amerikanische Nuklearwaffen verbunkert unter der Erde. Im Kalten Krieg sah ein Atom-Szenario so aus: Auf dem Weg in die Sowjetunion werden die Tornado-Bomber über der Ostsee betankt, um ihre `Eindringtiefe` zu vergrößern. Dann rasen sie im Tiefflug weiter, um russische Städte nuklear zu verwüsten. Weil der Sprit nicht zur Heimkehr reicht, warten andere Tornados, so genannte Buddies (Kumpel) mit Treibstoff über der Ostsee. Falls das Tank-Rendezvous nicht klappt, springen die deutschen Crews über baltischen Sowjetrepubliken ab - hoffend, dass Spezialkräfte sie herausholen. So trainieren sie in Büchel noch heute. Auch in Zukunft, sagt Luftwaffeninspekteur Klaus-Peter Stieglitz, soll dieser `nukleare Teilhabe` genannte Auftrag für das Geschwader erhalten bleiben." (Der Spiegel 46/2004, S. 52)

Die nach wie vor gültige Nato-Doktrin der nuklearen Abschreckung hat nur einen Fehler: sie ist falsch. Jeder Erzieher und jeder Strafrechtler weiß, dass die Sanktionsdrohung, mit der von einem bestimmten Verhalten abgeschreckt werden soll, häufig aber niemals hundertprozentig wirkt. Früher oder später passiert genau das, wovon abgeschreckt werden soll. Dann ist der Erzieher, der Richter oder der Politiker gezwungen, die angedrohte Sanktion auszuführen, da er andernfalls seine Glaubwürdigkeit verliert. Er fängt sich somit in der Schlinge der Selbstbindung. Reformpädagogen, Strafrechtsreformer und Friedensforscher haben deshalb die Preisgabe des Abschreckungsprinzips gefordert, um sich aus der Schlinge der Selbstbindung zu befreien.

Die Folgen eines Versagens der Abschreckung im Bereich der Pädagogik und des Strafrechts sind schlimm genug. In der Politik aber sind die Folgen des Versagens der atomaren Abschreckung katastrophal. Sie können die Verwüstung ganzer Länder und Kontinente, ja die Verwüstung der ganzen Erde zur Folge haben. Das haben unzählige Menschen erkannt und deshalb nachdrücklich die Abkehr von der Politik der nuklearen Abschreckung gefordert. Ich nenne hier nur den Oberbefehlshaber der amerikanischen Atomstreitkräfte unter Präsident George Bush sen., General George Lee Butler, der in einer Rede vor kanadischen Friedensorganisationen sagte:

"Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das letztere hatte den größten Anteil daran." (FR 1.9.1999, S. 9) Und in einem Spiegel-Interview aus dem Jahre 1998 äußerte er: "Wir handelten wie ein Betrunkener beim russischen Roulett, der zehnmal die Pistole abdrückt und dann erklärt: Guck mal, es ist überhaupt nicht gefährlich. In Wahrheit war das Nuklear-Roulett überaus gefährlich und arrogant. Es ist ein Wunder, dass wir es geschafft haben, uns irgendwie durchzuwursteln. Nukleare Abschreckung ist ein Hasardspiel, das irgendwann verloren geht." (32/1998, S. 138 f)

Wenn das bereits für die Defensivstrategie der nuklearen Abschreckung gilt, um wieviel mehr für die Offensivstrategie der USA und der Nato im Kampf gegen den Terrorismus und gegen Staaten, die verdächtigt werden, nach Atomwaffen zu streben, eine Strategie, die ganz selbstverständlich den Ersteinsatz von Atomwaffen vorsieht.

In gebotener Kürze möchte ich nun die Rechtsnormen benennen, gegen die die Politik der nuklearen Abschreckung im Allgemeinen und die "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik" im Besonderen verstößt:

Die "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik" verstößt gegen die Menschenrechte, insonderheit gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das vom Bundesverfassungsgericht in einem seiner Urteile mit Recht als das "Grundrecht der Grundrechte" bezeichnet wurde, weil sämtliche Grundrechte von der Garantie dieses Grundrechts abhängen. Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass die Vernichtung eines Landes, eines Kontinents oder der Menschheit als Folge eines Atomkriegs dieses Grundrecht und damit alle anderen nicht nur in seinem Wesensgehalt (Art. 19 IV GG) antastet, sondern gänzlich vernichtet.

Die "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik" verstößt gegen die allgemeinen Regeln des humanitären Völkerrechts, die nach Art. 25 GG für jeden Bewohner des Bundesgebietes verbindlich sind und die dem einfachen Recht (auch dem Strafrecht) vorgehen. 100, II GG regelt verbindlich, was zu tun ist, falls in einem Rechtsstreite zweifelhaft ist, "ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt". In einem solchen Fall hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.

Die "nukleare Teilhabe" verstößt gegen Art. II des Nichtverbreitungsvertrags, welcher lautet: "Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemanden unmittelbar oder mittelbar anzunehmen ." Es besteht kein Zweifel, dass die auf dem Fliegerhorst Büchel praktizierte nukleare Teilhabe eine "mittelbare Verfügungsgewalt über Kernsprengkörper" darstellt und somit völkerrechtswidrig ist, da die Bundesrepublik zu den im Vertrag genannten "Nichtkernwaffenstaaten" gehört.

Sie verstößt aber auch gegen Art. VI des Nichtverbreitungsvertrags, der alle Vertragsparteien verpflichtet, "in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung ... unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle". Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in seinem Gutachten vom Juli 1996 diese Selbstverpflichtung der Vertragsparteien des Nichtverbreitungsvertrags aus dem Jahre 1968 mit einem einstimmigen Votum noch einmal dringlich angemahnt. Die Bundesrepublik ist ihrer Verpflichtung aus diesem Vertrag seit dreißig Jahren nicht nachgekommen. Sie ist somit, wie auch alle Atomwaffenstaaten, permanent vertragsbrüchig. Man fragt sich, was ist ein Vertrag wert, der nur die Schwachen bindet, nicht aber die Starken. Die Antwort lautet: Ein solcher Vertrag ist nichts wert, er ist ungültig. Die atomaren Habenichtse haben jedes Recht, ihn für ungültig zu erklären, da ihre Unterschrift durch den Artikel VI des Vertrages erschlichen wurde. Selbstverständlich plädiere ich nicht für die Annullierung des Vertrags, sondern für seine Erfüllung.

Die "nukleare Teilhabe" verstößt des Weiteren gegen Art. 3,I des 2+4-Vertrags, welcher lautet: "Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, dass auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort."

Die auf dem Fliegerhorst Büchel praktizierte "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik", die ja den Einsatz von Atombomben im Kriegsfall durch die Bundeswehr vorsieht, verstößt gegen Buchstabe D des IGH-Gutachtens, welcher lautet: "Ein Androhen des Einsatzes oder ein Einsetzen von Atomwaffen müsste mit den Anforderungen vereinbar sein, die sich aus dem für bewaffnete Konflikte geltenden Völkerrecht, insbesondere aus den Prinzipien und Regeln des sog. humanitären ... Völkerrechts und aus den Verpflichtungen aus abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen und anderen Übereinkünften ergeben, die speziell Atomwaffen betreffen." Auch dieses Richtervotum erfolgte einstimmig. Es ist offensichtlich, dass der Einsatz auch nur einer Atomwaffe aufgrund der nicht begrenzbaren Verseuchung von Wasser, Luft und Erde durch Radionuklide und der Gefahr eines Dammbruchs für den Einsatz weiterer Atomwaffen diese Bedingungen nicht erfüllen kann.

Das Ergebnis unserer Prüfung ist folglich eindeutig und klar: Die Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen im Allgemeinen und die "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik" im Besonderen sind verfassungs- und völkerrechtswidrig.

 

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Schwerpunkt
Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Er kam als Wissenschaftler nach Wyhl, schloss sich aber schon bald der Widerstandsbewegung gegen das Atomkraftwerk an. In seiner Autobiografie „Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit“ berichtet er ausführlich über den „Kampf um Wyhl“.