Die Helsinki BügerInnenversammlung als Einstieg in den europäischen runden Tisch

von Christine M. Merkel

Die Stichworte sind bekannt: Die gewaltfreie Umwälzung von 1989 in Polen, Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei haben Europa in eine Großbaustelle verwandelt, mit besonderer Hektik in der deutsch-deutschen Etage. Voraussetzung dafür war und ist der sowjetische Reformkurs und die Nicht-Anwendung der Breschnew-Doktrin. Wir sehen uns mit neuen Fragen konfrontiert: Wie ist eine europäische Einbindung des Machtfaktors Deutschland möglich, zu einem Zeitpunkt, wo Neutralität wenig Unterstätzung findet, der Warschauer Pakt erodiert und die NATO ihren Einfluß verstärken möchte? Führt die deutsche Vereinigung zur politischen Union der EG? Wie ist die Krise der UdSSR lösbar, die durch das berechtigte Einfordern von Selbstbestimmungsrechten endgültig offensichtlich wird? Nach der Abschaffung der bürokratischen Polizeisysteme zeigen sich nationalistische und rassistische Aggressionen mit teilweise unerwarteter Intensität. Bei den Wahlen der letzten Monate entschied sich die überwiegende Mehrheit der WählerInnen konservativ, so weit weg wie möglich von der "sozialistischen" Vergangenheit.

In dieser Situation sehen viele Friedensbewegungen im Rahmen der KZZE Strukturen eine Chance, die Militärbündnisse aufzulösen und eine demokratisch legitimierte gesamteuropäische Friedensordnung zu entwickeln (so z.B. die Lindener Erklärung vom März 1990).
Schon im Sommer 1988 kam von Mitgliedern der Charta '77 in der Tschechoslowakei die Idee zur Gründung einer "Helsinki BürgerInnenversammlung". Gemeint ist ein Form, das den unterschiedlichen Kräften der zivilen Gesellschaft die Möglichkeit zu einem kontinuierlichen Erfahrungs- und Meinungsaustausch geben und der Ausarbeitung gemeinsamer politischer Initiativen, Projekte und Strategien dienen soll. Im Kern geht es darum, ergänzend zum KSZE Prozeß der Regierung einen Helsinki-Prozeß "von unten" zu bilden. Auf dem jüngsten internationalen Vorbereitungstreffen aus fast allen KSZE Ländern als Gründungserklärung der "Prager Appell 1990" verabschiedet. Die erste Versammlung soll vom 19. - 21. Oktober 1990 in Prag stattfinden. Kerngedanke und Arbeitsgrundlage ist die wechselseitige Abhängigkeit von Frieden, Sicherheit und politischen und sozialen Menschenrechten, wie sie in den verschiedenen KSZE Abkommen unterstrichen wurden. Die westeuropäische Friedensbewegung der 80er Jahre war Streit um diese Verbindung geprägt, der jeweils bei der Frage der Bündnispartner entflammte. Heute stellt sich die Frage, was wir "von unten" tun können, damit Demokratie und demokratische Kooperation im zukünftigen Europa an Tragfläche gewinnt. Die Teilung Europas zu überwinden ist in erster Linie die Aufgabe der BürgerInnen und Bürger, die selbstorganisiert über die nationalen Grenzen hinweg aktiv sind und sich vernetzen, um einerseits mit den Regierungen zu verhandeln und Druck auf die politischen Institutionen auszuüben, und um andererseits eine Reihe von Problemen auch unabhängig von der staatlichen Ebene zu lösen. Oder, in den Worten von Jaroslav Sabata, einer der Initiatoren der Versammlung: "Wir müssen "unsere" Seite des europäischen runden Tisches vorbereiten und die Kräfte des Umbruches verbinden; angesichts der Bedeutung der deutschen Entwicklung für Europa wird es entscheidend sein, ob wir dabei europäisch denkenden Deutschen zusammenarbeiten können". Der Prager Appell setzt sich zum Ziel "die europäische Einheit in der Vielfalt: Eine umfassend demilitarisierte und sozial gerechte Gemeinschaft, deren ökonomische Entwicklung nicht auf Kosten der Umwelt geht; eine multi-kulturelle Gemeinschaft, offen gegenüber dem Süden, die allen in ihr lebenden BürgerInnen unabhängig von ihrer Herkunft volle Rechte zusichert; eine Gemeinschaft, die den Rechten des Individumms und den Prinzipien der nationalen Selbstbestimmung ebenso verpflichtet ist wie  den Rechten der Frauen, den sozialen und Gewerkschaftsrechten und den Rechten von Minderheiten; eine Gemeinschaft, die ethnische, religiöse, sexuelle und andere Verschiedenheiten respektiert". Wir wissen, daß die Arbeitervorraussetungen in den einzelnenLändern sehr unterschiedlich sein werden und vor allem auch die Verbindung zwischen sozialen Initiativen und der Politik unterschiedlich spannungsgeladen ist. Die inhaltliche und organisatorische Verantwortung liegt gleichberechtigt bei dem teschechoslowakischen Vorbereitungskomitee und einem internationalen Koordinationsgremium Zur Zeit bilden sich in den einzelnen KSZE-Länder Korrespondenzgruppen, die die fünf inhaltlichen Schwerpunkte der Versammlung vorbereiten: 

  1.  Probleme und Aufgaben der Demokratisierung
  2. Entmilitarisierung und Friedenspolitik
  3. Ökonomie und Ökologie
  4. Nationalismus und (kon-) föderative Strukturen und
  5. Menschenrechte, einschließlich der Rechte ethnischer, religiöser, sexueller und andere Minderheiten

 

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Initiativen
Christine M. Merkel arbeitet bei der PAX CHRISTI Niederlande in Den Haag. Sie ist zusammen mit Gerd Weisskirchen, MdB, für die internationale Vorbereitung des Diskussionsstranges "Entmilitarisierung und Friedenspoltik" in der BürgerInnenversammlung verantwortlich.